Es gibt genau zwei Wege, mit einem neu erworbenen Unternehmen umzugehen. Entweder wirtschaftet es weiter vor sich hin, tritt die Erträge an den neuen Mehrheitseigner ab und schwirrt als "Satellit" um das Headquarter herum, oder es wird vollständig integriert. Letzteren wählte der Pharma- und Chemiekonzern Merck mit Serono. Das war weitaus aufwendiger, aber es passt gut zur neuen Geschäftsstrategie des Darmstädter Familienkonzerns.
Denn die zentrale Vision der Geschäftsleitung unter dem Vorsitz von Karl-Ludwig Kley für das Pharmageschäft heißt Globalisierung. Und da kam die Strategie des Genfer Biotechnologieunternehmens Serono gerade recht: zentral aufgestellt und zudem mit ausgewählten wenigen Produkten auf dem weltweiten Markt unterwegs. Da will auch Merck hin.
300 neue Berichtslinien in 2 Monaten
Anfang 2007 standen die Verträge zur Übernahme, und kurz darauf kam Kai Beckmann aus Asien zurück, wo der Informatiker und promovierte Wirtschaftswissenschaftler in den vergangenen drei Jahren das Merck’sche Business in Malaysia und Singapur geleitet hatte. In Darmstadt übernahm er ab Februar 2007 die globale Verantwortung für den IT-Bereich bei Merck, genannt Corporate Information Services. Erste große Aufgabe: die Integration von Serono unter dem Dach einer globalen Strategie.
Merck war - anders als Serono - dezentral und föderalistisch aufgestellt, betrieb elf Rechenzentren in 52
Ländern. Diese Struktur war nun mit der neuen Strategie "Mehr globale Produkte, global aufstellen" nicht mehr so gut vereinbar. Veränderung stand bevor.
Für die IT-Entscheider bei Merck war klar, dass zunächst eine IT-Governance festzulegen ist, bevor eine Integrations- und später dann die eigentliche neue IT-Strategie bestimmt wird. Und klar war vor allem eines: "Die Organisation sollte sich nicht zu lange mit sich selbst beschäftigen", erläutert Beckmann, der schon am 1. April 2007 rund 300 neue Berichtslinien in der neuen IT-Organisation installiert hatte. "Das war ein riesiger administrativen Aufwand", sagt Beckmann. Die Veränderung vergleicht er mit einem Pflaster, das man von der Haut abzieht: "Je langsamer, desto schmerzhafter".
Mit den Zielen, die IT-Service-Qualität zu verbessern und die Liefergeschwindigkeit zu erhöhen, sezierten die IT-Manager 25 Kernprozesse für die IT-Governance und das Controlling. "Eine Sisyphos-Arbeit war das", konstatiert Beckmann, der für die getane Arbeit "Verbindlichkeit" schaffen wollte.
"Im Geschäft gibt es klare Indikatoren für den Erfolg: Wachsen Umsatz und Profit, ist alles gut. Der IT als Querschnittsfunktion fehlt dieser Maßstab." Deshalb lässt sich der IT-Manager sämtliche neuen weltweit aufgesetzten Prozesse auch gleich zertifizieren, nach ISO 9001 für das Qualitätsmanagement, nach ISO 27 001 für das Security-Management und nicht zuletzt nach ISO 20 000 für das Service-Management, ausgerichtet an Prozessbeschreibungen, die sich mit ITIL machen lassen.
70 globale Business Services etabliert
Besonders für das Service-Management ist die globale IT-Governance offenbar wichtig: "Da waren wir nicht
optimal aufgestellt, besonders in Hinblick auf die weltweiten Prozesse", konstatiert Beckmann. Pragmatismus war es, das den Umgang mit ITIL im Unternehmen kennzeichnete. "Die neuen Prozesse sind nicht von Puristen gemacht", kommentiert Beckmann, der bemerkt, dass kaum jemand ein ITIL-Buch aus dem Schrank genommen hat, um Punkt für Punkt die entsprechenden Vorgaben abzuarbeiten. Heraus kam ein Bündel an globalen Prozessen. Vom Strategy- über das Problem- und Change-Management wurden die Prozesse definiert. Mehr als 70 globale Business Services sind heute schon im Einsatz - die Prozesse werden voraussichtlich gegen Ende 2008 zertifiziert sein.
Als zweiter Schritt nach der IT-Governance entstand eine Integrationsstrategie. Schlagworte wie "harmonisierte Prozesse, effiziente IT-Infrastruktur und Managed Services" machten die Runde. Jede von der Integration betroffene Landesgesellschaft hat bis Ende 2008 ein einheitliches ERP-System bekommen. Während Merck traditionell vorwiegend SAP einsetzt, brachte Serono vorwiegend Oracle-Systeme mit ein. Die IT-Infrastruktur wurde vereinheitlicht, wo es ging, das Firmennetzwerk etwa und der Mail-Verkehr.
Auf etwa 20 Prozent beziffert das Merck-IT-Management die Einsparungen, die die Zusammenlegung der beiden IT-Organisationen bewirkten. "Wichtig war für uns, dass die IT in die Erarbeitung der Geschäftsstrategie einbezogen wurde", sagt Beckmann, der zudem im Vorstand eine wachsende Bereitschaft ausmachte, in IT zu investieren. Und zwar nicht nur deshalb, weil er als erster CIO bei den Darmstädtern direkt an Firmenchef Kley berichtet.
Im dritten Schritt peilt Merck weitere Transformationsprozesse an. Beckmann nennt sie "geschäftswert- und "effizienzgetrieben". Die Voraussetzungen dafür sind gerade geschaffen. Die Vision: Corporate Information Services als gleichwertiger Partner des Geschäfts.
CIO berichtet erstmals an CEO
So schön die strukturellen Veränderungen dem Management bei Merck passen, letztlich sind es die Mitarbeiter, die den Weg mitgehen müssen. "Einige Entscheidungen mussten top-down getroffen werden", sagt Beckmann. Besonders was die IT-Governance und die Zentralisierung der Prozesse angeht. Doch ihm ist klar, dass die Mitarbeiter nicht von heute auf morgen vor vollendete Tatsachen gestellt werden und - zumindest - die Entscheidung nachvollziehen wollen. Regelmäßig traf sich Beckmann im sogenannten CIO Roundtable mit dem mittleren Management, um mit ihm die Herausforderungen zu besprechen, die anstanden. Gerade Anfang 2007 kam es zu sehr vielen Umbesetzungen, und nicht jeder war über die Veränderungen glücklich: "Einige Mitarbeiter brauchten Zeit, um diese ganzen Veränderungen auch als Chance sehen zu können", so CIO Beckmann.
Inzwischen beschäftigt man bei Merck aber letztlich sogar mehr Fachkräfte als die damaligen etwa 1000 IT-Mitarbeiter, viele auf neuen Positionen. Im April des vergangenen Jahres präsentierte das Management des
Pharma- und Chemiekonzerns seine Globalisierungspläne den etwa 400 internationalen IT-Führungskräften in Darmstadt. Zudem berichtete Merck in diversen Newslettern, im Intranet und in der weltweit an alle Gesellschaften verteilten Mitarbeiterzeitung über den bevorstehenden Wandel.
Change-Management unterschätzt
Im Rückblick findet Beckmann jedoch trotzdem ein paar Dinge, die er jetzt anders machen würde. Das Thema Change-Management war etwa bei einer Person aufgehängt, die aber neben der Kommunikation auch noch für die Implementierung und die Strategieprozesse da war. Jetzt würde Beckmann wohl allein mit dem Change-Management einen Mitarbeiter betrauen. Denn die Mitarbeiter beschäftigt in einer solchen Phase der Umstrukturierung vor allem eines: Was ändert sich in meinem Arbeitsalltag? Und mit dieser Frage sollten sie nicht allzu lange allein gelassen werden.
Sonst wird der Change nämlich mindestens so schmerzhaft sein wie ein Pflaster, das nur ganz langsam abgezogen wird.