Anfang Juli soll der Bereich Car.Software im Konzern seine Arbeit aufnehmen. "Wir wechseln vom Planen ins Machen", sagte Christian Senger, CEO der Car.Software-Organisation, kurz vor dem Start. Das Ziel: Mit eigenem Budget und eigenen Mitarbeitern soll eine digitale Plattform für alle Konzernmarken und Märkte entwickelt werden.
Das Vorhaben ist durchaus ambitioniert. Die Gretchenfrage, die die VW-Verantwortlichen im Vorfeld beantworten mussten, lautete: Make or buy? Die Antwort ist eindeutig: Bis 2025 will Senger den Eigenanteil an der Software in den Fahrzeugen aus dem eigenen Haus auf 60 Prozent steigern. Aktuell liegt er bei etwa zehn Prozent. Es gebe durchaus unterschiedliche Ansätze, einen Software-Stack auf die Beine zu stellen, räumt Senger ein. Einige Autohersteller würden enge Entwicklungspartnerschaften mit großen IT-Konzernen schließen, andere konzentrierten sich auf den reinen Fahrzeugbau und kauften Software weiter dazu.
"Wir wollen unsere Software-Plattform selbst entwickeln"
"Für uns kommt das nicht in Frage", bekräftigt der VW-Manager. "Wir können und wir wollen unsere Software-Plattform selbst entwickeln." Das hat verschiedene Gründe. Senger verweist auf die Komplexität eines Automobils. Dafür fehle das Verständnis bei Wettbewerbern außerhalb der eigenen Branchen - und auch im IT-Markt. Es sei wesentlich einfacher, ein Smartphone zu vernetzen als ein Automobil. Außerdem will VW die Kontrolle behalten. Das sei wichtig um, die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, betont Senger. "Schon deshalb können wir Dritten keinen kompletten Zugriff auf Daten in unseren Fahrzeugen geben." Künftige digitale Wertschöpfung soll im Unternehmen bleiben. Zudem setzt der VW-Mann auf Skalierungseffekte. "Software entfaltet ihr Potenzial mit der steigenden Zahl der Fahrzeuge. Das gilt für Kostenvorteile, aber auch für das Lernen aus Daten." Senger verweist an dieser Stelle auf rund elf Millionen verkaufte Fahrzeuge im Jahr 2019.
Für diese Fahrzeuge soll es künftig mit VW.OS ein einheitliches Betriebssystem geben. In der künftigen Plattform würden Hardware, Betriebssystem und Apps voneinander getrennt, beschreibt Senger die Architektur. Das reduziere die Komplexität und erlaube es VW, neue Funktionen schneller an den Start zu bringen. "Die Innovationszyklen werden kürzer. Wir werden neue Anwendungen viel schneller auf den Markt bringen", verspricht der Manager. Über den App-Layer sei es zudem möglich, die Fahrzeuge für verschiedene Märkte und unterschiedliche Klassen, beispielsweise Premium- und Volumensegment, zu differenzieren.
Die wichtigste Währung für die Entwicklung neuer Funktionen sind Daten. Senger spricht von einem Big Loop. Sämtliche Informationen aus der Fahrzeugflotte sollen in einem zentralen Data Lake gesammelt werden. KI im Auto werde die relevanten Informationen herausfiltern und in die Cloud schicken. Dort ließe sich dann im nächsten Schritt durch die Analyse der Daten feststellen, welche neuen Funktionen gefragt seien beziehungsweise wie sich bestehende Apps weiter ausbauen ließen.
VW.OS - große Aufgabe, die Zeit und Geld braucht
Bis dahin ist der Weg allerdings noch weit. Senger selbst räumt ein, dass es sich bei dem Vorhaben um eine große Aufgabe und Herausforderung handele. "Es gibt keine Best Practices dafür", so der Manager. Man müsse im Grunde ganz von vorne anfangen. Das braucht Zeit und Geld. In den kommenden Jahren wird die Car.Software-Organisation mehr als sieben Milliarden Euro in ihre Aufgaben investieren, kündigte Volkswagen an. Nach und nach sollen einzelne Fahrzeugfamilien auf die Plattform gehievt werden. Doch erst 2025 soll alles stehen. Ab dann sollen sämtliche Autos und Marken aus dem Hause Volkswagen mit dem neuen Betriebssystem aus den Werkshallen rollen.
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Damit wird auch deutlich, dass VWs Weg zu einem softwaregetriebenen Automobilkonzern eine große Herausforderung ist. Der Konzern will offenbar die Fäden stärker in der Hand behalten als es früher den Anschein hatte. Das betrifft vor allem die Automotive Cloud. Im Oktober 2018 hatte Konzernchef Herbert Diess dafür eine strategische Cloud-Partnerschaft mit Microsoft angekündigt. Gemeinsam wolle man die Zukunft der Mobilität entwickeln und gestalten.
Das hört sich heute anders an. Die Automotive Cloud werde weiter eine zentrale Rolle spielen, hieß es jetzt. Doch Senger stellt klipp und klar fest: "Wir wollen unsere Software-Plattform selbst entwickeln." Das deutet darauf hin, dass Microsoft mit Azure nur noch als Lieferant für die technische Infrastruktur gefragt ist. In der jüngsten Ankündigung wird der einst als großer Plattformpartner angekündigte Softwarekonzern jedenfalls mit keinem Wort mehr erwähnt.
Um das Vorhaben aus eigener Kraft zu stemmen, sollen das vorhandene Know-how und das Softwarewissen im Konzern in der Car.Software-Organisation gebündelt werden. Bis Ende des Jahres werden hier im besten Fall rund 5000 IT-Fachleute und Entwickler arbeiten - der Großteil von ihnen in Europa, vor allem in Deutschland. Auch in Indien, Israel und den USA sollen Entwicklungszentren aufgebaut werden. Bis 2025 soll die Mannschaftsstärke der Organisation auf 10.000 Köpfe anwachsen.
Industrial Cloud soll VW-Produktion effizienter machen
Das Automotive-Projekt ist nicht das einzige großvolumige IT-Vorhaben, dass die Wolfsburger derzeit mit Verve vorantreiben. Im Zuge der Industrial Cloud will der Konzern auch eine neue IT-Plattform für seine weltweite Produktion aufbauen. Roy Sauer, Leiter Enterprise und Plattform Architektur im Volkswagen Konzern, spricht von einem der größten Digitalprogramme in der Geschichte des Autobauers. Auch im Zusammenhang mit der Industrial Cloud sind die Ziele ehrgeizig. Bis 2025 will VW in seiner Fertigung um 30 Prozent produktiver werden.
Dafür gilt es die Systeme auf verschiedenen Ebenen miteinander zu verzahnen und zu integrieren, beschreibt Frank Göller, Leiter Digitale Produktion im Volkswagen-Konzern, die zentrale Herausforderung des Projekts. Zunächst gelte es die Konnektivität in und zwischen den Werken sowie den dortigen Produktionsanlagen und Maschinen herzustellen. In den darauffolgenden Schritten müssten Daten gesammelt und analysiert werden, um eine prädiktive Ebene in den Fertigungsprozessen einzuziehen und in der Endausbaustufe zu autonom arbeitenden Systemen zu kommen. "Doch da sind wir noch lange nicht", räumt Göller ein.
Das Vorhaben hat VW vor rund zwei Jahren gestartet. Im März 2019 wurde eine auf mehrere Jahre angelegte Kooperation mit Amazon Web Services (AWS) zum Aufbau der Industrial Cloud bekannt gegeben. Aktuell ist man dabei, die Konnektivität zwischen den einzelnen Bestandteilen herstellen. Drei Werke seien derzeit "onboard", berichten die beiden VW-Manager. Weitere 15 sollen im Laufe des Jahres dazukommen. Trotz Coronakrise sei man damit im Plan. Bis alle 124 Werke weltweit in der Industrial Cloud sind, ist nicht abzusehen. VW tastet sich langsam vorwärts. Aktuell werde ein Plan für kommendes Jahr erstellt.
Die Herausforderung liege auch darin, tausende von unterschiedlichen Maschinen an die Produktions-Cloud anzubinden, berichtet Göller. Einige Anlagen seien bereits fit dafür, für andere müsse man Krücken bauen. Ein wichtiger Partner, der an dieser Stelle mit seinem Wissen rund um Steuertechnik im Maschinen- und Anlagebau hilft, ist Siemens.
Volkswagen - erste Schritte in eine Plattform-Ökonomie
"Wir wollen eine offene Plattform bauen", beschreibt Sauer die Vision der VW-Verantwortlichen. Auch Zulieferer sollen sich hier mit einklinken. Dabei geht es vor allem um die Optimierung sämtlicher Supply-Chain-Prozesse. Gerade die Coronakrise habe an dieser Stelle Abhängigkeiten und Unzulänglichkeiten schonungslos aufgedeckt. Sauer will an dieser Stelle nicht von Zwang sprechen. Allerdings will man bei VW mit der Industrial Cloud eine zentrale Plattform als De-facto-Standard für die eigene Produktion schaffen - mit allen Konsequenzen für die angeschlossenen Zulieferer. Göller wirbt mit Win-Win-Szenarien für die Nutzung der VW-Plattform. Beispielsweise könnten Daten aus der Prüfung von Schweißpunkten den Herstellern von Schweißzangen dabei helfen, ihre Maschinen zu optimieren.
Was die Digitalisierung für die deutschen Autokonzerne bedeutet:
Sauer betont dabei den Plattformgedanken. Bei der Industrial Cloud handele es sich nicht um ein klassisches Rollout-Projekt. Der Aufbau einer Plattform dauere am Anfang länger, gewinne aber mit wachsender Nutzung an Geschwindigkeit und Dynamik. Erste Magneteffekte seien bereits erkennbar, beispielsweise seitens der Logistikkollegen im VW-Konzern, berichtet Sauer. Der Manager denkt außerdem über die Unternehmensgrenzen hinweg. So sei die VW-Produktionsplattform durchaus auch für andere Industrien interessant. Der Konzern führe bereits konkrete Gespräche. Namen wollte Sauer jedoch nicht nennen.
Auch in Sachen Automotive Cloud und VW.OS sieht man in Wolfsburg offenbar Potenzial für einen breiteren Plattformeinsatz. Senger spielt dabei auf die Anfänge von Linux an. Ein solches Projekt brauche zu Beginn einen starken Treiber. Wenn das Vorhaben aber einmal ins Rollen gekommen sei, böten sich verschiedenste Möglichkeiten - auch Kooperationen mit anderen Autobauern und Industrien.
Bis es soweit ist, wird VW jedoch noch eine Menge Entwicklungsressourcen in seine Cloud-Projekte investieren müssen. Die Rahmenbedingungen dafür sind derzeit alles andere als gut. Gerade die Automobilbranche bekommt die Auswirkungen der Coronakrise extrem zu spüren. Der Neuwagenabsatz in Europa und den USA ist in den vergangenen Monaten regelrecht eingebrochen. Auch wenn der so wichtige chinesische Markt zuletzt leichte Erholungstendenzen zeigte, bleiben die Prognosen für den weiteren Jahresverlauf insgesamt düster. Hilfe für die deutschen Autobauer ist nicht in Sicht, nachdem die Regierung in ihren Konjunkturpaketen die von der Industrie so vehement geforderte generelle Kaufprämie für Neuwagen unter den Tisch fallen ließ.
Dazu kommen hausgemachte Probleme. Das Geschäft mit den Verbrennern funktionierte in der Vergangenheit zu gut - so dass die deutschen Konzerne den Trend hin zu neuen Antrieben wie der Elektromobilität verschliefen. Das gilt auch für VW: Der Versuch der Wolfsburger, Boden gut zu machen, endete in einer peinlichen Pannenserie. Der ID.3, mit dem VW eigentlich im Markt für Elektromobilität reüssieren wollte, kommt wegen Softwareproblemen nicht aus den Werkshallen. Konzernchef Herbert Diess, der das Projekt zur Chefsache erklärt hatte, ist angezählt.
Interne Machtkämpfe könnten die so wichtigen Cloud-Vorhaben weiter schwächen. Markus Duesmann, der erst Anfang April als Vorstandsvorsitzender die Audi AG übernommen hatte, soll künftig auch die Verantwortung für das Entwicklungsressort und die Softwaretochter tragen, berichtete das "Handelsblatt". Wie das künftige Machtgefüge zwischen Diess, Duesmann und Senger aussehen wird, ist nicht abzusehen. Man könne dazu derzeit nicht offiziell Stellung beziehen, hieß es dazu im Konzern.
Forschungs- und Entwicklungsbudgets werden gekappt
Ob sich die ambitionierten Pläne VWs finanzieren lassen, bleibt abzuwarten. Mittlerweile zeichnet sich ab, dass die Coronakrise einer Umfrage des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) voll auf die Forschungsausgaben der Unternehmen durchschlägt. Knapp vier von zehn der 250 befragten Betriebe haben demzufolge ihre Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten reduziert oder sogar ganz gestoppt, hieß es in einem Bericht des Handelsblatts, das sich auf die Ergebnisse der Umfrage beruft. In der kriselnden Automobilindustrie seien es mittlerweile sogar vier Fünftel.
Wie sich das auswirken kann, haben BMW und Mercedes gezeigt. Die beiden VW-Konkurrenten lassen ihre geplante Zusammenarbeit für die Entwicklung der nächsten Technologiegeneration im Bereich automatisiertes Fahren vorerst ruhen. Aktuell sei nicht der richtige Zeitpunkt für eine Kooperation gegeben, hieß es zur Begründung. Als problematisch identifizierten die Verantwortlichen den Aufwand für die Entwicklung einer gemeinsamen technologischen Basis. Dazu kämen schwierige unternehmerische und konjunkturelle Rahmenbedingungen. Beide Konzerne betonten, eigene Initiativen und Plattformen mit Partnern verfolgen zu wollen. Eine Zusammenarbeit zu einem späteren Zeitpunkt sei weiterhin möglich, verlautete von Seiten der BMW- und Mercedes-Verantwortlichen. Soll wohl heißen: Wenn die Krise überwunden ist und die Zeiten wieder besser werden. Bloß wann?