Vor 200 Jahren wurde der Roman "Frankenstein" von Mary Shelly veröffentlicht. Aus diesem Anlass setzt sich das von der Arizona State University koordinierte, globale "Frankenstein Bicentennial Project" mit der Relevanz des Textes in unserer Zeit auseinander und hat eine Neuauflage des Klassikers mit Annotationen für Wissenschaftler, Ingenieure und Schöpfer (Creators) und einigen Essays veröffentlicht.
Frankenstein
Wie moderne synthetische Biologen hat sich Viktor Frankenstein in Shellys Roman die Frage gestellt, wie aus nicht-lebenden, austauschbaren Bausteinen Leben geschaffen werden kann. Während synthetische Biologie mit DNA arbeitet, nutzte Frankenstein hierfür Elektrizität.
Kritiker des technischen Fortschritts interpretieren den Roman als Warnung davor, "Gott zu spielen" und stellen heute gerne einen Zusammenhang mit der Gentechnologie her. Die Lektüre zeigt aber, dass Frankensteins Kreatur erst dann zum Monster wird, als ihr Schöpfer seine Verantwortung ihr gegenüber nicht wahrnimmt. Insofern könnte der Roman als Aufforderung an Forschung und Politik gelesen werden, sich angesichts immer neuer technischer Möglichkeiten ethisch verantwortungsvoll zu verhalten.
Synthetische Biologie
Seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts setzten sich Physiker und Computerwissenschaftler mit der Frage auseinander, was Leben ist. Der Computerpionier Alan Turing widmete sich der theoretischen Biologie und veröffentlichte 1952 eine Arbeit, die ein Modell beschreibt, das heute zur synthetischen Biologie gezählt wird.
In den späten 1980er Jahren prägte der Wissenschaftler Chris Langton den Begriff "Artificial Life" beziehungsweise ALife. Heute wird Artificial Life als interdisziplinärer Ansatz verstanden, der die essenziellen Eigenschaften von Leben untersucht. Er versucht, Leben durch die Erzeugung einfacher, synthetischer Lebensformen zu verstehen. Diese "lebten" im Computer ("Soft ALife") oder als Roboter ("Hard ALife").
Die Jahrzehnte nach der Entdeckung der DNA im Jahr 1953 waren zudem davon geprägt, ihre genaue Funktionsweise zu verstehen, Genome zu sequenzieren und zu manipulieren. Um die Jahrtausendwende wurden die ersten wissenschaftlichen Publikationen veröffentlicht, die dem Feld der synthetischen Biologie zuzurechnen sind ("Wet ALife"), erläutert Max Mundt, Vice President und Co-Founder der German Association for Synthetic Biology (GASB e.V.).
Ihren ersten Höhepunkt erreichte die synthetische Biologie, als es Craig Venter 2010 gelang, eine komplett synthetische DNA-Sequenz zu erzeugen, sie in den Kern einer Wirtszelle einzupflanzen und so einen lebensfähigen Organismus hervorzubringen. Damit war der Beweis erbracht, dass Leben von Menschen programmiert werden kann. Venters Unternehmen Celera hatte um die Jahrtausendwende als erstes das menschliche Genom sequenziert.
Max Mundt erläutert, dass die synthetische Biologie um ein tiefes Verständnis biologischer Systeme ringe und vieles noch in der Grundlagenforschung stecke. Aber es gäbe auch wichtige Fortschritte. Insbesondere profitiere die Arbeit im Labor von der Standardisierung und Digitalisierung der Biologie und habe Abläufe stark vereinfacht und beschleunigt. So könnten mehr Systeme in kürzerer Zeit getestet werden. Aber große Herausforderungen blieben bestehen: Trotz Standardisierung sei die Biologie nach wie vor sehr komplex und nur in wenigen Fällen könne genau vorhergesagt werden wie sich zum Beispiel ein "genetischer Schaltkreis" verhalte, wenn er in ein Bakterium eingebracht werde.
Ein Ansatz zur Vereinfachung sei laut Mundt der Versuch, eine Minimalzelle zu bauen. Das ist eine autonome Zelle mit einer minimalen Zell- beziehungsweise Genomgröße. Oft komme es dabei zu Komplikationen: Zellen, die darauf programmiert wurden, einen bestimmten Stoff herzustellen, verlieren diese Eigenschaft meist nach einer gewissen Zeit, da dieser künstliche Prozess für die Zellen vor allem eines bedeute: Stress. Mutationen, die den Stress reduzieren, hätten beste Chancen, sich durchzusetzen. Künstliche Systeme mit der Evolution in Einklang zu bringen sei daher eine weitere Herausforderung.
DIY Biologie und Biohacking
Nicht nur in Universitäten und Forschungslaboren setzen sich Menschen mit synthetischer Biologie auseinander. Bezahlbare Labortechnik, kreative Ansätze und billige Computertechnologie ermöglichen es, dass sich Do-it-yourself (DIY)-Enthusiasten und Biohacker mit synthetischer Biologie beschäftigen. Sie folgen Viktor Frankenstein, der wohl als Vorbild aller Biohacker gelten kann.
In den USA bieten Projekte wie Biobricks und BioBuilder genetische Baukästen und Lehrmaterial für Schüler an. Als großer Erfolg kann der internationale iGEM-Wettbewerb gesehen werden, bei dem jährlich Studententeams aus der ganzen Welt austauschbare biologische Standardteile und molekular-biologische Techniken für die synthetische Biologie entwickeln.
Dieses Jahr hat ein Marburger Team im iGEM Wettbewerb den Hauptpreis in der Kategorie "Overgrad" gewonnen - dicht gefolgt vom Team der TU München. Laut Max Mundt weisen die Erfolge deutscher Teams im iGEM-Wettbewerb auf die große Stärke der synthetisch-biologischen Wissenschaft in Deutschland hin.
Das Marburger Team hat alle wichtigen Labormethoden auf das Bakterium Vibrio natrigiens übertragen, das bis zu dreimal schneller wächst als das in der Forschung üblicherweise genutzte Kolibakterium (Escherichia coli). Die Ergebnisse und Protokolle sind frei zugänglich. Sie können von anderen Laboren genutzt werden und so das molekularbiologische Arbeiten im Labor beschleunigen.
Startups
Die rasante technische Entwicklung bietet auch zunehmend die Möglichkeit, Startups außerhalb des etablierten Wissenschaftsbetriebs und der Großunternehmen zu gründen.
In München eröffnete das Innovationszentrum der Technischen Universität München 2018 die Bio.Kitchen, ein öffentlich zugängliches Biotech-Labor. Mitgründer und Laborleiter Rüdiger Trojok hat ein Buch mit dem Titel "Biohacking - Gentechnologie für alle" veröffentlicht. Er ist zudem Mitautor des Arbeitsberichts "Synthetische Biologie - die nächste Stufe der Bio- und Gentechnologie" des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag.
Trojok fasst die Zielsetzung zusammen: "Das DIY-Labor soll es Studenten, Startups und etablierten Unternehmen ermöglichen, auf Basis aktuell geltender Regularien neue biotechnologische Ansätze und Ideen auszuprobieren, zu testen und weiterzuentwickeln." Insbesondere die medizinische Forschung solle davon profitieren, zum Beispiel durch neue Therapieansätze gegen multiresistente Keime.
Trojok bestätigt das gewaltige Potenzial von synthetischer Biologie, und verweist auf den wirtschaftlichen Erfolg Craig Venters. 2011 übernahm Quest Diagnostics das damals finanziell angeschlagene Celera für 671 Millionen Dollar.
Während die USA einen pragmatischen Ansatz verfolgten, bei dem die Grenzen zwischen Gentechnologie und synthetischer Biologie verschwimmen, werde in Deutschland primär Grundlagenforschung betrieben. Es gibt laut Trojok jedoch auch Verfahren, die nicht unter die Regelungen des Gentechnikgesetzes fallen, da hier keine vermehrungsfähigen Zellen zum Einsatz kommen: Neuartige Proteine lassen sich beispielsweise biochemisch in zellfreien Systemen produzieren. Die DNA hierfür wird am Computer entworfen und dann "ausgedruckt".
Wird es auch hier bald einen Startup-Boom geben? Ein erster Hinweis dafür könnte sein, dass sich Venture-Capital-Firmen auch in Deutschland mit dem Thema auseinandersetzen. So führte die Berliner BlueYard Capital eine Veranstaltung "Operating Systems for Life" durch, um über die Möglichkeiten zu diskutieren, Leben zu schreiben ("author life").
Hampus Jakobsson, Venture Partner bei BlueYard Capital, sieht die hohe Relevanz synthetischer Biologie. Sie habe sich in den letzten Jahren etabliert und werde nun von der Venture-Capital-Szene entdeckt.
BlueYard organisiert zwei bis drei solcher Events im Jahr, um mehr über dieses Thema zu lernen. Die beste Vorgehensweise sei dabei, dies im offenen Diskurs mit Vordenkern und Branchenpionieren zu tun.
So sprach etwa Lynn Rothshild von der amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA auf dieser Veranstaltung. Sie denke unter anderem darüber nach, wie synthetische Organismen dabei helfen könnten, den Mars zu besiedeln. Aber es gibt auch deutlich greifbarere Anwendungsmöglichkeiten für die synthetische Biologie.
Sie kann:
mit neuen Lebensformen zur effizienten Nahrungsmittelversorgung beitragen. Aktuell wird weltweit intensiv daran gearbeitet, Fleisch künstlich zu erzeugen. Vor dem Hintergrund der wachsenden Weltbevölkerung, zunehmenden Fleischkonsums und beschränkter Anbau- und Weideflächen könnte so die zukünftige Versorgung der Weltbevölkerung mit Nahrungsmitteln sichergestellt werden;
dabei helfen, die CO2-Emissionen zu kompensieren und damit zur Eindämmung des Klimawandels beitragen. Umgekehrt können neue Lebensformen geschaffen werden, die den sich ändernden Lebensbedingungen trotzen können;
neuartige Therapien in der Medizin ermöglichen, zum Beispiel die Heilung von bakteriellen Krankheiten ohne Antibiotika. Künstliche Organismen könnten Organe hervorbringen, die in Menschen transplantiert werden könnten, ohne abgestoßen zu werden.
Craig Venter geht davon aus, dass der erste Billiardär der Welt ein Synthetic-Life-Unternehmer sein wird. Vielleicht hofft er als Gründer von Celera selbst darauf.
Hampus Jakobsson sieht ebenfalls das Potenzial synthetischer Biologie, weist aber auch auf die Risiken hin. Wissen wir wirklich, was wir da schaffen? Die Auswirkungen auf Ökosysteme könnten gewaltig sein und zu irreparablen Schäden oder nicht absehbaren Folgeproblemen führen.
Europa im Wettbewerb
Angesichts dieser Potenziale stellt sich auch die Frage nach der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands oder Europas.
Max Mundt von der GASB weist darauf hin, dass es weltweit unterschiedliche Herangehensweisen gebe. In den USA sei die synthetische Biologie im Prinzip erfunden worden und zwar nicht von Biologen, sondern von Ingenieuren, die ihre Denkmuster auf biologische Systeme übertragen hätten.
Als der wissenschaftliche Nutzen deutlich wurde, hätten Forscher in Europa viele Prinzipien aufgegriffen, allerdings zumeist ausgebildete Biologen und nicht Ingenieure. Mundt denkt, dass China dann noch etwas später auf das Thema aufmerksam wurde, als der wirtschaftliche Nutzen deutlich wurde und das Investment in den Bereich (vor allem in den USA) wuchs.
Was synthetisch-biologische Wissenschaft angehe, sei Deutschland sehr stark, auch wenn sich nicht alle Forscher, die sich auf diesem Gebiet bewegen, als "synthetische Biologen" bezeichnen würden. Was die wirtschaftliche Umsetzung angehe, hinke Deutschland (wie in anderen Bereichen) allerdings den USA hinterher. China werde ständig stärker, was nicht verwunderlich sei. Die laxere Gesetzgebung ermögliche dort auch Forschungsprojekte, die andernorts umstritten oder unmöglich seien.
Die starke Regulierung in Europa sei ein Problem. Vieles sei zwar nicht verboten, aber doch nur sehr schwer umzusetzen. Als Beispiel nennt er das EuGH-Gesetz zu CRISPR: Hier sei entschieden worden, dass Pflanzen, die mit der CRISPR-Genschere editiert wurden, als genetisch veränderte Organismen (GVO) einzustufen seien - selbst, wenn keine Fremd-DNA eingefügt wurde.
Abgesehen davon, dass es unmöglich sei, diese Pflanzen von solchen zu unterscheiden, die auf "traditionelle" Weise gezüchtet wurden, fördere man damit auch die Vormachtstellung von Großkonzernen. Nur diese seien in der Lage, die langwierigen und teuren Zulassungsverfahren zu bezahlen. Hier sei eine Chance vergeben worden, die man in anderen Teilen der Welt besser nutzen werde.
Hampus Jakobsson von BlueYard Capital stellt ebenfalls fest, dass die Wissenschaftler in den Ländern unterschiedliche Bedingungen vorfänden. Die Differenzen beträfen die Eigentumsrechte an Forschungsergebnissen genauso wie die finanzielle Unterstützung ambitionierter Projekte. Im Hinblick auf Risikokapital hätten die USA einen großen Vorteil, während China über bessere Rahmenbedingungen verfüge, Forschungsergebnisse in den Markt zu bringen. Hier sieht er Europa im Nachteil, weist aber darauf hin, dass man von anderen lernen könne.
Ausblick und ethische Implikationen
Leben künstlich zu erzeugen, birgt das Risiko, dass sich eine gefährliche künstliche Lebensform unkontrolliert verbreitet. Es ist schwer absehbar, wie sich Mutationen weiter verändern und welche Auswirkungen sie auf das globale Ökosystem oder einzelne Spezies wie den Homo Sapiens haben werden. Das von dem Nanotechnologie-Pionier Eric Drexler formulierte Szenario, dass die Nanotechnologie die Erdoberfläche in eine "Grey Goo" verwandeln könne, ist auch für die synthetische Biologie denkbar.
Über diese Risiken hinaus stellen sich noch weitere Fragen. Wollen wir überhaupt, dass von Menschen geschaffene Lebewesen die Erde bevölkern? Sollen unsere Nachkommen in einer solchen Welt leben? Diese Fragen beleuchtet Christopher J. Preston in seinem Buch "Synthetic Age" kritisch: Was heißt es für Menschen, in einer zunehmend künstlichen Welt zu leben?
Was bedeutet es, wenn künstliches Leben Teil des menschlichen Körpers wird? Was ist, wenn künstlich hergestellte Lebewesen Ersatzteile für Menschen liefern? Dieses Thema behandeln Stanislaw Lem in der Science-Fiction-Kurzgeschichte "Gibt es Sie, Mr. Jones?" und Kazuo Ishiguro in dem Roman "Alles was wir geben mussten".
Welche Herausforderungen kommen auf uns zu, wenn der Mensch soweit künstlich wird, dass sich plötzlich Fragen nach dem Eigentumsrechten stellen? Dass Unternehmen bereits heute Patente auf das Genom von Menschen beanspruchen, wird im Buch "Who owns you?" von David Koepsell genau beschrieben.
Wie aktuell das Thema ist, zeigen die Nachrichten, wonach chinesische Wissenschaftler das Genom von Zwillingen verändert haben, um diese gegen HIV resistent zu machen. Klar ist, dass die von Mary Shelly vor 200 Jahren formulierte Warnung mehr denn je ernst zu nehmen ist: Wir müssen ein ethisches Verhalten von Forschern und Politikern einfordern, wenn wir nicht von den Folgen des künstlichen Lebens bedroht werden wollen.