Experten wie Bill Gates sprachen vor wenigen Jahren noch davon, dass vor allem physische Berufe, beispielsweise in Logistikzentren, in der Produktion oder im Fernverkehr durch die Technologie wegfallen würden. Nun zeichnet sich indes ein ganz neues Bild ab. ChatGPT macht derzeit für alle sichtbar, dass Künstliche Intelligenz (KI) für Wissensarbeit geeignet ist: Aufsätze zu komplexen Themen, Sonette, Code oder auch Bilder liefert KI binnen Sekunden.
In jüngster Zeit hat KI Aufgaben in Kunst, Rechtswesen und Medizin übernommen. Im September 2022 erhielt die Weltaufführung der Oper "Chasing Waterfalls" besondere Aufmerksamkeit. Es ist das erste Werk, in dem eine KI zum Teil Komposition, Libretto und Gesang kreiert hat. In der Medizin unterstützt KI seit einigen Jahren bei der Diagnostik, sie berechnet Wahrscheinlichkeiten und hilft, bessere Entscheidungen zu treffen. Die Technologie hat in vielen Bereichen Einzug gehalten und verändert dort das Arbeiten.
Beispiele aus dem kaufmännischen Bereich
In einer gemeinsamen Studie haben die Macher von ChatGPT, OpenAI, und die University of Pennsylvania verschiedene Berufe identifiziert, in denen KI zumindest einen Teil der bisherigen Aufgaben übernehmen kann. Dazu zählen neben dem Journalismus und dem Dolmetschen auch die Buchhaltung. Im kaufmännischen Bereich sind bereits viele Aufgaben KI-gestützt, so zum Beispiel die sogenannte Robotic Process Automation (RPA). Mit ihnen können zum Beispiel Rechnungen automatisch eingelesen und bearbeitet werden.
Einige Lösungen für die Buchhaltung gehen noch einen Schritt weiter: Hier kann KI auch Erkennungsfehler, die in Ausnahmefällen vorkommen, kennzeichnen und die Nutzer und Nutzerinnen auffordern, diesen bestimmten Teil der Rechnung zu überprüfen. Indem die KI gezielt auf diese Unstimmigkeit hinweist, muss der Mensch nicht noch mal die gesamte Rechnung kontrollieren. Bei mehreren Tausend Rechnungen im Jahr bedeutet das einen enormen Zeitgewinn und damit einhergehend eine Entlastung der Mitarbeitenden.
Routine-Arbeiten fallen weg
Diese repetitiven und relativ unspektakulären Aufgaben finden nun in der Kognitiven Automatisierung (Cognitive Automation) eine erste Steigerungsform. Agierten die Algorithmen zunächst regelbasiert, geriet die intelligente Rechnungswesen-Software schnell an ihre Grenzen, sobald die formalisierte Struktur verlassen wurde. Cognitive Automation mischt die Karten neu. Die Software lernt, komplexe Aufgaben zu übernehmen und ist dabei nicht mehr auf feste Regeln angewiesen. Sie lernt, sich dynamisch an neue Bedingungen innerhalb einer bekannten Aufgabe anzupassen.
Ein Beispiel: Im Rechnungseingang befindet sich eine Vielzahl an Eingangsrechnungen. Oftmals wiederholen sich Kreditoren oder sie stellen mehrere Rechnungen. Bei der kognitiven Automation erkennt das System Eigennamen, Steuernummern usw. in den Dokumenten. Einmal erkannt, werden die Rechnungen einem Kreditor zugeordnet und geclustert. Effektiv entfallen aufwendige Routinen, die sonst Mitarbeitende in der Software manuell erledigt hätten. Diese können nun ihre Zeit in andere Aufgaben investieren.
Wichtige maschinelle Unterstützung
Einer Studie von Goldman Sachs zufolge sind zwei Drittel der derzeitigen Arbeitsplätze künftig bis zu einem gewissen Grad der KI-Automatisierung ausgesetzt. Ebenso geht die Studie davon aus, dass KI bis zu einem Viertel der derzeitigen Arbeit ersetzen kann. Fallen also die Mitarbeitenden durch KI weg? Mitnichten. Ein wesentlicher Entscheidungsfaktor für den Einsatz einer KI-Lösung ist die Kompensation fehlender Fachkräfte.
Die rund 84.000 unbesetzten Stellen in den Bereichen Unternehmensorganisation, Buchhaltung, Recht und Verwaltung allein im Jahr 2022 verdeutlichen die Notwendigkeit von maschineller Unterstützung. KI entlastet also die vorhandenen Mitarbeitenden und ersetzt sie nicht. Zu diesem Schluss kommt auch die Studie von Goldman Sachs und führt als Beleg an, dass bei vergangenen Automatisierungswellen Arbeitsplätze nicht einfach vernichtet wurden, sondern parallel neue Jobprofile geschaffen wurden.
(Wie) arbeiten wir in 5 Jahren (noch)?
Doch wie sieht es in fünf, zehn oder 20 Jahren aus? Wieviel hat diese Technologie bis dahin gelernt und welche Arbeiten werden wir an sie abgeben? Typischerweise stellen wir uns die (künftige) Arbeit mit KI so vor, dass die Technologie Vorschläge macht, Dinge kategorisiert oder analysiert, während der Mensch Supervisor ihrer Ergebnisse ist. Und tatsächlich ist diese Arbeitsweise heute noch weit verbreitet, da man die Ergebnisse, welche die KI liefert, bislang noch nicht unreflektiert übernehmen kann.
Beispielsweise sind die von ChatGPT generierten wissenschaftlichen Essays aktuell noch berüchtigt für unzuverlässige und erfundene Quellen. Zugleich offenbart sich an dieser Stelle eine grundlegende Fehleinschätzung: Wir gehen davon aus, dass der Mensch generell den besseren Überblick über Daten oder Prozesse hat, dass menschliche Ergebnisse hochwertiger sind als die der KI. Andererseits erwarten wir von der Maschine, dass sie fehlerfrei läuft.
Die kritische Analyse muss bleiben
Wir messen also mit zweierlei Maß. Als Entwickler und Anbieter von KI-Anwendungen prüfen wir unsere eigenen KI-Modelle regelmäßig und stellen fest, dass sich KI und menschliches Ergebnis oft auf demselben Level befinden. Ganz gleich, ob Mensch oder Maschine: Die kritische Auseinandersetzung mit Analysen und ihren Ergebnissen wird immer sinnvoll sein.
Vor diesem Hintergrund brauchen wir in Zukunft KI-Kompetenz. Wir müssen verstehen, wie KI lernt, um die Ergebnisqualität zu verbessern. Um diese Kompetenzlücke mittelfristig zu schließen und die Potenziale der Technologie zu heben, muss dieser Aspekt bereits heute wesentlich stärker Bestandteil der Aus- und Weiterbildung von Fachkräften sein.
Künstliche oder menschliche Intelligenz: Welche ist überlegen?
In den kommenden fünf bis zehn Jahren wird das Prinzip Human-in-the-Loop (HITL) an Bedeutung gewinnen. Anders als bei den klassischen maschinellen Lernverfahren findet beim HITL-Ansatz eine Interaktion zwischen Mensch und Maschine statt. Das Zukunftsweisende an diesem Forschungsansatz ist, dass er die Stärken von Menschen und KI kombiniert, also die Interaktionen zwischen Mensch und Maschine verbessert.
Im einfachsten Fall gibt der Mensch dem System Feedback, wenn die Maschine sich bezüglich der Vorhersage unsicher ist. Das Feedback wird anschließend genutzt, um eine eindeutige Entscheidung zu fällen. Beide Seiten bilden eine kollektive Intelligenz. Forschungsergebnisse aus den unterschiedlichen Disziplinen wie der Medizin oder der IT zeigen, dass Teams aus Mensch und Maschine deutlich erfolgreicher sind als Mensch-Mensch- oder Maschine-Maschine-Teams. HITL eignet sich vor allem für Vorhersagen von Marktbewegungen. Auch wenn es darum geht, die Einflüsse von wirtschaftlichen Kenngrößen auf andere Kenngrößen abzuschätzen und vorherzusagen, wäre ein solcher Einsatz denkbar.
Unser große Plus: die emotionale Intelligenz
An HITL wird spürbar, wie sich Jobprofile durch KI in den kommenden Jahren verändern werden. So wird es in Zukunft keine Jobprofile wie den Datentypisten mehr geben, dessen Aufgabe es ist, Rechnungen etc. abzutippen. Stattdessen wird das Arbeiten immer abstrakter werden. Auch in Zukunft braucht es Schlüsselkompetenzen wie analytisches Denken und Lösungsorientiertheit. Durch die Zusammenarbeit mit KI sind jedoch zusätzliche Eigenschaften gefragt. In den Fokus rückt unter anderem das Wissen über Daten und Analysemethoden und strategisches Denken.
Die Kompetenz, digitale Daten zu analysieren und auf Basis der Ergebnisse Schlussfolgerungen und Entscheidungen zu treffen, wird entsprechend wichtiger. Dank emotionaler Intelligenz ist der Mensch in der Lage, beispielsweise Kundenwünsche oder besondere Ereignisse zu antizipieren und flexibel auf sie einzugehen. Die Begabung, empathisch mit Kunden, Geschäftspartnern und Teammitgliedern zu kommunizieren, bleibt auch künftig dem Menschen vorbehalten und wird vor dem Hintergrund der Automatisierung umso relevanter.
Für den kaufmännischen Bereich bietet diese Entwicklung vor allem die Chance, noch stärker als heute beratend an der Seite des Managements zu stehen und die Grundlage für strategische Entscheidungen zu legen. Unternehmen müssen ihre Mitarbeitenden bei dieser Entwicklung unterstützen und sie durch die Vermittlung eines offenen Mindsets dazu befähigen, sich in einer Arbeitswelt der Veränderungen zurechtzufinden.
KI als Sparringpartner
Der Mensch wird auch in zehn bis zwanzig Jahren nicht aus der Wissensarbeit verschwinden. Die Beispiele aus dem kaufmännischen Bereich zeigen, dass es einzelne Aufgaben sind, die von der Technologie übernommen werden. Anstelle von eintönigen Tätigkeiten treten anspruchsvolle Aufgaben, für die analytische, technische und kommunikative Fähigkeiten wichtiger denn je sind. Für viele Jobprofile kann diese Entwicklung bedeuten, dass sie strategischer arbeiten und damit näher an Managementfunktionen rücken müssen. Die KI wird zunehmend zum Sparringspartner.
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