Das Kerngeschäft der etablierten Automobilhersteller wird zunehmend durch neue Player bedroht, die zum Teil aus ganz anderen Branchen kommen. Google und Uber sind nur zwei prominente Beispiele. Einige Kritiker warnen schon, die klassischen OEMs könnten durch die disruptiven Veränderungen am Ende zu bloßen Hardwarelieferanten degradiert werden. Haben die deutschen Autobauer die Digitalisierung verschlafen?
Jens Monsees: Das sehe ich nicht so. Erstens haben wir ja eine ganze Menge Kompetenzen, etwa im Bereich Design. Zweitens ist das Bauen von Autos ein hochkomplexer Prozess und man hat in jüngster Zeit gesehen, dass sich Firmen, die nicht aus der Automobilbranche stammen, damit durchaus schwertun. Natürlich kommen jetzt neue Wettbewerber mit IT-Kompetenz in den Markt. Aber: Das Rennen ist noch offen. Digitale Dienste und Softwarelösungen im Auto erfordern eine Tiefenintegration ins Fahrzeug. Es genügt beispielsweise nicht, für das autonome Fahren einfach eine Box aufs Dach zu schrauben. Diese Systeme müssen in zentrale Fahrzeugfunktionen eingebettet werden. Das können die klassischen OEMs, allen voran BMW, sehr gut.
Wie schätzen Sie die Erfolgsaussichten von Uber und Google beim autonomen Fahren ein?
Jens Monsees: Wenn man sich vorstellt, wie der sogenannte On-Demand-Markt mit autonomen Fahrzeugen in der Praxis funktionieren soll, sind doch einige grundlegende Fragen zu beantworten. Bei Uber oder Lyft bringt ein Fahrer heute sein Fahrzeug mit, er sorgt für die Wartung, die Sicherheit, die Sauberkeit. Wer stellt diese Assets künftig für autonome Fahrzeuge bereit? Irgendjemand muss die ganze Flotte managen.
Nach Ihrer Vorstellung sollte das der Fahrzeughersteller übernehmen?
Jens Monsees: Das ist eine Option. Ein anderer Aspekt ist der Datenraum, sprich die anfallende Datenmenge in einem solchen Demand-Mobility-Konzept. Wir haben festgestellt, dass diese Daten zu 80 bis 90 Prozent identisch sind mit denen, die im Bereich autonomes Fahren entstehen. Wenn wir das autonome Fahren beherrschen, werden die Karten neu gemischt und es ergeben sich auf Basis dieser Datenbestände für uns viele neue Geschäftschancen. Das betrifft nicht nur das klassische Ownership-Modell, in dem wir Autos verkaufen, sondern auch Flottenmodelle. Wir können Flotte. Und wir können auch die Wartung vor Ort sicherstellen, weil wir in jeder größeren Stadt durch unser Händlernetzwerk vertreten sind. Hier lassen sich Services wie Reinigung oder Wartungsdienste erbringen. Die neuen Mobilitätsdienstleister müssen diese Infrastruktur erst aufbauen.
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Die Digitalisierungsstrategie der BMW Group
Wie sieht die Digitalisierungsstrategie der BMW Group aus?
Jens Monsees: Wir verfolgen grundsätzlich zwei Handlungsstränge: Zum einen die Digitalisierung des bestehenden Ownership-Geschäftsmodells, zum anderen die Entwicklung und den Ausbau neuer Geschäftsmodelle. Letzteren Bereich haben wir mit unserer "Now"-Familie schon erfolgreich in Angriff genommen. Dazu gehören beispielsweise DriveNow, ParkNow, ChargeNow oder ReachNow in den USA. Es gibt eine klare strategische Trennung zwischen dem jetzigen und dem sich entwickelnden zukünftigen Geschäftsmodell.
Welche Handlungsfelder sehen Sie im bestehenden Geschäftsmodell?
Jens Monsees: Wir unterscheiden hier einerseits die Bereiche Kunde und Services, die wir digitalisieren müssen. Dabei geht es um einen ganzheitlichen Ansatz über alle Kundenschnittstellen hinweg. Wir wollen dem Kunden zum passenden Zeitpunkt immer das relevante Produkt über den richtigen Kanal mit dem für ihn passenden Service anbieten.
Die andere Seite betrifft die Digitalisierung des Fahrzeugs. Wir sprechen hier vom Connected Car. Das bedeutet, dass wir zunehmend digitale Services im Fahrzeug anbieten. Beispiele sind Echtzeit-Verkehrsinformationen, Sicherheitswarnungen oder auch die permanente Update-Fähigkeit sämtlicher Devices, die im Auto verbaut sind.
Apple, Spotify, Google - wer kontrolliert die Kundenschnittstelle?
Mächtige Konzerne wie Apple oder Google setzen alles daran, eben diese Schnittstelle zum Kunden zu kontrollieren und am Ende selbst das Geschäft mit digitalen Services zu machen. Wie reagiert BMW darauf?
Jens Monsees: Ich sehe hier ein großes Differenzierungspotenzial für die BMW Group. Unser Ziel ist es gerade nicht, ein originäres Datengeschäft zu betreiben. Die Daten gehören zunächst einmal dem Kunden und sind entsprechend zu schützen. Natürlich wollen wir ihm relevante Angebote aufgrund seines Verhaltens anbieten. Beispiel: Sie fahren im Herbst auf einer Landstraße und die erste Schneeflocke fällt vom Himmel. Die sofortige Meldung aus dem Fahrzeug wäre etwa eine Warnung vor Glätte. Dahinter liegt aber viel mehr. Zum Beispiel könnte man dem Fahrer dazu gleich einen komfortablen Service für einen Wechsel auf Winterreifen anbieten, mit einer Online-Terminvereinbarung und in einer Werkstatt, die auf seinem Weg zur Arbeit liegt. An solchen Themen arbeiten wir, wenn es um fahrzeugnahe Services geht.
Wie gehen Sie mit den vielfältigen digitalen Angeboten etwa von Apple oder Spotify um?
Jens Monsees: Neben den fahrzeugnahen gibt es natürlich erweiterte Dienste. Die Kunden möchten heutzutage ihre digitale Lebenswelt mit ins Fahrzeug nehmen, also beispielsweise Musik hören. Um das anzubieten, muss die BMW Group nun aber nicht so ein Unternehmen kaufen. Es genügt eine standardisierte Schnittstelle für Drittanbieter, um solche Dienste ins Fahrzeug zu bringen. Mir ist wichtig, dass wir dabei agnostisch agieren. Die einen nutzen Spotify, die anderen vielleicht Apple Music. Wir dürfen uns nicht auf einen einzigen Anbieter beschränken. Dort wo die Kundenschnittstelle für uns relevant ist, sprich bei den fahrzeugnahen Services, machen wir die Dinge selbst.
Was bedeutet die Digitalisierungsstrategie für die internen Prozesse der BMW Group?
Jens Monsees: Das ist ein weiteres Handlungsfeld. Wir wollen unsere Prozesse mithilfe von Digitalisierung noch effizienter machen. Da geht es etwa um unsere Produktionsprozesse, Smart Logistics, Industrie 4.0 oder auch um Additive Manufacturing, das auch unter dem Begriff Rapid Prototyping - also 3D Druck bekannt ist.
Multiprojekt-Management statt klassischer Hierarchie
Haben Sie ein dediziertes Budget für Digitalisierungsthemen?
Jens Monsees: Wir haben für das gesamte Thema Digitalisierung finanzielle Mittel vorgehalten. Mit diesen Mitteln arbeiten wir bereichs- und abteilungsübergreifend, also cross-funktional. Wenn wir für ein Thema bestimmte Kompetenzen aus verschiedenen Bereichen brauchen, dann wird dieses Projekt übergreifend mit Experten aus der IT, einem Fachbereich und eventuell einem Support-Bereich ausgestattet.
Wir lösen uns zunehmend von starren Hierarchien und entwickeln ein sehr liquides Multiprojekt-Management. Dabei legen wir zunächst fest, welche Kompetenzen ein Projekt benötigt, sei es Data Analytics oder Cloud Computing, und welche Fachbereiche davon betroffen sind. Viele Digitalisierungsthemen ziehen sich durch mehrere Fachbereiche. Das war übrigens auch eine Überlegung bei der organisatorischen Verankerung der Digitalisierung. Macht nur eine Funktion Digitalisierung? Ich glaube, das wäre der falsche Ansatz. Wir brauchen Digitalisierung in jeder Faser des Unternehmens, also einen ressortübergreifenden Ansatz.
Viele Unternehmen, auch in der deutschen Automobilbranche, sehen in Digital Labs den Königsweg zur digitalen Transformation. Was halten Sie davon?
Jens Monsees: Ich habe solche Labs schon erlebt. Da steht dann ein Kicker im Raum und es herrscht eine ganz coole Loft-Atmosphäre. Aber die entscheidende Frage ist doch: Inwieweit wirkt eine solche Organisation irgendwo da draußen auf das Gesamtunternehmen? Ich plädiere dafür, dass man die digitale Transformation im täglichen "Doing" zusammen mit den Fachbereichen in Angriff nimmt. Natürlich erfordert das auch viele organisatorische Veränderungen. Das cross-funktionale, schnelle, agile und integrierte Arbeiten ist ja eine neue Form, die wir weiter ausbauen wollen.
Wie BMW den kulturellen Wandel schaffen will
Geht es um digitale Transformation, prallen nicht nur bei BMW unterschiedliche Kulturen aufeinander: Hier die jungen, agilen Digitalisierer, dort die klassischen IT-Verantwortlichen, die naturgemäß einen Großteil ihrer Ressourcen in einen stabilen IT-Betrieb investieren. Wie gehen Sie damit um?
Jens Monsees: Zunächst einmal hat sich unser Vorstandsvorsitzender Harald Krüger im Rahmen unserer Strategie "NUMBER ONE > NEXT" persönlich des Themas kulturelle Veränderung angenommen. Gemeinsam mit dem Vorstandsteam hat er fünf Kernwerte benannt, die den Rahmen unserer Zusammenarbeit definieren. In Maisach vor den Toren Münchens veranstalten wir über einen Zeitraum von drei Monaten Workshops für 14.000 Mitarbeiter und führen sie durch die verschiedenen Aspekte unserer Strategie. Dabei erklärt der Elektroingenieur unsere neuen E-Antriebe und der Softwareentwickler unsere neuen Dienstleistungen. Viele Manager nehmen wir mit in Diskussionen mit Startups, beispielsweise in Shanghai oder New York und natürlich im Silicon Valley. Wir öffnen uns sehr stark gegenüber den neuen digitalen Arbeitsweisen und integrieren diese Stück für Stück in unsere Organisation.
Welche neuen Werte hat Herr Krüger denn ausgerufen?
Jens Monsees: Es geht um die Werte Verantwortung, Transparenz, Offenheit, Wertschätzung und Vertrauen.
Das sind sehr allgemein formulierte Werte, die nicht unmittelbar auf das Thema Digitalisierung hindeuten.
Jens Monsees: Diese Werte sind mit konkreten Handlungsmaximen hinterlegt und werden entsprechend im Unternehmen transportiert. Sie unterstützen auch die digitale Transformation. Wichtig dabei ist: die Kultur und die Organisation müssen zu den veränderten digitalen Arbeitsweisen passen - Stichwort Agilität, Liquidität und Cross-Funktionalität. Deshalb freue ich mich, dass diese Initiative vom Vorstand getrieben, aber eben auch durch individuelle Trainings vermittelt wird. Es gibt beispielsweise inzwischen einen BMW Group Culture Club, der sehr fruchtbar arbeitet und auch Feedbacks bottom-up an das Topmanagement zurückspielt. Im Unternehmen gibt es eine Aufbruchstimmung und wir wollen dieses Momentum nutzen, um die Digitalisierung auf allen Ebenen voranzutreiben.
Innovation Management bei BMW
Innovationen sind der Schlüssel zu einer erfolgreichen Transformation. Wie treiben Sie das Thema Innovation Management voran?
Jens Monsees: Wir haben zum Beispiel ein neues Format etabliert, das ich "Netzwerk digital" nennen würde. Es verbindet die verschiedenen Unternehmensbereiche der BMW Group, sprich: hier kommen die Themen Kunde, Fahrzeug und Prozesse wieder zusammen. Ich treffe mich dazu jede Woche für zwei Stunden mit Führungskräften aus unterschiedlichsten Bereichen. Dieses Netzwerk arbeitet sehr agil; es bilden sich immer wieder neue Verbindungen, andere werden gekappt, wenn ein Thema abgeschlossen ist. Eine Datenstrategie beispielsweise zieht sich quer durch alle Bereiche.
Müssen Sie dabei nicht auch tief in die Kernprozesse eingreifen?
Jens Monsees: Das tun wir. Wir haben ja unsere großen Prozesse wie zum Beispiel Idea to Offer, den Weg von der Produktidee zum konkreten Angebot an den Kunden. Hier greifen natürlich auch viele Digitalisierungsthemen. Wir arbeiten unter anderem mit Augmented Reality, um ein 3D-Muster eines Fahrzeugs mithilfe einer Brille betrachten zu können, ohne gleich ein physisches Modell aus Ton zu fertigen. Hier hilft uns die Digitalisierung, schneller zu werden und mehr auszuprobieren.
Ein wichtiges Thema dabei ist die Trennung von Software und Hardware. In der Vergangenheit haben wir eine Komponente wie zum Beispiel eine Ölpumpe eingekauft und anschließend mit einem Softwarecode ausgestattet. Heutzutage trennen wir das physische Produkt, sprich die Hardware, von der Software und aktualisieren diese regelmäßig. Remote-Fahrzeug-Updates wird es künftig in allen neuen Fahrzeugen geben - ob nun MINI, BMW oder Rolls-Royce.
Sie sind jetzt seit einem Jahr für die Digitalisierungsstrategie der BMW Group zuständig. Was waren die größten Herausforderungen?
Jens Monsees: Die erste große Aufgabe war im Grunde, die Vision zu schärfen und mit der Ist-Situation abzugleichen. Digitalisierung zieht sich durch sämtliche Bereiche und alle im Unternehmen sind erst einmal hochmotiviert gestartet. Wir haben bei bestimmten Themen wie etwa Analytics gesehen, wo wir noch besser werden können und die Kräfte gebündelt. Heute verfügen wir beispielsweise über einen Spezialisten-Pool, der den Fachabteilungen hilft, kundenrelevante Datenschätze zu heben.
Ein anderer entscheidender Punkt war die Frage, wieviel wir eigentlich in Zukunft selbst machen wollen. Welche Kooperationen müssen wir eingehen? Die BMW Group ist als Unternehmen deutlich offener geworden. Es gibt mehr Schnittstellen nach außen, weil wir die digitalen Welten unserer Kunden im Auto spiegeln. Ich würde behaupten, dass wir in Sachen Connected Car weiter sind als alle anderen klassischen Automobilhersteller. Darauf sind wir stolz und bauen diesen Bereich weiter aus. In Zukunft werden wir immer stärker auf Kooperationen setzen.
Daimler, Volkswagen und BMW bündeln ihre Kräfte
In Sachen Kooperationen tut sich ja Erstaunliches in der deutschen Automobilindustrie: Erzrivalen wie Daimler, Volkswagen und BMW verbünden sich und bauen gemeinsam ein europäisches Schnelladenetz oder kaufen den Kartendienst Here. Was kommt da noch?
Jens Monsees: Lassen Sie sich überraschen, wir haben noch etliches im Köcher. Bei Here kooperieren die OEMs sowie weitere Partner, denn von hochpräzisen Karten haben wir alle etwas. Es ergibt beispielsweise keinen Sinn, wenn jeder OEM für das autonome Fahren das Rad neu erfindet. Man braucht dazu Data Center, Datenmodelle, Algorithmen, Sensorik, eine Parkinfrastruktur und vieles mehr. Das alles kann kein OEM für sich alleine lösen und am Ende sind diese Faktoren auch nicht markendifferenzierend. Das Differenzierende besteht zum Beispiel in der Art und Weise, wie ein Hersteller die neuen Angebote und Features ins Fahrzeug integriert und damit ein bestimmtes Fahrgefühl erzeugt.
Vor diesem Hintergrund wird schnell klar, welche Synergien sich mit anderen OEMs oder Partnern aus der IT-Branche ergeben können. Gemeinsam mit Intel und Mobileye haben wir beispielsweise eine skalierbare Architektur für das autonome Fahren entwickelt, die auch andere Hersteller nutzen und für ihre Zwecke anpassen können.
Zur Person: Jens Monsees, BMW Group
Jens Monsees ist seit Februar 2016 als Vice President Digital Strategy bei der BMW AG in München tätig und verantwortet dort die Digitalisierungsstrategie über alle Unternehmensbereiche. Zuvor war er zwei Jahre als Global CEO der Solution Group Digital Marketing und CDO im Arvato Board bei der Bertelsmann AG aktiv, wohin er nach sechs Jahren als Branding Director bei Google wechselte. Davor führte er als Brandmanager verschiedene Marken wie Milka, Fa und Toblerone in der Konsumgüterindustrie. Jens Monsees ist Diplom-Kaufmann mit Schwerpunkt Marketing und Innovations-Management der Universität Kiel / Rotterdam.