Die Zeiten des klassischen Steinkohle-Bergbaus sind in Essen längst Geschichte. Nach der Einstellung der deutschen Steinkohleförderung 2018 wurde aus der dort ansässige Ruhrkohle AG die RAG Aktiengesellschaft. Als sogenannte Nachbergbau-Gesellschaft kümmert sie sich um die Folgen des Bergbaus. Sie übernimmt dabei einerseits zeitlich begrenzte Maßnahmen wie über- und untertätige Rückzugsarbeiten, aber auch sogenannte Ewigkeitsaufgaben, deren Ende also nicht absehbar ist. Dazu gehört beispielsweise das Überwachen und Reinigen des Grundwassers im Bereich ehemaliger Kokereistandorte.
Diese Neuaufstellung hat weitreichende Folgen für die Organisation und die IT des Unternehmens. "Nach dem Ende des Steinkohle-Bergbaus war es notwendig, unsere Prozesse grundlegend zu überarbeiten und zu aktualisieren", berichtet Michael Kalthoff, Vorstand der RAG. "Sowohl die Organisation als auch die Abläufe wurden den neuen Umständen folgend angepasst." Vor diesem Hintergrund entstand das Projekt "RAG SAP 2022+". Der Konzern wollte damit seine Prozess- und Systemlandschaft grundlegend erneuern. Neben der Prozessmodernisierung steht dabei eine Cloud-basierte Systemlandschaft im Mittelpunkt, mit S/4HANA Cloud als Plattform.
Besonders anspruchsvoll war das Transformationsprojekt auch deshalb, weil es die Ablösung des Kernsystems SAP ERP R/3 bedeutete, das mehr als 25 Jahre lang in Betrieb war. Die Zukunft heißt auch in Essen S/4HANA. Das System soll die nächsten 25 Jahre als Basis für alle Kerngeschäftsprozesse dienen.
Die Einführung von S/4HANA Cloud ist ein millionenschweres Projekt, das im März 2021 begann und im Dezember 2023 abgeschlossen sein soll. Verantwortlich dafür zeichnet der langjährige CIO Jürgen Skirde, der die CIO-Rolle im Zuge seines bevorstehenden Ruhestands inzwischen an Patrick Schierbaum übergeben hat. Die SAP-Transformation ist für Skirde die letzte Herausforderung in seiner langen Karriere. "Wir hatten es mit einer 'Mammut-Aufgabe' quer durch das ganze Unternehmen zu tun", berichtet er. "Knapp einhundert Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aller Bereiche waren hier beteiligt."
Veränderte Prozesse in der S/4HANA Cloud
Zu den wichtigsten Projektzielen zählt er die Abbildung einer veränderten Prozesslandschaft in der S/4HANA Cloud. Damit verbunden ist unter anderem das Redesign von Prozessen für Materialwirtschaft und Instandhaltung, die Einführung verursachergerechter Kontierungen und die Integration von Prozessen der fusionierten Tochtergesellschaften. Notwendige Erweiterungen des SAP-System soll das Projekt-Team generell standardkonform implementieren, um flexibel zu bleiben und einen kostengünstigen Betrieb zu gewährleisten.
Zur neuen IT-Landschaft der RAG gehört eine ganze Reihe von SAP-Produkten, darunter S/4HANA Cloud, SAP Solution Manager, SAP Analytics Cloud, SAP Ariba Procurement und SAP SuccessFactors HXM Suite. Hinzu kommen Anwendungen für spezifische Aufgaben wie Steueranmeldungen, Dokumentenmanagement und das Lieferantenportal. Als Einführungsmethode wählte Skirde SAP Activate und das Scaled Agile Framework (SAFe). Der agile Ansatz umfasste zwei Releases, acht Wellen sowie Sprints von jeweils zwei bis drei Wochen. Als Berater und Implementierungspartner holte die RAG den IT-Dienstleister Eviden ins Boot, der zur Atos-Gruppe gehört.
S/4HANA Best Practices nur begrenzt nutzbar
Die von SAP bereitgestellten S/4HANA Best Practices waren für das Projektteam anfänglich ein brauchbarer Ansatz. Wegen der Besonderheiten etwa im Bereich Logistik waren sie indes nur begrenzt nutzbar. Auch der Einsatz agiler Methoden gehörte zu den Herausforderungen in dem Großprojekt. Diese seien zwar gut angenommen worden, berichten die Verantwortlichen. Schulung, Coaching und der notwendige Mentalitätswandel hätten aber die Mitarbeitenden genauso wie das Topmanagement gefordert.
Doch die Ergebnisse der Transformation können sich sehen lassen: Die Prozessplattform der RAG wurde grundlegend modernisiert. Dabei überarbeitete das Team die Anwendungs-, Daten- und Integrationsarchitekturen. Wichtige Stammdatenbestände wie Geschäftspartner, Materialien oder Standorte wurden bereinigt, harmonisiert und aktualisiert. Auch der Einsatz der agilen Methodik in größerem Umfang hat sich bewährt. Sie soll im Unternehmen weiter genutzt und ausgebaut werden.
Messbare Ergebnisse der S/4HANA-Migration
Messbare Resultate brachte das Projekt "RAG SAP 2022+" vor allem in den Bereichen Standardisierung und Konsolidierung. So ermöglichte der Umstieg auf die HANA-Datenbank eine um 90 Prozent reduzierte initiale Datenbankgröße. Das Wachstum der Datenbank im laufenden Betrieb sank im Vergleich zum alten Setup um die Hälfte.
Mehr als 90 Prozent der früher genutzten Programme ließen sich durch S/4HANA-Standardfunktionen ersetzen, berichten die Projektverantwortlichen. Derzeit würden im Konzern nur noch 200 Programme aktiv genutzt. Insbesondere die berüchtigten Modifikationen der SAP-Programme konnten um 98 Prozent reduziert werden. In naher Zukunft sollen sie komplett entfallen. Last, but not least kommt auch das neue User Interface auf Basis von SAP Fiori bei den Fachanwendern gut an. Zum Go-Live waren rund 50 Prozent aller Frontend-Interaktionen auf Fiori-Basis implementiert.
"Mit der Transformation nach SAP S/4HANA wurde ein großer Schritt in Richtung Standardisierung geleistet", bilanziert Skirde. Modifikationen seien kaum noch nötig. "Unser Ziel bleibt es, das System im Rahmen eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses weiterzuentwickeln und dabei konsequent die SAP-Innovationen und Best Practices zu nutzen."