Wer reist, vertraut Service, Komfort und pünktliches Ankommen der IT an. Beispiel Lufthansa: Über "Infoflyway", das Web-Portal der Kranich-Linie, landen Flugplanabfragen beim internen Reservierungssystem. Buchungen fließen ins Amadeus-Netz. Beim Check-in kommt das zuständige System ins Spiel. Das schafft wiederum per Echtzeit-Anfrage bei der Flugdatenbank Klarheit, ob die Maschine pünktlich ist und an welchem Gate eingestiegen wird. Für Statusabfragen und das Einlösen von Bonusmeilen wird die Kundendatenbank konsultiert, die Informationen überpersönliche Präferenzen enthält, etwa Gang- oder Fensterplatz und kulinarische Vorlieben.
Hinter dem Servicepaket stecken mehr als 60 einzelne IT-Systeme: meist Großrechner, auch Server, verbunden in einem hochverfügbaren Netzwerk. Dahinter stecken aber auch eine Strategie für das Kundenmanagement, ein Integrationskonzept und - so schätzt Christoph Ganswindt, CIO von Lufthansa Passage - mindestens 120 Mannjahre Arbeit, mit denen die teils 30 Jahre alten Systeme bis Anfang 2005 in einer konsistenten Architektur verbunden werden sollen. Von deren kostengünstigem und effizientem Funktionieren hängt die Existenz der Lufthansa ab. Die Frage ist: Wie wichtig sind die IT und ihr Management für die Lufthansa?
Nicholas Carr fiele die Antwort vermutlich leicht. "IT doesn't matter" überschrieb der Publizist und Berater einen Artikel, der im Mai 2003 im "Harvard Business Manager" (HBM) erschien. Seine Behauptung: Investitionen in Informationstechnologie erbrächten keine strategischen Vorteile; die wirtschaftlich erfolgreichsten Unternehmen gäben einen deutlich geringeren Teil ihres Umsatzes für IT aus als der Durchschnitt. Carr wundert das nicht; er glaubt, dass die kommerzielle IT-Infrastruktur sich ihrer "Vervollständigung" (completion) nähere. Die IT ist reif, soll das heißen, so reif wie die Versorgung mit Gas, Wasser und Strom und wie das Eisenbahnnetz. Jeder nutze diese Techniken auf gleiche Weise und habe keine Möglichkeit, sich allein durch ihre Nutzung von den Wettbewerbern zu unterscheiden. Und immer mehr Geschäftsprozesse seien mittlerweile derart hoch standardisiert, dass sie sich in Software abbilden ließen. Fazit: keine Geschäftsprozess-Unterstützung mehr durch eine strategisch geführte IT, sondern das Aufgehen der Prozesse und Informationen in Standardtechnik, die allen beliebig zur Verfügung stünde.
Behauptung: IT ist strategisch unwichtig
Die Aufregung ist seitdem groß und reißt nicht ab. Microsoft-CEO Steve Ballmer verteidigte Software als eine der größten Mehrwertquellen, HP-Chefin Carly Fiorina beschwor die Einheit von IT und Business. Aber Carr hat sich nicht nur bei der Industrie unbeliebtgemacht. Auch Wissenschaftler, Marktforscher, Berater und IT-Entscheider lehnen seine Behauptung, IT könne man unter strategischen Gesichtspunkten genauso vergessen wie alles, was aus der Leitung kommt, rundheraus und mit starken Argumenten ab.
Erwartungen enttäuscht
Und: Zu groß waren um die Jahrtausendwende herum die Versprechungen von neuen, angeblich nur durch IT ermöglichten Geschäftsmodellen, die sich mittlerweile in Luft aufgelöst haben, beklagt Hubert Österle, Professor für Wirtschaftsinformatik an der Universität St. Gallen. Elektronische Marktplätze (s. Seite 58) seien nur ein Beispiel dafür. Die "Übertreibung" während der Internet-Euphorie habe den CIOs seriöses Arbeiten massiv erschwert. "Wir wollen nicht eure langweilige Prozessoptimierung", hätten sie zu hören bekommen, "sondern wir wollen E-Business, wollen neue Geschäftsmodelle." Vor allem die IT-Industrie trifft der Zorn des Wissenschaftlers; er rechnet vor, dass die Anbieter jeden Budget-verantwortlichen IT-Manager mit durchschnittlich 100 000 Dollar an Marketing-Mitteln bearbeitet - und damit viele von ihnen fast zwangsläufig ins Scheitern getrieben - haben.
Die überdrehte Stimmung habe zwar irgendwann wieder "aufs natürliche Maß" zurückgefahren werden müssen, sagt Österle. Aber jetzt geht es auch wieder zu weit: "Das Pendel schlägt zur anderen Seite aus." Es gibt Hinweise, dass Österles Befürchtung zutrifft: Ein Drittel von 437 Geschäftsentscheidern äußerte sich im Mai 2003 auf Befragen von Forrester Research unzufrieden mit den Leistungen der IT-Abteilungen in ihren Firmen. Heute haben CIOs offenbar nur noch selten die Möglichkeit, ihre Rolle als Innovationstreiber ernsthaft wahrzunehmen. Sparen heißt die Devise, wer scheitert, fliegt. Top-Positionen sind zu Schleudersitzen geworden, deren Treibsatz meist aus Kostenargumenten gebildet wird, wie ein Blick auf das sich schnell drehende Personalkarussell (siehe Seite 62/63), verdeutlicht.
Keine Standardsoftware für Prozesse
Freudige Neugierde bei IT-fremden Sparfüchsen, aber Stirnrunzeln bei Fachleuten hat Carrs Behauptung hervorgerufen, IT-gestützte Geschäftsprozesse würden immer stärker in Standardsoftware abgebildet, sogar in sie eingebettet. Dabei erscheint es logisch: Die Verdoppelung der Rechenleistung alle zwei Jahre nach "Moores Gesetz" führe zu einer rapiden Verbilligung von Rechenleistung, damit zur "Demokratisierung der Computer-Revolution" und so schließlich dazu, dass "selbst die fortschrittlichsten IT-Ressourcen schnell für alle verfügbar" würden.
Carrs Fehler, den ihm durch die Bank alle Kritiker vorwerfen: Er ignoriert, dass es in der Unternehmens-IT nicht ausschließlich um technische Ressourcen, sondern im Wesentlichen um Prozessunterstützung geht. Tom Pisello, CEO der US-Marktforschungs- und Beratungsgesellschaft Alinean, hält dem Publizisten und Berater entgegen: Auch wenn Technologie zur Commodity werde, also leicht verfügbar und kostengünstig, seien ihre Implementierungen in Form von Anwendungen und Lösungen nicht einfach kopierbar, und zwar wegen der "einzigartigen Bedürfnisse und Prioritäten einzelner Organisationen".
Thomas Tribius, CIO des Axel Springer Verlags in Hamburg, behauptet sogar schlankweg: "Moores Gesetz funktioniert nicht mehr." Die IT ist nach seiner Überzeugung auf einem ganz anderen Weg: von der noch sehr stark kostengetriebenen Funktions- über die Prozessunterstützung hin zur Rolle als strategisches Gut und damit als Faktor des Unternehmenswerts. Carr rückwärts, sozusagen.
Legowirtschaft gibt es nicht
Prozesse aus der Leitung: Österle fallen nur zwei Beispiele ein, wo das funktioniert: Personalabrechnung und Fakturierung. Und Zweiteres sei noch nicht in allen Branchen der Fall; für Telco-Firmen etwa seien ihre Billing- und Ratingprozesse wettbewerbsentscheidend. "Wenn man heute einem für Fakturierung und Preisfindung zuständigen SAP-Verantwortlichen sagen wollte, das sei Commodity, würde der lachen", meint der Wissenschaftler, der auch CTO der schweizerisch-deutschen Beratungsgesellschaft International Management Group (IMG) ist. Seine Überzeugung: Es gebe keine "Legowirtschaft", Software sei nicht beliebig kombinierbar. "Wenn ich IT als Commodity akzeptiere, dann sage ich damit, dass ich mit den Geschäftsprozessen zufrieden bin, dass ich glaube, durch IT nichts verändern zu können: keinen Außendienst durch Mobiltechnology, keine Kundenintegration, keinen Dokumentenaustausch mit Lieferanten. Absurd."
Die Lieferkette braucht Hirnschmalz
Kleine, zufällige Schwankungen am Point of Sale werden so zu starken Ausschlägen am anderen Ende der Lieferkette - wie bei einer Peitsche, deren Bewegung am Stiel sich wellenförmig in der Schnur fortsetzt. "Bullwhip-Effekt" nennen Wirtschaftswissenschaftler folglich das Phänomen. Laut Österle kostet es alleindie US-Wirtschaft jedes Jahr mehr als 30 Milliarden Dollar - durch zu hohe Lagerbestände, ungenaue Produktionsplanung, deshalb teure Produktion und am Ende durch Unzufriedenheit der Kunden. "Standardsoftware kann dieses Problem nicht lösen", bekräftigt der schweizerische Wirtschaftsinformatiker.
Thorsten Wichmann, Geschäftsführer der Marktforschungsgesellschaft Berlecon Research, schlägt in diese Kerbe: "In Wirklichkeit können besonders solche Unternehmen ihren Vorsprung gegenüber Mitbewerbern ausbauen, die das Zusammenspiel zwischen Prozessen und IT besonders gut beherrschen. Unternehmen also, die wissen, welche Prozesse sich durch welche IT-Lösungen besonders gut unterstützen lassen, und die auch wissen, mit welchen Managementmethoden die Mitarbeiter dazu gebracht werden können, die Veränderungen durch zunehmenden IT-Einsatz zu akzeptieren und deren neue Möglichkeiten bestmöglich auszunutzen." Wichmann zitiert genüsslich einen Teilnehmer an einer Berlecon-Veranstaltung, der es nach seiner Auffassung exakt auf den Punkt gebracht habe: "It's the P (für: Prozesse, Anm. d. Red.) in IT that matters."
Auch der Kölner Managementberater Klaus Dieter Leciejewski kommt in einer Umfrage seiner Beratungsfirma KDL Consulting unter den 130 größten deutschen Unternehmen zu der Erkenntnis, dass Software und Systeme allein wenig ausrichten können. Zu den größten Anforderungen an die IT-Verantwortlichen gehöre es, "IT-Instrumentarien mit Fachinhalten zu verknüpfen", so Leciejewski. Dieser Erkenntnis folgen logisch die Verteilungen von Kosten und Mitarbeiterzahlen auf die IT Bereiche Rechenzentrum, Anwendungsentwicklung und Service / Overhead (s. Tabellen Seite 18 und Seite 20): Im Durchschnitt aller Branchen entfallen beinahe die Hälfte der Kosten wie auch der Mitarbeiter auf die Anwendungsentwicklung. Hier werden die Geschäftsprozesse in Software gegossen - aber individuell und nicht nach unternehmensübergreifenden Standards, wie Carr behauptet.
IT-Ausgaben gefährden nicht den Ertrag
Die Erkenntnis lässt sich auch an der Produktstrategie von SAP ablesen: R/2, R/3 und My SAP sind hochintegrierte Pakete - aber so starr, dass häufig dieGeschäftsprozesse darauf abgebildet werden mussten, nicht umgekehrt. Die Verantwortung für das Funktionieren der Prozesse SAP anzulasten war argumentativ daher relativ einfach; schließlich waren die Prozesse durch die Software vorgeschrieben - in Carrs Sinn in die Software eingebettet. Jetzt setzt SAP auf modulare SW-Bausteine (Xapps), die in bedarfs- und unternehmensspezifischer Weise zusammengefügt werden. Die Verantwortung für das Funktionieren des Gesamtsystems liegt damit unabweisbar in den Händen der IT-Verantwortlichen in den Anwenderunternehmen.
Stand der Forschung ignoriert
Hätte Carr sorgfältiger recherchiert, wäre ihm dieser Lapsus nicht unterlaufen; Wirtschaftswissenschaftler Picot wirft ihm vor, den Stand der Forschung nicht präsent zu haben. Das vom Ökonomie-Nobelpreisträger Robert Solow 1987 entwickelte "Produktivitätsparadoxon" - weniger IT-Investitionen führen zu höherem ökonomischem Ertrag - ist nämlich spätestens seit März 2003 widerlegt. Da erschien in der Zeitschrift "Computing Surveys", herausgegeben von der Association for Computing Machinery (ACM), ein Aufsatz von Jason Dedrick, Vijay Gurbaxani und Kenneth Kraemer. Die Wissenschaftler der Universität Irvine in Kalifornien haben die Ergebnisse von mehr als 50 empirischen Studien zwischen 1985 und 2002 zu diesem Thema zusammengetragen und erneut analysiert. Und keine einzige dieser Studien kam zu dem Ergebnis, dass mehr IT-Einsatz zu geringerer Produktivität führe - im Gegenteil: IT, so die Autoren, sei längst mehr als nur ein Werkzeug, um damit bestehende Prozesse zu automatisieren. Viel wichtiger sei ihre Rolle bei der Förderung organisatorischer Veränderungen, die tatsächlich zu Produktivitätsgewinnen führen könnten. Das Solow’sche Paradoxon, urteilen die kalifornischen Wissenschaftler abschließend, sei ohnehin immer schon mehr ein "Strohmann" als eine ernsthafte ökonomische Analyse gewesen.
Outsourcing - IT bleibt strategisch
Weniger Kosten und dadurch mehr Produktivität der IT versprechen sich viele Firmen durch Outsourcing. Als Strategiethema habe die Informationsverarbeitung deshalb noch längst nicht ausgedient, betont Organisationsforscher Picot. "Information hat in Unternehmen immer schon eine extrem wichtige Rolle gespielt." Die Marktmodelle der Application Service Provider (ASP) und die aktuelle On-demand-Diskussion zeigten, dass die Auslagerung von IT-Leistungen nur in begrenzten Bereichen funktionieren kann. "Man darf sich da nichts vormachen: Man gibt nur die Dinge raus, die wirklich unproblematisch sind", urteilt er.
Aber selbst große Outsourcing-Deals machen nach Picots Worten die Unternehmens-IT und ihre Entscheider nicht obsolet, selbst wenn sie hierarchisch herabgestuft - etwa aus dem Vorstand entfernt - würden. "Informationsverantwortung kann auch unter Zuhilfenahme der Technologie vom Top-Management und dem Unterbau mit gemacht werden; sie bedarf nicht mehr so dringend eines spezialisierten Bereichs wie vorher." Die strategische Bedeutung der IT für die Unternehmensentwicklung werde durch Outsourcing nicht reduziert, stellt Picot fest; sie werde vielmehr heute "integraler wahrgenommen". Ein CIO dürfe sich nicht dadurch definieren, "dass er große Truppen im Unternehmen befehligt, sondern dadurch, dass er Methoden, Konzepte und Bewusstsein schafft für die Bedeutung und die Bereitstellung des Produktionsfaktors Information im Unternehmen", so der Wissenschaftler. "Das kann eine winzige Truppe sein, die nur dafür sorgt, dass intern die Leute Awareness für die IT haben und sich der Systeme überhaupt bedienen."
Reflexion der Bedeutung von IT
Eines muss man Carr zugestehen: Sein Artikel und die anschließende Auseinandersetzung haben zu einer gründlichen Reflexion der Bedeutung von IT geführt. Das räumt auch Picot ein: "Provokante Beiträge wie dieser sind hilfreich; sie zwingen, Positionen zu überdenken", so der Wirtschaftsinformatiker. Ansonsten bringt er wenig Respekt für den Autor auf.
Und das ist die Position der IT nach Carr: Ob sie zählt, wird nicht daran deutlich, wie neu und investitionsintensiv die Technik ist, sondern ob sie Geschäftsprozesse wirksam unterstützt. Das kann auch mit alter Technik geschehen - wenn sie richtig eingesetzt wird. Es ist die Abhängigkeit von der Intelligenz der Entscheider, die IT von anderen horizontalen Funktionen wie Gas-, Wasser- und Stromversorgung unterscheidet. Diese Abhängigkeit wird sich noch über Generationen nicht auflösen, die Hirne der CIOs und ihrer Teams werden nicht in Standardsoftware abgebildet werden.
IT wiegt schwer, auch wenn sie kostengünstig und mit wenigen Kräften bewerkstelligt wird.