Die "Lebensversicherung von 1871 a. G. München" (LV 1871) hat eine ungewöhnliche Geschichte. "Christkatholischer Begräbniß-Verein" lautet der ursprüngliche Name der Gesellschaft, die 1871, im Jahr der deutschen Reichsgründung, von Münchner Bürgern ins Leben gerufen worden war. Ziel der Selbsthilfeeinrichtung war es, allen Mitgliedern eine würdige Beerdigung zu ermöglichen - eine Sorge, die die Menschen damals umtrieb.
Aus diesen Wurzeln ist die LV 1871 entstanden, ein Versicherer, der auf Lebens-, Renten- und Berufsunfähigkeitsversicherungen spezialisiert ist und sich im Vertrieb auf ein Netzwerk von mehr als 8.000 Maklern und sonstigen Vermittlern verlässt. Ein langweiliges Business könnte man meinen - aber ein Gespräch mit IT-Chef Blenninger zeigt, dass bei der LV 1871 gar nichts langweilig ist, auch wenn die Kundenbeziehungen im Durchschnitt mit 35 Jahren eine kleine Ewigkeit andauern. Der Markt ist in Bewegung geraten, und die Klientel erwartet heute mehr vom Konzern als früher.
Das Mobiltelefon ist die wichtigste Kundenschnittstelle
"Um die digital veränderten Verhaltensweisen unserer Kunden vorwegzunehmen, müssen wir uns permanent bewegen", sagt der IT-Chef. Für die Klientel sei das Versicherungsprodukt an sich eine Selbstverständlichkeit, wichtiger seien heute schnelle Abläufe und die Möglichkeit eines einfachen Datenzugriffs. "Das Mobiltelefon ist zur wichtigsten Kundenschnittstelle geworden. Es geht darum, unsere Inhalte für ein 7-Zoll-Display aufzubereiten. Mobile first ist eines unserer wichtigsten Themen. Und die Frage: Wie schafft man es, die Reihenfolge der Bedienungsschritte so zu optimieren, dass sie vom Benutzer angenommen werden?"
Die Kunden wollen jederzeit mit ihrem Smartphone abfragen können, wo sie mit ihrer Altersvorsorge stehen. Sie wollen ihre Vertragskonditionen abrufen und auf Angebote aufmerksam gemacht werden. Insurtechs und Fintechs setzen hier neue Maßstäbe, an denen sich die alteingesessenen Player orientieren müssen. Außerdem gilt es, auch auf anderen Finanz- und Versicherungs-Apps und Websites präsent zu sein. "Digitale Anschlussfähigkeit ist ein wichtiges Thema", führt Blenninger aus, es werde Apps geben, über die Kunden ihre gesamten Bank- und Versicherungsportfolien einsehen und managen könnten. Hier müsse die LV 1871 offen in alle Richtungen sein.
Die elektronische Identität wird vieles ändern
Für ein Traditionshaus, das aus der Welt der Papierformulare kommt und das Thema Internet zunächst eher so nebenbei bewältigt hat, war die Umstellung der letzten Jahre gewaltig. Und die größten Veränderungen stehen noch bevor. Als Beispiel nennt Blenninger Adressänderungen im Kundenportal, die mithilfe der elektronischen Identität (eID) viel einfacher würden: "Zukünftig werden sich die Kunden über ihre eID in unserem Portal anmelden, dann geht die verifizierte Adressmitteilung direkt ins System. Das wird jeder machen - der eine früher, der andere später. Es wird eine enorme Erleichterung für unsere Kunden bringen."
Die LV 1871 braucht für ihr Kerngeschäft auch in Zukunft ein Kernversicherungssystem, das aber flexibler werden muss. Eine der wichtigsten Aufgaben ist die Modernisierung des Softwaremonolithen, der seit Mitte der 90er Jahre läuft. Schon Ende der 90er startete man dann das größte Java-Projekt Europas. "Unser Ansatz ist es, die immer noch großen Softwarekomponenten in kleinere Services zu zerlegen. So kommen wir aus diesem Dauerdruck heraus, dass wir ständig im Rahmen von Großprojekten von a nach b migrieren müssen."
Monolithische Systeme zeigen nach der Erfahrung des IT-Chefs die Tendenz, immer größer zu werden. "Irgendwann haben Sie dann einen Zustand erreicht, an dem so viele Jacken im Schrank sind, dass Sie keine mehr dazu hängen können. Spätestens dann müssen Sie ausmisten." Je länger Software im Betrieb sei und immer wieder angefasst und umgeschrieben werde, desto schwieriger werde auch die Wartung. Das sei einer der Gründe dafür, dass sich neue Paradigmen in der Softwareentwicklung herausgebildet hätten.
Grundlegender Umbau des Kernsystems
Für LV 1871 bedeutet das den grundlegenden Umbau des Core-Systems. Im Mittelpunkt steht dabei das Workflow-Management System "Camunda BPM", mit dem Geschäftsprozesse in BPMN 2.0 definiert und ausgeführt werden können. LV 1871 nutzt die kommerzielle Variante der Open-Source-Lösung, um sich Wartung und professionelle Unterstützung zu sichern. "In Zukunft wollen wir alles prozessgesteuert machen", sagt Blenninger. "Wir lösen die Intelligenz, die in den einzelnen Stücken Programmcode steckt, aus der Core-Anwendung heraus und packen sie in Services. Diese steuern wir über Workflows an und setzen eine Art Maske davor, über die man die benötigten Funktionen ansprechen kann."
Für den Versicherer kommt es darauf an, schnell neue digitale Produkte auf den Markt bringen zu können. Microservices und auch Cloud-Infrastrukturen sind die Mittel der Wahl, vorhandene Software wird nach und nach in Services zerlegt. "Diese dann in Versicherungsprodukte umzusetzen, das übernehmen unsere Fachabteilungen", so Blenninger. "Unsere Ausgabe in der IT ist es, die Voraussetzungen zu schaffen, dass dies möglich ist."
Wäre die Einführung einer Standardsoftware nicht die einfachere Alternative gewesen? Blenninger glaubt nicht, dass damit etwas gewonnen wäre. Alles, was der Markt derzeit hergebe, haben meist eine ebenso lange Historie wie das Kernsystem der Münchner und sei weit weg von Cloud Native. Aber natürlich werde auch die LV 1871 in Zukunft keineswegs alles selbst machen. Die Öffnung der Kernsoftware werde zur Folge haben, dass Services von anderen viel einfacher über APIs angedockt und integriert werden könnten. Das werde beispielsweise die Bankenschnittstellen betreffen, die mit der neuen Zahlungsdienste-Richtlinie PSD2 erforderlich würden, aber auch die digitalen Identitäten.
Cloud-Readiness hat Vorrang
Den Betrieb der Anwendungen verlagert Blenninger in die Hybrid Cloud: "Alles, was wir neu machen, ist Cloud-ready", sagt der IT-Manager, der sich die Wege in die verschiedenen Public-Cloud-Infrastrukturen von Amazon, Microsoft oder IBM offen halten möchte. Technologiebasis der vorhandenen Private Cloud ist derzeit "IBM Cloud Private", die Kubernetes-Plattform von Big Blue.
Sie macht das Modernisieren von Altanwendungen ebenso möglich wie das Erstellen neuer Cloud-Native-Lösungen und das flexible Verlagern von Container zwischen privater und öffentlicher Cloud. "Als wir uns entschieden haben, standen IBM Cloud Private und Red Hat OpenShift zur Auswahl. Nachdem nun IBM Red Hat übernommen hat, haben wir Zugang zu beiden Produktwelten", frohlockt der CIO.
Die Frage, alles on Premise vorzuhalten oder komplett in die Public Cloud zu wechseln, habe sich für die LV 1871 nie gestellt, so der IT-Macher. "Wir sind durch die DSGVO gebunden und auch durch Paragraph 203 des Strafgesetzbuches, der sich mit der Verletzung von Privatgeheimnissen beschäftigt. Wir haben es unter anderem mit hochvertraulichen Gesundheitsdaten der Versicherten zu tun, die besonders schützenswert sind. Da müssen wir ganz genau überlegen, welche Daten wir wohin schieben können."
Schon seit 2002 fühlt sich die LV 1871 auf dem Gebiet der agilen Softwareentwicklung zu Hause. Der damalige CIO Robert Weidinger, der das Unternehmen heute als CDO in die digitale Zukunft führt, begann seinerzeit mit der Einführung von Extreme Programming. Vier Jahre später nahm das erste Scrum-Team seine Arbeit auf, und 2013 setzte das Unternehmen, angelehnt an das SAFe-Framework, auf einen verbindlichen Rahmen für die gesamte agile Entwicklung. "Wir haben auch das Big-Room-Planning übernommen, wir sprechen intern von der Schlachtplan-Konferenz - zugegeben etwas martialisch", sagt Blenninger. Für große Vorhaben brauche man eben auch in agilen Zeiten einen Plan.
Alle müssen unter Agilität das Gleiche verstehen
"Heute haben wir nur noch agile Teams", auch die Kollegen im Infrastruktur- und Consulting-Bereich arbeiteten so. Wichtig sei dabei das unternehmensübergreifend gemeinsame Vorgehen in crossfunktionalen Teams, die flexibel je nach Aufgabenstellung zusammengesetzt würden und alle Unternehmensbereiche einbezögen. Dabei folgen alle den gleichen Leitsätzen und haben ein weitestgehend identisches Bild von Agilität im Kopf.
"2017 haben wir außerdem begonnen, alle Projekte so auszurichten, dass sie für unsere knappen IT-Ressourcen optimal geschnitten sind", erklärt Blenninger. Dank kurzer Projektzyklen und intensiver Zusammenarbeit mit dem Business in jeder Projektphase werde das akzeptiert.
Die LV 1871 hat ohnehin die Trennung zwischen IT und Fachabteilungen zumindest teilweise aufgehoben: "Wenn wir neue Themen bearbeiten, dann muss immer auch ein Fach-Owner am Tisch sitzen und jemand, der die Business-Brille aufhat und fragt: Was ist der Mehrwert dahinter?" Auch die Rolle des Architekten müsse besetzt sein, der die Einhaltung entsprechender Richtlinien beaufsichtige und Sorge trage, dass Vorhaben auf der vereinbarten Technologie- und Framework-Basis umgesetzt würden.
Gleiche Vorstellungen von der Deployment Pipeline
"Wenn wir sagen, wir wollen Cloud-ready sein, dann müssen wir die gleiche Idee davon im Kopf haben, was das bedeutet", sagt Blenninger. "Und wir müssen den Infrastructure-Stack gemeinsam auf ein höheres Niveau bringen. Unsere Grundvorstellungen von einer optimalen Deployment Pipeline müssen gleich sein. Wir halten uns an unsere Standards, und wenn wir etwas Besseres finden, dann machen wir das Fass wieder neu auf - aber zusammen im Konsent."
Der agile Umbau erfolgte demnach nicht von heute auf morgen. Die LV 1871 musste ständig nachjustieren und dabei nicht nur die IT, sondern das gesamte Unternehmen mitnehmen. "Wichtig war uns handwerklich solides Vorgehen", sagt der IT-Leiter. Man habe sogar Koryphäen wie Robert C. Martin (Uncle Bob), Kim Brainard oder Jutta Eckstein anreisen lassen, um Agilität mit entsprechender "Craftmanship" auf das gesamte Unternehmen und alle Projekte übertragen zu können.
Was heißt das für das Entwicklerteam? Blenninger: "Bei neuen Kollegen schauen wir vor allem darauf: Passen sie zu uns? Für uns ist das Kulturelle fast noch wichtiger als die technischen Skills. Die kann man lernen, aber die Einstellung, die Art und Weise wie wir denken, da muss man ein bestimmter Typ sein, eine gewisse Reife mitbringen und auch dir richtigen Werte haben, um in diesem Umfeld zu arbeiten."
Wasserfall ist Geschichte
Klassische Projektvorgehen anhand der Wasserfallmethode ist für die LV 1871 Geschichte. "Das ist betriebswirtschaftlich unglaublich ineffizient, man produziert ewig lange Leerlaufzeiten", moniert der CIO. Vor allem in der Phase, in der Dinge umgesetzt würden, müssten alle Beteiligten eng zusammenarbeiten. Bei dem Versicherer heiße das, dass Mitarbeiter aus dem Kundenservice auch einmal für ein paar Tage in der IT sitzen oder IT-Mitarbeiter in den Fachabteilungen, um Vorhaben schnellstmöglich auf eine höhere Qualitätsstufe zu bringen.
"Wenn man das Wort Ab-teilung mal richtig betont, dann zeigt sich schon, wo das Problem liegt: in den Gräben, die sich zwischen den Abteilungen bilden. Die werden vor allem sichtbar, wenn man auf die Ressourcen von einem anderen Bereich zugreifen will", sagt Blenninger. "Wenn heute noch jemand beleidigt ist, weil sie oder er Mitarbeiter loslassen muss, damit diese andere Aufgaben übernehmen können, dann ist das die falsche Denke." Indem sich die LV 1871 prozessorientiert aufstelle, bilde sie Teams um diejenigen herum, die Prozesse verantworten, optimieren oder in Software gießen.