Schon einmal hat Bill Gates ihm seine Zukunft anvertraut. Rund hundert Angestellte arbeiteten damals für den Computervisionär, sie passten alle in eine Etage in dem Gebäude neben dem Burgermaster in Bellevue, Washington. Dort kam Ray Ozzie vorbei, um über Themen zu reden, die damals kaum jemanden interessierten. Die Hightech-Branche war übersichtlich in den frühen 80ern. Ray trug einen flaumigen Bart zum zweigeteilten Schnauzer, Bill weiße Strickpullover mit vielen Fusseln. Sie kannten sich erst wenige Jahre, hatten sich auf Anhieb gemocht, gleich alt, gleich verschroben: "Wir waren beide die Computerfreaks in unserer Klasse", sagt Ray.
Bei einem dieser Besuche gab Bill schließlich sein Geheimnis preis. Er öffnete den Quellcode, an dem er gerade arbeitete: ein Betriebssystem, das auf vielen verschiedenen Rechnern laufen würde statt nur auf einem Modell. Ray sagt: "Ich wusste gleich, Bill würde eine Ausdauer an den Tag legen, die die anderen nicht hatten."
Ray Ozzie sollte recht behalten: Ein Vierteljahrhundert später beherrscht Windows die PC dieser Welt. 95.000 Menschen arbeiten heute für Microsoft, den weltweit größten Softwareproduzenten.
Jetzt vertraut Bill diesem Ray sein ganzes Imperium an. Bevor sich Gates zurückzog, übergab er seinen Vordenkerjob, den Posten als Chefsoftwarearchitekt, an Ozzie. Wenn CEO Steve Ballmer das Herz von Microsoft ist, dann ist Ray Ozzie das Gehirn. Seine Mission: den behäbig gewordenen Konzern ins Internetzeitalter hinüberzuretten.
Es geht um viel. Vor 28 Jahren verkannte das damals dominierende Unternehmen, IBM , die Bedeutung der Betriebssysteme für die ersten PC. IBM ermöglichte so erst den Siegeszug von Windows. Nun steht Microsoft vor einer ähnlichen Zeitenwende.
Die Zukunft des Geschäfts, Software und Daten ins Internet zu verlagern, verkörpern andere: Amazon , Salesforce und - allen voran - die nimmersatte Internetraupe Google machen Microsoft in dem Cloud Computing genannten Geschäftsfeld die Kunden streitig. Sind die erst einmal abgewandert, sind sie für Microsoft vielleicht für immer in den Weiten des Netzes verloren.
Bill Gates nennt den Mann, der das Problem jetzt beheben soll, "einen der fünf Topprogrammierer des Universums". Jahrzehntelang hat sich Gates bemüht, Ozzie zu Microsoft zu holen. Am Ende hat er Ozzies damalige Firma Groove Networks im Jahr 2005 für 120 Millionen Dollar einfach aufgekauft. So viel Vorschuss gab es selten für einen Manager.
Ray Ozzie ist kein Selbstdarsteller
Wer ist dieser Mann, 53 Jahre alt und nur einen Monat jünger als Gates? Wer steckt hinter dem Namen, der nach Jazzmusiker klingt und sich von Raymond Oczkowski ableitet? Und was kann der Mann, dessen Großvater aus dem bayerischen Freising nach Amerika kam?
Auftritte in der Öffentlichkeit scheut Ray Ozzie, das Sprechen vor großen Menschenmengen ist ihm ein Albtraum, Interviews gibt er nur selten. In der an Selbstdarstellern reichen Branche hat ihm das den Ruf eingebrockt, eine "Greta Garbo der Softwareindustrie" zu sein. "Ich spreche lieber über die Produkte, als mich in den Vordergrund zu drängen", sagt er. Und bis vor Kurzem gab es keine Produkte. Also auch nichts zu sagen.
Das ändert sich gerade. Seit gut drei Jahren arbeitet Ozzie im Verborgenen daran, wie Microsoft auf das Zeitalter des Cloud Computings reagieren kann. Und er sieht so aus, als sei er seither kaum noch an der frischen Luft gewesen. Blass, fast kreidefarben das Gesicht, die Haare schlohweiß, schütter, nach hinten gekämmt, als blase ihm ein starker Föhn entgegen, die Zähne nach amerikanischer Manier gebleicht, allein das linke Ohr, vielleicht vor Anspannung, stark durchblutet: Den Mann umgibt geradezu etwas Ätherisches.
Ray Ozzies Strategie für Microsofts Cloud Computing
Der Bart ist weg, die Hornbrille aus der Jugendzeit auch. Seinen Platz in der Ahnengalerie der Softwarevirtuosen hat sich Ozzie inzwischen mit dem Programm Lotus Notes, das er maßgeblich konzipierte, erarbeitet. Es ermöglichte 1989 erstmals den komfortablen Austausch dessen, was wir jetzt E-Mails nennen. Heute blicken seine wässrig blauen Augen durch eine Brille mit Metallfassung, die so leicht wirkt, als wäre sie gar nicht da. Sein Büro: steril wie eine Zahnarztpraxis. Nichts lenkt hier vom Denken ab.
Dies ist Ray Ozzies Plan, wie Microsoft auch in der Zeit der Wolken-Rechnerei vorn mit dabeisein soll:
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Das Rückgrat seiner Cloud-Strategie heißt Azure, eine Art Betriebssystem für das Web oder die Fortführung von Windows mit den Mitteln des Cloud Computings. Auf dieser Plattform können Entwickler Netzanwendungen bereitstellen, Microsoft will Azure Ende 2009 starten.
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Mit Live Mesh werden die Kunden ihre Fotos, Kontakte und Musik mit allen Endgeräten bis hin zum Handy synchronisieren, aktualisieren und von überall her abrufen können. Der Dienst soll ab dem kommenden Jahr für den Massenmarkt bereit sein.
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Business-Anwendungen wie E-Mail, Web-Konferenzen oder gemeinsame Arbeitsdokumente kann man bereits online mieten. Die Firmen müssen dafür keine eigenen Server mehr einrichten oder betreiben.
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Die Kronjuwelen des Konzerns, Anwendungen aus dem Office-Paket wie Word oder Excel, werden voraussichtlich ab 2010 mit dem Update der nächsten Office-Version auch im Netz verfügbar sein, zum Teil umsonst.
In der Summe also eine Kehrtwende, weg vom angestammten Geschäftsmodell, stets teure Lizenzen für fest installierte Software zu verkaufen. Und dies ist erst der Anfang: "Wir werden eine Reihe weiterer Cloud-Dienste auf den Markt bringen", kündigt Ozzie an.
"Bill gab Anweisungen, Ray macht Eindruck"
Mit dem Vorstoß in die Wolke kommt Microsoft indes reichlich spät. Google verschenkt längst Google Text & Tabellen, Alternativprogramme zu Word oder Excel, wenn der Kunde Werbung akzeptiert. Und Apple hat seinen Web-Synchronisationsdienst MobileMe, wenn auch mit Anlaufschwierigkeiten, bereits gestartet. Selbst Ozzie räumt ein: "Es gibt Bereiche, in denen wir weiter sein könnten, als wir es sind, etwa bei Windows fürs Handy." Zudem hat Microsoft bisher keinen Weg gefunden, im Internet überhaupt Geld zu verdienen.
Insbesondere Azure aber erntet Lob aus der Szene. "Vor Microsoft haben alle Cloud Computing aus der Perspektive einer Datenbank betrachtet. Azure ist eine Plattform, und das macht das Konzept erst interessant", sagt Branchenexperte Rob Enderle. "Microsoft wird versuchen, von dieser Plattform aus Dominanz aufzubauen. Es ist wahrscheinlich, dass Azure die Zukunft von Microsoft ist", fügt Enderle hinzu.
Ray, jetzt mal ehrlich: Wollen Sie Google mittels geballter Marktmacht einfach auslöschen, so wie Microsoft das im Fall von Netscape getan hat?
Der Unterschied zwischen Steve Ballmer und Ray Ozzie
Ozzie ringt ein paar Sekunden um eine Antwort. "So eine Strategie gibt es nicht. Wir denken nicht in diesen Dimensionen. Ich benutze nicht das Wort dominant", sagt er, als arbeitete er nicht für den aggressiven Softwarekraken. "Microsoft wird führend darin sein, die Vorteile des Cloud Computings an den Kunden zu bringen", ist das Martialischste, was aus seinem Mund zu hören ist.
Wo CEO Steve Ballmer Microsofts Kraft auf den Bühnen dieser Welt breitbeinig zur Schau trägt, die Hände in die Hüften gestemmt, seine Botschaften dem Publikum ins Gesicht brüllend, redet Ozzie bedacht, anstrengungslos wie ein Mausklick. Amüsiert ihn etwas, stößt er ein kontrolliertes "Hhh" heraus.
Aus seinem Büro blickt Ozzie auf eine Schnellstraße und charakterlose Microsoft-Gebäude, Steve Ballmer kann auf den schönen See Sammamish schauen. Viele meinten zu Beginn, Ozzie werde mit seiner leisen Art nicht weit kommen im Großkonzern.
Sie haben sich geirrt. Inzwischen hat er die Firmenkultur bei Microsoft verändert. "Bill (Gates) gab Anweisungen: 'Gehe hin und mache das.' Ray macht Eindruck, indem er erst einmal zuhört", sagt Doug Hauger, Manager im Azure-Team. "Er hat die Art verändert, wie Entwickler bei Microsoft denken", applaudiert Tim O'Brien, zuständig für die Plattformstrategie in Redmond. Ozzie habe ihnen beigebracht, sich erst darüber Gedanken zu machen, was die Nutzer eigentlich von einer neuen Technik haben könnten, bevor die Programmierer loslegen. Kunde kommt vor Technik - ein Novum im technikverliebten Microsoft-Universum. Und: "Selbst Leute, die keine hohe Meinung von Microsoft haben, mögen und respektieren Ray Ozzie", sagt O'Brien.
"Komplexität bringt uns um"
Den Respekt bei Microsoft hat sich Ozzie mit einer gnadenlosen Abrechnung erarbeitet, die er nur wenige Monate nach seinem Einstieg präsentierte. Schnell hatte er festgestellt: Die Windows-Mannschaft, das Office-Team, die Xbox-Gruppe, alle werkelten sie an der jeweils neuen Version ihres Produkts - und daran, dass durch dessen Upgrade alles komplizierter wurde. Eine Strategie, wie etwa Windows auch im Internet und auf allen Endgeräten funktionieren könnte, wie die Kunden ihre Anwendungen immer und überall abrufen könnten, die hatte 2005 niemand parat.
Diese für Microsoft wohl unerträgliche Leichtigkeit machte Apple 2007 mit dem iPhone vor. "Bei Microsoft mangelte es an dem Bewusstsein, wie dringend Veränderungen nötig waren", sagt Ozzie. "Ich musste einen Weckruf senden."
Und das tat er. In einer konzertierten Aktion mit Bill Gates verfasste er ein Memo, das zunächst an die hundert wichtigsten Entscheider ging - der übliche Weg, sich bei Microsoft Gehör zu verschaffen. Der Titel: "The Internet Services Disruption", die Internet-Dienstleistungs-Zerrüttung. "Eine Reihe sehr starker und entschlossener Wettbewerber ist wie ein Laser auf Internetangebote und -software" fokussiert, hieß es darin. Umkehrschluss: Microsoft ist es nicht. "Komplexität bringt uns um, saugt die Kreativität aus den Entwicklern, macht es schwer, Produkte zu planen, zu testen und auf den Markt zu bringen", warnte Ozzie.
Technik einfach gemacht - schon als Kind wollte Ray Ozzie verstehen, wie das eigentlich funktioniert. Sein Lieblingsspielzeug war der Elektrobaukasten. "Bei uns im Kinderzimmer lief immer irgendein Projekt ab", sagt sein fünf Jahre jüngerer Bruder Jack. Beim Studium der Informationstechnik an der Universität von Illinois entdeckte Ray zum Sound seiner Lieblingssongs von Frank Zappa auch einen Baukasten für Erwachsene: das Hausnetzwerk Plato, einen Vorläufer des heutigen Internets. Er heuerte als Programmierer an. "E-Mail, Chat, die hatten alles schon untereinander. Das war 1974", sagt der Bruder. Das beeindruckte. So sehr, dass Jack dem großen Bruder seither immer folgt - bis zu Microsoft, wo er in Rays Team arbeitet.
Geschick hat Ozzie auch als Unternehmer bewiesen. Die Rechte an Notes behielt eine Firma, die Ozzie eigens dafür gründete: Iris Associates. Lotus kaufte Iris 1994 für rund 90 Millionen Dollar, ein Jahr später griff IBM bei Lotus Notes zu und zahlte 3,5 Milliarden Dollar. Nach zweijährigem Intermezzo im Großkonzern IBM gründete Ozzie dann sein zweites Start-up, Groove Networks.
Google wächst bedrohlich schnell
Und warum ist er bei Microsoft geblieben? "Weil mir klar wurde, dass ich hier viel mehr Gewicht haben würde." Wie viel, das wird nicht so einfach entschieden werden wie noch im Browsersystemkrieg der 90er. Den Untergang von Netscape hatte sich das dortige Management auch selbst zuzuschreiben. Heute ist es Google, das so bedrohlich schnell wächst. Nur gehen die Kalifornier viel raffinierter mit ihren Talenten um. "Der Kampf zwischen Microsoft und Google ist erst ein wirklicher Fall fürs Geschichtsbuch", sagt Analyst Enderle. "Wer eine Technologiewelle angeführt hat, hat noch nie die nächste Welle dominiert", gibt er zu bedenken.
Welche Rolle Ray Ozzie also in diesem IT-Geschichtsbuch spielen wird, muss sich erst zeigen. Es steht auch für ihn persönlich viel auf dem Spiel: "Wenn du erst einmal Software ausgeliefert hast, die fast jeder kennt, wie ich einst mit Lotus - das macht süchtig."