Wer den Buchtitel "Digitalisieren mit Hirn" liest, dem könnte spontan der Gedanke kommen, die Autoren seien der Meinung, bisher sei Digitalisierung überall ohne Hirn, also hirnlos, umgesetzt worden.
Ob diese Assoziation nun beabsichtigt war oder nicht: Tatsächlich geht es bei dem Hinweis aufs Hirn darum, dass sich Sebastian Purps-Pardigol und Henrik Kehren bei ihrem Blick auf Digitalisierung auch mit aktuellen Erkenntnissen der Hirnforschung beschäftigt haben und mit der Frage, wie diese Unternehmen dabei helfen können, ihre Leute erfolgreich mitzunehmen auf diese Reise ohne Widerkehr.
Um die Mitarbeiter geht es ja immer, wenn von Digitalisierung die Rede ist, weil dieser Prozess nirgendwo gelingen kann, wenn sie nicht mitziehen. Es sei denn natürlich, das Gelingen besteht darin, dass diese Mitarbeiter am Ende nicht mehr da sind, weil die Digitalisierung zur Kostensenkung und zum Personalabbau diente.
In den von Purps-Pardigol und Kehren in ihrem Buch beschriebenen Fällen geht es darum natürlich nicht, sondern um Machart und Muster von Erfolgsgeschichten.
Die Chefs blicken selbst nicht durch
Im Mittelpunkt steht dabei meistens die - völlig zurecht getroffene - Annahme, dass das Führungspersonal in aller Regel auch nicht so genau weiß, wie man Digitalisierung am besten angeht, welche Instrumente dafür vonnöten sind.
Beispiel Phoenix Contact
Wie soll man auch Potenzial von etwas einschätzen und nutzen, dass es noch nicht gibt? Antwort: Indem man die Mitarbeiter fragt. Und dann mit ihnen zusammen Dinge ausprobiert. So geschehen bei Phoenix Contact, einem der Beispiele aus dem Buch. Das Familienunternehmen aus Blomberg in Nordrhein-Westfalen bietet Produkte und Lösungen rund um die industrielle Verbindungstechnik, Automation, Schnittstellensysteme und Überspannungsschutz an.
Die Geschäftsführung ging hier das Wagnis ein, digitale Geschäftsmodelle durch ihre Mitarbeiter entwickeln zu lassen. Henrik Kehren: "Im Unternehmen wurde das Projekt Zukunftswerkstatt gegründet und die Mitarbeiter von Beginn an eingebunden. Die Anregung dazu kam vom Betriebsrat."
Die Macher dieser Werkstatt schufen das 3 D-Printing-StartUp Protiq, das nach nur einem Jahr Prototypen und Bauteile für ein E-Auto-Schnelladegerät schneller, präziser und preiswerter herstellen konnte als mit den bisherigen Verfahren.
Freiräume und Entwicklungsmöglichkeiten
Natürlich spielte die richtige Technologie dabei eine Rolle, aber noch wichtiger sei der Umgang mit den Menschen gewesen, glaubt Henrik Kehren: "Es geht nicht um neue Fertigkeiten, sondern darum, den Mitarbeitern Freiräume und Entwicklungsmöglichkeiten zu bieten."
Dieser Aspekt spielt auch bei den anderen Fällen aus dem Buch eine zentrale Rolle. Um sie auszuwählen, hatten Purps-Pardigol und Kehren in mehr als 150 Interviews über 30 Firmen analysiert, dann12 davon ausgewählt, die aus ihrer Sicht die eigene digitale Transformation vorbildhaft betreiben.
Zu den prominentesten von ihnen zählen die Otto Group, Viessmann und die Tolino-Allianz, der Zusammenschluss der Buchhändler Thalia, Weltbild, Hugendubel, Mayersche Buchhandlung und Osiander sowie Libri für den eBook-Reader „Tolino“. Auch mit dabei: Ein mittelständisches produzierendes Unternehmen, das mit einer neuen digitalen Dienstleistung die gesamte Nahrungsmittelindustrie revolutioniert. Oder ein frisch gegründetes Produktteam, das bisherige Prozesse über Bord wirft, selbstständig agile Zusammenarbeit lernt und dadurch dreistellige Millionenumsätze erwirtschaftet.
Nur wenn Mitarbeiter den Wandel verstehen, machen sie auch mit
Natürlich stellt sich die Frage, wie es manche Firmen besser als andere schaffen, dass die eigenen Mitarbeiter die digitale Transformation begeistert mittragen und damit ihren Erfolg weiter beschleunigen, anstatt ihn zu bremsen?
Antworten darauf stehen in dem Buch "Digitalisieren mit Hirn". Eine davon: Je nachhaltiger Digitalisierung auf Organisationen einwirkt, desto mehr Aufmerksamkeit braucht das Thema Mensch. Soll der Wandel im Unternehmen gelingen, müssen die Mitarbeiter vor allem dessen Sinnhaftigkeit verstehen, wichtig sei auch das rechte Maß an Veränderung, so die Autoren.
Mitarbeiter sollten nicht in in einen Angriffs-, Flucht oder Starremodus verfallen
Womit wir zurück sind bei der Eingangsfrage: Was hat das Ganze mit Hirnforschung zu tun? Henrik Kehren: "Chefs sollten wissen, was in den Gehirnen ihrer Mitarbeiter passiert, wenn diese den Veränderungsprozess, den sie erleben, nicht verstehen. Bei manchen könnte die Situation zu einer neuronalen Übererregung führen mit dem Resultat, dass Mitarbeiter in einen Angriffs-, Flucht oder Starremodus verfallen, alles sehr ungünstige Zustände für einen Transformationsprozess."
Verbundenheit ist ein Grundbedürfnis des Menschen
Wichtig, so Kehren: "Je mehr das Maß an Digitalisierung in einer Organisation steigt, desto mehr braucht ein weiterer Aspekt - neben vielen anderen - genügend Aufmerksamkeit: die Verbundenheit mit dem Unternehmen. Darüber machten sich ganz viele Chefs zu wenig Gedanken, weil bei solchen Prozessen in aller Regel vor allem technologische Prozesse im Vordergrund stünden.
"Wir raten dringend dazu, die Menschen nicht erst im zweiten Schritt mitzunehmen, sondern die Vermittlung des Kulturwandels ganz zu Beginn mit anzugehen", so Henrik Kehren.
Das helfe auch den Vorständen, weil ganz viele von ihnen ohnehin damit überfordert seien, allein unter sich die richtigen Antworten auf all die Herausforderungen zu finden, vor denen Unternehmen heute stehen. Und sie wüssten dies auch.