Studien von AOK und BKK

Wie die flexible Arbeitswelt krank macht

28.08.2012 von Andrea König
Ständige Erreichbarkeit setzt Beschäftigten zu und führt zu psychischen Leiden, zeigen Daten zweier Krankenkassen. SAP steuert aus AOK-Sicht erfolgreich gegen.

Arbeitnehmer in Deutschland schalten nicht mehr ab und können sich so kaum erholen. Ende Juli berichteten wir auf CIO.de über zwei Umfragen von dpa und Regus, nach denen die Hälfte der Arbeitnehmer auch im Urlaub Berufliches erledigt. Welche Auswirkungen permanente Erreichbarkeit auf die Gesundheit der Beschäftigten hat, zeigt der gerade veröffentlichte "Fehlzeiten-Report 2012" des Wissenschaftlichen Instituts der AOK. Der ergab: Durch die zeitliche und räumliche Flexibilisierung der Arbeitswelt geraten Arbeitnehmer an ihre psychischen Belastbarkeitsgrenzen.

Mehr als jeder dritte Erwerbstätige hat in den vergangenen vier Wochen häufig Anrufe oder E-Mails außerhalb der Arbeitszeit erhalten.
Foto: AOK

Statt des klassischen Büro-Arbeitstags sind bereits heute ständige Erreichbarkeit und permanente Mobilitätsbereitschaft für viele Berufstätige Realität. Knapp die Hälfte der Befragten gibt in einer AOK-Umfrage an, dass es an ihrem Arbeitsplatz erwartet wird, auch außerhalb der Arbeitszeiten erreichbar zu sein oder dass es Absprachen dazu gibt. Mehr als jeder dritte Erwerbstätige hat in den vergangenen vier Wochen häufig Anrufe oder E-Mails außerhalb der Arbeitszeit erhalten (33,8 Prozent) oder Überstunden geleistet (32,3 Prozent). Zwölf Prozent der Angestellten nehmen sich Arbeit mit nach Hause, knapp elf Prozent arbeiten an Sonn- und Feiertagen. Rund jeder Achte spricht von Problemen mit der Vereinbarkeit von Arbeit und Freizeit oder hat wegen beruflicher Verpflichtungen Pläne für private Aktivitäten geändert.

"All diese Belastungen im Arbeitsalltag führen dazu, dass diese Beschäftigten mehr an psychischen Beschwerden leiden als diejenigen, die diesen Belastungen nicht ausgesetzt sind", erläutert Helmut Schröder, Herausgeber des Fehlzeiten-Reports und stellvertretender Geschäftsführer des wissenschaftlichen Instituts der AOK. Mehr als ein Fünftel der Befragten berichten von Erschöpfung oder dem Problem in der Freizeit nicht abschalten zu können (20,8 Prozent bzw. 20,1 Prozent). 16 Prozent der Umfrageteilnehmer fühlen sich ausgebrannt. 15,3 Prozent der Angestellten klagen über Schlafstörungen, 13,5 Prozent über Kopfschmerzen, 11,3 Prozent über Niedergeschlagenheit. Wer Probleme damit hat, seine Arbeitszeit mit seiner Freizeit zu vereinbaren, klagt im Schnitt über doppelt so viele Beschwerden wie andere. Auch wer häufig private Aktivitäten aufgrund beruflicher Belange verschiebt, an Sonn- und Feiertagen arbeitet oder häufig Überstunden leistet, berichtet häufiger von psychischen Beschwerden.

Vier von zehn Beschäftigten zählen laut AOK-Report zu den mobilen Angestellten. Dazu gehören Wochenendpendler und Personen, die täglich mindestens eine Stunde zur Arbeit fahren oder ihren Wohnort aufgrund beruflicher Anforderungen gewechselt haben. Die Befragung belegt, dass bei einer Belastung durch übermäßiges Pendeln psychische Beschwerden wie Erschöpfung oder Niedergeschlagenheit zunehmen. Wer seinen Angestellten flexibles Arbeiten oder Home Office-Tage ermöglicht und so die Pendelzeiten reduziert, kann als Arbeitgeber gegensteuern.

Krankenstand leicht gesunken

Parallel zur zunehmenden Flexibilisierung der Arbeitswelt nimmt die Zahl der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen bei den Beschäftigten weiter zu. Im Vergleich zu 2010 ist der Anteil der Arbeitsunfähigkeitstage im vergangenen Jahr um 0,3 Prozentpunkte angestiegen. Was auf den ersten Blick nach wenig klingt, hat sich über die vergangenen 18 Jahre stark erhöht: Seit 1994 ist die Zahl der psychischen Erkrankungen um 120 Prozent angestiegen. Wer 2011 aufgrund psychischer Erkrankungen krankgeschrieben war, fehlte mit im Schnitt 22,5 Tagen je Fall mehr als doppelt so lange wie bei anderen Erkrankungen mit durchschnittlich elf Tagen.

Insgesamt ist der von der AOK berechnete Krankenstand im Vergleich zum Vorjahr leicht gesunken und lag 2011 bei 4,7 Prozent. Eine Arbeitsunfähigkeit dauerte im vergangenen Jahr durchschnittlich elf Tage. Dabei hat sich der Krankenstand auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau eingependelt. Die meisten der 140 Millionen Krankheitstage entfielen 2011 auf die Gruppe der Muskel- und Skeletterkrankungen (23,1 Prozent). Dann folgen Atemwegserkrankungen (12,4 Prozent), akute Verletzungen (12,3 Prozent) und psychische Erkrankungen (9,6 Prozent). Doch nicht jede Krankheit führt zu Fehltagen - 59 Prozent der Befragten gaben an, dass sie im vergangenen Jahr trotz einer Krankheit zur Arbeit gegangen sind.

Zum Vergleich: In der Aufstellung der BKK liegen psychische Erkrankungen erstmals sogar an dritter Stelle. Muskel- und Skeletterkrankungen (vor allem Rückenleiden) verursachen bei den beschäftigten Pflichtmitgliedern mit 26,3 Prozent die meisten Krankentage, an zweiter Stelle folgen Atemwegserkrankungen (14,4 Prozent). Psychische Erkrankungen folgen mit 13,2 Prozent aller Krankentage.

Man sollte den Wandel der Arbeitswelt aktiv zum Vorteil von Beschäftigen und Unternehmen gestalten. Dazu gehöre auch, dass der Flexibilität durch verbindliche Vereinbarungen zu Arbeitszeit und -ort klare Schranken gesetzt werden, so Uwe Deh, Geschäftsführender Vorstand des AOK-Bundesverbandes. Den richtigen Umgang mit dem technischen Fortschritt und der Flexibilisierung müsste man noch lernen und dabei neue Maßnahmen zum Gesundheitsschutz vereinbaren.

Vorbild SAP

Als vorbildliches Arbeitgeberbeispiel nennt die AOK in der Auswertung ihres Fehlzeitenreports SAP. Zum Gesundheitsmanagement des IT-Unternehmens zählen neben Vertrauensarbeitszeit, flexiblen Arbeitszeitmodellen, Sabbaticals und Zeitkonten auch freiwillige Online-Gesundheitschecks, Coaching sowie vielfältige Fitness-, Wellness- und Gesundheitsangebote. Die Zahlen sprechen für sich: Mit einer Fehlzeitenquote von 2,4 Prozent lag SAP 2011 weit unter dem Durchschnitt von 4,7 Prozent.

Der Fehlzeiten-Report wird vom Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO), der Universität Bielefeld und der Beuth Hochschule für Technik Berlin herausgegeben. Der Report informiert seit 1999 jährlich umfassend über die Krankenstandsentwicklung in der deutschen Wirtschaft. Grundlage der Statistiken und Analysen sind die Arbeitsunfähigkeitsmeldungen von 10,8 Millionen erwerbstätigen AOK-Mitgliedern.