Clara, derzeit kommen viele Flüchtlinge aus der Ukraine zu uns. Wie erlebt ihr das bei Integreat gerade?
Clara Bracklo: Die Situation, wie wir sie grade in ihren Anfängen erleben, erinnert uns stark an die Anfangszeit von Integreat. Die Hilfsbereitschaft der Menschen ist wie 2015 enorm hoch und viele Angebote für neu ankommende Menschen werden unkompliziert und unbürokratisch geschaffen. Wir haben Integreat und die gleichnamige App damals ja aus dem konkreten Informationsbedarf heraus ins Leben gerufen, um Flüchtlingen lokale Informationen in ihrer jeweiligen Muttersprache anzubieten. Mittlerweile haben wir die App mit über 70 Kommunen weiterentwickelt.
Wie hilft Integreat Geflüchteten und Kommunen konkret?
Bracklo: Wenn man neu in einem Land ist, ist erst einmal alles anders. Andere Prozesse, andere Behörden und natürlich eine andere Sprache. Städte und Landkreise können mit der Integreat-Plattform sehr einfach und schnell lokale Informationen in vielen Sprachen veröffentlichen. Damit gerade komplizierte Themen wie zum Beispiel zu Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis leichter verständlich werden. Auch die vielen Helfenden sehen auf einen Blick, welche Anlaufstellen es gibt.
Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit den Kommunen?
Bracklo: Gerade die derzeitige Situation hat uns gezeigt, wie gut wir zusammenarbeiten und welche Vorteile es gibt: Als dezentral organisiertes Tech-Team in Teilzeit und Ehrenamt wären wir niemals imstande gewesen, innerhalb kürzester Zeit lokalspezifische Informationen für so viele Städte und Landkreise in ganz Deutschland zu verfassen - das übernehmen die Integreat-Verantwortlichen innerhalb der Kommunen vor Ort. Wir von Integreat konnten uns dafür darauf konzentrieren, Ukrainisch als Sprache in die App aufzunehmen und die Erfassung und Vermittlung von Wohnraum innerhalb von Integreat möglich zu machen.
Was ist mit den Kommunen, die Integreat noch nicht einsetzen?
Bracklo: Für sie haben wir die Hürden zur Einführung gesenkt und den Prozess beschleunigt. Dadurch ist Integreat innerhalb kürzester Zeit lokal einsatzbereit. Das ist einfach eine große Stärke digitaler Angebote: Sie sind schnell für alle Menschen zugänglich und können über die Zeit hinweg ergänzt und nach Bedarf verändert werden.
Soziales Engagement: Tipps für IT-Profis
Viele Menschen wollen sich in dieser Situation sozial engagieren. Das gilt auch für IT-Expertinnen und -Experten, die gerne mit ihrem technischen Know-how helfen wollen. Was können sie tun?
Bracklo: ITler sollten sich am besten an bereits bestehende Initiativen wenden und fragen, wo wirklich Hilfe vonnöten ist. Schlecht ist es, wenn Ressourcen verschwendet werden, weil entweder an einem Problem gearbeitet wird, das sich in der Praxis gar nicht als ein Problem der flüchtenden Menschen zeigt, oder wenn an einem Problem gearbeitet wird, das andere bereits gelöst haben - eventuell auch auf einem anderen Wege. Eine gute Übersicht über bestehende Initiativen bündelt zum Beispiel alliance4ukraine.org.
Inwieweit kann Technologie in dieser humanitären Krise helfen?
Bracklo: Technologie hat oft den Vorteil, dass eine einzelne Entwicklung viele Menschen erreichen kann. Und auch das Leben vieler Menschen verbessern kann. Selten ist Technologie dabei das Allheilmittel, aber sie kann helfen, Prozesse zu vereinfachen, Menschen zusammenzubringen und Transparenz zu schaffen. Entscheidend ist, dass IT-Lösungen nicht isoliert stehen, sondern gut an bestehende Integrations- und Hilfsstrukturen angebunden sind.
2015 hatten wir schon einmal die Situation, dass viele Menschen zu uns kamen, viele Initiativen sind aus dem Boden geschossen, viele sind aber auch verpufft. Was können wir daraus lernen?
Bracklo: Das betterplace lab hat zu diesem Thema intensiv geforscht und viele unserer Eindrücke bestätigt. Wichtig ist zum Beispiel das Thema Nachhaltigkeit: IT-Lösungen für nur einen Einzelfall zu entwickeln und dabei gesellschaftliche Wandlungsprozesse zu vergessen, lässt die langfristige Perspektive außer Acht. Zielgruppen und Problemstellungen können sich über die Zeit verändern und es ist gut, sich von Anfang an darüber Gedanken zu machen, ob die geplante Technologie auch für andere Anwendungsfälle verwendet werden kann.
Integreat ist eine Open-Source-Lösung. Ist das von Vorteil?
Bracklo: Open Source zu entwickeln ist essenziell. So geht getane Arbeit nicht verloren, sondern kann übernommen und von anderen Entwicklerinnen und Entwicklern weitergeführt werden.
Nachhaltigkeit ist der Schlüssel
Gibt es weitere Learnings aus 2015?
Bracklo: Eine IT-Lösung löst selten ein Problem vollständig. Oft braucht es Sozialarbeiterinnen und Ehrenamtliche, die mit den Geflüchteten die Lösung gemeinsam bedienen. Dabei sollte man bedenken, dass das ehrenamtliche Engagement einer Krise im Laufe der Zeit verpufft. Lösungen sollten deshalb schnellstmöglich hauptamtliche Strukturen mit einbeziehen.
Woran arbeitet ihr gerade technisch?
Bracklo: Neben Integreat arbeiten wir aktuell auch an einer App für das Erlernen von beruflichem Vokabular. Die App "Lunes" (www.lunes.app) wurde mit Fördermitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und der Landesinitiative "Kein Abschluss ohne Anschluss - Übergang Schule-Beruf" im Kreis Olpe initiiert. Aktuell umfasst die Lern-App bereits über 1000 Vokabeln für 30 Berufsbilder. Um in Deutschland arbeiten zu können, sind Sprachkenntnisse von großer Bedeutung. Mit der kostenlosen Lunes-App tragen wir dazu bei, dass Zugewanderte möglichst schnell im Arbeitsmarkt integriert sind.
Kann man sich auch bei Integreat jetzt konkret engagieren? Wo braucht ihr gerade jetzt Unterstützung?
Bracklo: Weitersagen! Wir sehen grade die große Gefahr, dass aus dem unmittelbaren Wunsch heraus zu helfen, Technologien entwickelt werden, obwohl es bereits gut funktionierende Lösungen gibt. Je mehr Menschen von Integreat als niedrigschwelliger, direkt einsetzbarer Open-Source-Software gehört haben, desto geringer ist diese Gefahr. Und natürlich freuen wir uns auch immer über ehrenamtliche Entwicklerinnen und Entwickler, die in unserem dezentral organisierten Team dazu beitragen, wichtige Funktionalitäten schneller umzusetzen.
Fördergelder richtig einsetzen
Gibt es einen Appell an die Gesellschaft oder Politik, den ihr noch loswerden wollt?
Bracklo: Ja, drei: Erstens, Fördergelder an wirkungsorientierte Organisationen zu geben. Zweitens, Open-Source-Projekte fördern, da diese transparenter und nachhaltiger sind. Drittens, Integration muss nachhaltig gedacht werden: Nur weil jetzt wieder viele Menschen nach Deutschland kommen, heißt das nicht, dass Integrationsprojekte in zwei, drei Jahren nicht weiter gefördert werden sollten beziehungsweise müssen. Integration ist ein langfristiges Projekt, das nicht mit einem absolvierten Deutschkurs endet, sondern dann erst beginnt.
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