Wenn Experten über "Digital Customer Experience" diskutieren, ist schnell von smarten Kundenschnittstellen die Rede: Mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) könnten solche Systeme adhoc Produktempfehlungen generieren, lautet ein Versprechen.
Tatsächlich entwickelt sich die Schnittstelle zum Kunden immer mehr zu einem Anwendungsfeld für KI. Insbesondere Versicherungskonzerne und Vermittler in der Branche investieren in KI und Machine Learning, um näher an den Kunden heranzurücken und der wachsenden Konkurrenz von Technologie-Startups ("Insurtechs") etwas entgegenzusetzen.
Weil in der Versicherungsbranche besonders viele Daten anfallen und Prozesse stark von Wiederholungen geprägt sind, gibt es zahlreiche Felder, auf denen sich ein KI-Einsatz lohnt. Die Versicherer gehören auch deshalb zu den KI-Anwendern der ersten Stunde. Der Münchner Allianz-Konzern etwa verweist auf eine Studie von Tata Consultancy Services der zufolge die Versicherungswirtschaft fast doppelt so viel in KI investiert wie die zwölf anderen untersuchten Branchen: 124 Millionen Dollar gegenüber durchschnittlich 70 Millionen Dollar.
Künstliche Intelligenz werde in der Versicherungsbranche einen tiefgreifenden Wandel auslösen, glaubt Michael Bruch, Head of Emerging Trends bei Allianz Global Corporate & Specialty (AGCS). Davon profitierten sowohl Kunden als auch Versicherer: "KI bietet ein immenses Potenzial, um die Wertschöpfungskette der Assekuranz zu optimieren." Zunächst werde KI zur Automatisierung des Versicherungsprozesses beitragen, etwa bei der Abwicklung von Schadenfällen und beim Abschluss von Policen. Im Laufe der Zeit könne dies bei Versicherern und ihren Kunden auch das Risikobewusstsein schärfen.
Bisher haben sich die Versicherer vor allem darauf konzentriert, KI Anwendungen ins Privatkundengeschäft zu integrieren, berichten die Münchner. Nun aber rückten auch gewerbliche Versicherungen ins Blickfeld, darunter der große Sektor der Industrieversicherungen. Hier könnten KI-Techniken erhebliche Kosteneinsparungen bringen, die Geschäftsabwicklung erleichtern und Vorgänge wie die Prüfung von Anträgen und Versicherungsverträgen beschleunigen. Vorteile bringe der KI-Einsatz auch beim Entwickeln neuer Lösungen. Darüber hinaus lasse sich ein Versicherungsbetrug mithilfe intelligenter Systeme leichter aufdecken.
Michele Lagioia, Technologie-Consultant und Mitglied des italienischen Verbands für künstliche Intelligenz, geht davon aus, dass insbesondere die Schadensfallabwicklung von einer Automatisierung profitieren werde. "KI und Automatisierung ermöglichen die schnellere und effizientere Abwicklung von Versicherungsfällen, bei denen es nicht um hohe Beträge geht." Doch auch bei komplexeren Schadensfällen im Bereich der gewerblichen Versicherungen könne der KI-Einsatz Entscheidungen beschleunigen und den Schadenservice optimieren. Lebens- oder Krankenversicherungsgesellschaften nutzten Künstliche Intelligenz bereits beim Formulieren von Verträgen und beim Prüfen von Ansprüchen.
Customer Engagement und effizientere Prozesse
Einschlägige Studien passen zu dieser Einschätzung. Nach Erhebungen des Marktforschungs- und Beratungshauses Forrester Research konzentrieren sich die KI-Investitionen der Versicherer auf die zwei Bereiche Customer Engagement und effizientere Prozesse. Die eine KI-Technik für alle Anwendungsbereiche gibt es aus Sicht der Analysten allerdings nicht.
Sie haben zwölf Technologien mit jeweils unterschiedlichen Reifegraden identifiziert, die zu eine verbesserten Customer Experience und mehr Effizienz beitragen könnten. Dazu gehören Techniken wie Gesichtserkennung, Text- und Bildanalyse ebenso wie Recommendation Engines und komplexere Systeme wie Conversational Solutions oder branchenspezifisch vorbereitete Systeme (siehe Grafik).
Schon bald würden KI-Elemente in fast allen kundennahen Anwendungen Einzug halten, erwarten die Marktforscher. KI-basierte Data-Mining-Systeme, automatisierte Agents sowie Bild- und Spracherkennung erlauben es beispielsweise, Kunden personalisierte Beratung und individuelle Versicherungsprodukte anzubieten. Kundenbedürfnisse sollen die Systeme jeweils im Kontext eines aktuellen Dialogs zwischen Anbieter und Nutzer erkennen können.
Dabei kommen immer häufiger virtuelle Assistenten mit Sprachfunktionen zum Einsatz. Nach Einschätzung von Forrester wächst die Akzeptanz der digitalen Assistenten kontinuierlich, nachdem viele Anwender bereits Erfahrungen mit Systemen wie Alexa, Siri oder Cortana gesammelt hätten. Versicherungsunternehmen könnten sich diese Entwicklung zunutze machen.
Ein anderes Anwendungsfeld sehen die Analysten in einer verbesserten Risikoeinschätzung. Unternehmen setzen dazu unter anderem auf Natural Language Processing (NLP), Deep Learning und Advanced Analytics. Als Informationsquellen dienen etwa historische Transaktionsdaten und Informationen über geltend gemachte Ansprüche der Versicherten. Intelligente Systeme könnten daraus realistischere Risikobewertungen generieren als mit herkömmlichen Methoden, argumentieren die KI-Protagonisten.
Generell erwarten Kunden heute von ihren Versicherungen auf allen Kanälen eine fundierte persönliche Ansprache, beobachtet Forrester. Dazu gehörten Antworten in Echtzeit ebenso wie konfigurierbare Services und der mobile Zugang zu einschlägigen Angeboten und Informationen. Versicherer sollten deshalb nicht nur über neue Produkte, sondern auch über andere Distributions- und Vertriebswege nachdenken.
Virtuelle Assistenten im Kundenkontakt
Welche Einsatzszenarien sich für KI-Techniken im Kundenkontakt anbieten, erprobt die Allianz im Privatkundengeschäft beispielsweise mit "Allie". Die gemeinsam mit dem KI-Spezialisten Inbenta entwickelte virtuelle Assistentin soll Kunden beim Auffinden von Informationen helfen und Fragen beantworten, die Nutzer mit eigenen Worten formulieren. Dabei unterscheidet der Software-Roboter zwischen Routinefällen, die er selbständig bearbeiten kann und solchen, die einen menschlichen Eingriff erfordern.
Machine-Learning-Techniken setzt die Allianz derzeit etwa in der Risikoprüfung und beim automatisierten Abschluss von Versicherungsverträgen mit mittelständischen Betrieben ein. Dieser Trend werde sich allmählich auch auf das gewerbliche Großkundengeschäft ausweiten, glauben die Verantwortlichen. So habe die Sparte AGCS ein Tool entwickelt, das mithilfe von maschinellem Lernen besonders hohe Betriebsunterbrechungsrisiken in Lieferketten aufspüre. Das System analysiere große Datenbestände, um beispielsweise Netzwerke erfolgskritischer Lieferanten in den verschiedenen Wirtschaftszweigen zu identifizieren.
Personalisierte Kundenservices durch Sprachanalyse
Versicherer wie AXA, Efinancial und BGL Group nutzen Sprachanalyse, um aus Kundenanrufen neue Erkenntnisse zu gewinnen. Mit Advanced-Speech-Analytics-Techniken können Sie Muster und Signale identifizieren, die auf Stimmungen und den Grad der Kundenzufriedenheit schließen lassen. Solche Systeme kombinieren häufig mehrere Technologien, erläutert Forrester-Experte Gordon Barnett, darunter Audio Mining, Emotion Detection sowie Gesprächs- und Textanalyse.
Auf diese Weise können Versicherer unterschiedlichste Kommunikationswege mit den Kunden durchleuchten, sei es Telefon, E-Mail, Chat, Social Media oder das Web. Barnett: "Eine neue Generation von Sprachanalyse-Apps mit KI-Erweiterungen bringt heute schnellere und genauere Erkenntnisse, auf die Unternehmen sofort reagieren können."
Der Online-Versicherungsvermittler Efinancial beispielsweise nutzt Sprachanalyse-Software von Genesys, um sämtliche Kundenanrufe auszuwerten. Er will damit unter anderem Performance-Engpässe oder Mängel in der Servicequalität identifizieren, um rasch Gegenmaßnahmen einleiten zu können. Laut eigenen Angaben gelang es dem Anbieter damit, die Kundenzufriedenheit zu verbessern und mehr Umsatz zu erwirtschaften.
Künstliche Intelligenz verbessert Produktempfehlungen
Amerikanische Versicherer wie Aon oder Transamerica arbeiten unterdessen bereits mit intelligenten Recommendation-Tools oder -Plattformen. Solche Systeme lernen kontinuierlich aus individuellen Kundendaten und dem Nutzerverhalten. Transamerica etwa nutzte Software des kalifornischen Startups H20.ai, um eine Empfehlungsplattform für Versicherungsprodukte aufzubauen.
Sie soll Kunden durch das breite Produktangebot leiten und den Kaufprozess vereinfachen. Mithilfe der Plattform gelang es dem Anbieter laut eigenen Angaben, Produkte passgenauer zu empfehlen und so die Kundenzufriedenheit um 20 Prozent zu steigern.
Ausblick: Virtuelle Agenten werden noch intelligenter
Mit dem Reifegrad der Technologien werde die Zahl der KI-Anwendungen im praktischen Einsatz weiter zunehmen, erwartet Allianz-Experte Bruch. In Form von intelligenten Assistenten könne Künstliche Intelligenz unterschiedliche Szenarien und Konsequenzen skizzieren und auf dieser Basis Entscheidungen treffen: "Bereits die nächste Generation des maschinellen Lernens wird sich nicht mehr auf ein gesteigertes Risikobewusstsein beschränken, sondern aktiv Entscheidungen treffen."