Die Erklärung ist einfach: Unternehmen verstehen nicht, wie ihre Beschäftigten arbeiten. Vernetztes Arbeiten, in der aktuellen Fachsprache gerne als Social Collaboration oder Social Business betitelt, ist in aller Munde. Unternehmen versprechen sich von Social Software eine bessere Zusammenarbeit und einen reibungslosen Wissenstransfer ihrer Mitarbeiter über mehrere Standorte hinweg. Teams und Kunden sollen sich leichter zusammenfinden, um gemeinsam an Projekten zu arbeiten. Das erklärte Ziel lautet, durch klugen Austausch die Produktivität zu fördern. Problem nur: Viele ITler verstehen zu wenig von der tatsächlichen Arbeit.
Mit einer Social-Media-Plattform allein lässt sich noch keine gelungene Teamarbeit aus dem Hut zaubern. Entscheidend ist es, die Informations- und Wissensvermittlung im Unternehmen zu sehen und zu verstehen. Sie ist das Zünglein an der Waage, damit sich Produktivität durch einen vernetzten Arbeitsstil überhaupt entwickeln kann.
Kann IT Kommunikation abbilden?
Einige Experten sind sogar der Meinung, dass sich das, was in Firmen kommunikativ abläuft, überhaupt nicht in IT abbilden lässt. Einer von ihnen ist Ulrich Klotz, Informatiker und Arbeitswissenschaftler, ehemals beim IG-Metall-Vorstand tätig: "Die meisten Informationssysteme beruhen auf formellen Arbeitsabläufen, nicht aber auf den informellen Verfahren, die zur Erledigung der Arbeit notwendig sind. Damit verschlechtern sie oft die Situation, statt sie zu verbessern."
Ein hartes Urteil, für das es Gründe gibt: In den 90er Jahren diskutierte man in diesem Zusammenhang das Produktivitätsparadox. Immer wieder stellte man fest, dass viele Menschen ganz anders arbeiten, als Planer und Programmierer dachten. Das Grundproblem, dass viele ITler zu wenig von der tatsächlichen Arbeit verstehen, existiert auch heute noch. "Deren Vorstellungen und Modelle sind oft ziemlich naiv", so das kritische Fazit von Klotz.
Was zählt, ist die Tätigkeit
Dass allzu formell angelegte Arbeitsabläufe wenig Wissenstransfer unterstützen, merken viele Firmen spätes-tens dann, wenn die Mitarbeiter auf externe Cloud-Tools wie Dropbox ausweichen: "Mitarbeiter, die von der IT ein zu starres Korsett aus Prozessen und Aufgabenlisten angelegt bekommen, können darin nicht mehr produktiv sein. Da sie ihre Arbeit selbstbestimmt organisieren möchten, suchen sie sich Wege, über die das gelingen kann. Für sie zählt das, was sie leisten, nicht der Ablauf, dem sie gerecht werden müssen", meint Helmut Heptner, Geschäftsführer des Softwareunternehmens Comindware, das über adaptives, flexibles Workflow-Management neue Wege der Arbeitsunterstützung einschlägt.
Wissen ist Macht
"Die Technik kann beispielsweise abbilden, wie in Prozessabläufen formal gearbeitet wird. Wenn man aber genau hinschaut, stellt man schnell fest, dass die Mitarbeiter gar nicht nach diesen formalen Regeln arbeiten. Manche Firmen existieren doch nur noch, weil es Mitarbeiter gibt, die sich nicht immer an Vorschriften und formale Regeln halten", stichelt Arbeitswissenschaftler Klotz.
Diese Aktivitäten jenseits der formalen Regeln zu berücksichtigen und für die Produktivität nutzbar zu machen - genau darin setzten viele Softwareanbieter seit den Anfängen des Web 2.0 große Hoffnungen. Blogs, Communities, die gesamte Klaviatur der sozialen Vernetzung soll das bisher unstrukturierte Wissen aus allen Ecken des Unternehmens einfangen und in den Geschäftsprozessen bereitstellen. So der Plan. Doch in der Realität gehen kollaborative IT-Lösungen und Produktivitätssteigerung durch besseren Wissenstransfer einfach nicht zusammen. Weil sich mit dem Einsatz von Technologie nicht automatisch Wissensarbeit einstellt, wie Klotz betont: "Die IT-basierte Kommunikation scheiterte bisher oft, weil IT-Fachleute leichtgläubig annehmen, dass Wissen wie Wasser sei. Man müsse nur die richtigen Kanäle bauen, damit es überall hinfließen kann." Tatsächlich sei aber das Gegenteil der Fall: "In den meisten Unternehmen wird Wissen nicht bereitwillig weitergegeben, denn sie haben nach wie vor Strukturen, in denen gilt: Wissen ist Macht."
Mit einem Mix aus klassischen Top-down-Strukturen und neuen kollaborativen IT-Konzepten kommt man also in puncto mehr Produktivität durch echten Wissenstransfer nicht vom Fleck. "Wissensarbeiter brauchen eine ganz neue Art der Prozessunterstützung. Die IT kann dabei von zu viel Routine entlasten und für eine hohe Vernetzung sorgen", so Heptner.
Alles andere ist eine Frage der Unternehmenskultur. Arbeiten hier alle Beteiligten über Social Software auf Augenhöhe miteinander und missbrauchen die Technologie nicht für Herrschaftswissen, fließt Wissen richtig und gibt neuen Ideen viel bessere Chancen.
"Solange die Informationstechnik auf ungeeigneten Strukturen aufsetzt, bleibt innovationsfördernder und wertschöpfender Wissensaustausch eine Illusion, und die Unternehmen gehen früher oder später an den Verhaltensweisen zugrunde, die durch die IT nur verstärkt wurden", warnt Klotz.
Verkrustete Software-Landschaften
Während Experten für Wissensarbeit die Ursachen für die Produktivitätshemmnisse vor allem in falsch gesetzten Prioritäten und ungeeigneten Unternehmenskulturen sehen, orten Spezialisten für Business-IT-Systeme die Probleme an anderen Stellen. So seien auch verkrustete Softwarelandschaften daran schuld, dass sich bisher keine produktiveren Formen der Zusammenarbeit etablieren konnten, sagt Andreas Stiehler vom Analystenhaus PAC: "Mit omnipräsenten ERP-Anwendungen auf der einen und etablierten Kommunikationsplattformen auf der anderen Seite haben sich Unternehmen große Inseln aufgebaut, die nicht die Bedürfnisse für moderne Wissensarbeit befriedigen konnten."
Klassische Geschäftsanwendungen sind für spezielle Aufgaben wie Warenwirtschaft, Unternehmensplanung oder Lieferketten-Management ausgelegt. Was ihnen jedoch fehlt, sind Möglichkeiten zur Verknüpfung formaler Prozessschritte mit informellen Aufgaben.
Lange setzten die IT-Anbieter auf herkömmliche Methoden des Business-Process-Managements (BPM), um Sachbearbeitern und Knowledge-Workern einen strukturierten Ablaufrahmen für die Bearbeitung von Geschäftsprozessen außerhalb der monolithischen ERP-Systeme zu liefern. Doch bei komplexen Prozessen mit großem Kommunikationsanteil und nicht vorhersehbaren Arbeitsschritten kamen auch solche Metaapplikationen mit ihrer starren Formularorientierung schnell an ihre Grenzen. Neue Impulse gab hier der Social-Collaboration-Boom der letzten Jahre, der inzwischen ganz neue Produktentwicklungen im Geschäftsprozess- und Aufgaben-Management anzustoßen vermochte. So existieren insbesondere im Prozess-Management ganzheitliche Lösungen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie eine zusätzliche Integrationsschicht über die etablierten Prozessschichten legen. Laut Stiehler (PAC) geschieht dies üblicherweise in Form einer Portalplattform, die sich in aller Regel aus folgenden drei Ebenen zusammensetzt:
Dem User Interface, das auf Rolle und Bedarf der Mitarbeiter zugeschnitten ist;
der Business(-Prozess)-Logik, die an den Bedarf des Unternehmens angepasst wird und unabhängig von der klassischen Prozessanwendung läuft;
Datenbank und Business Intelligence, die die Sammlung, Aufbereitung und Analyse aller verfügbaren Informationen aus unterschiedlichen Datenquellen ermöglichen.
Mit der Entwicklung derartiger Softwareplattformen gewinnt Wissensarbeit weiter an Bedeutung, gibt sich Comindware-Chef Heptner überzeugt: "Früher galt Wissensarbeit als unstrukturiert, schwer steuerbar und ihr Beitrag für das Business als schwer greifbar. Die heutigen Tools machen auch kommunikations- und wissens-lastige Prozesse handhabbar und messbar. Sie bilden daher für den Erfolg wissensorientierter Geschäftsmodelle ein zentrales Werkzeug."
BPM-Alternativen: Prozess-Management in der Ära der Wissensarbeit
Viele Unternehmen setzten bei der Optimierung von Geschäftsprozessen auf klassisches Business-Process- Management (BPM). Derartige Tools verlieren aber an Bedeutung in einer sich wandelnden Arbeitswelt, in der Produktionsarbeitsplätze weniger werden und Wissensarbeit zunimmt. An ihre Stelle treten agilere Workflow-und Prozessplattformen, die Forrester Analyst Craig Le Clair wie folgt charakterisiert:
Flachere Hierarchien und eine Zunahme unstrukturierter Arbeitsmuster: BPM-Prozessmodelle basieren auf hierarchisch organisierten Management-Modellen. Für eine veränderte Arbeitswelt mit flachen Organisationen eignen sich Social-Collaboration-Tools besser. Sie ermöglichen eine unstrukturierte Peer-to-Peer-Kommunikation, die Aufgaben und Informationen in den Prozesskontext stellt.
Bessere Kontrolle der Prozesse und Auditierbarkeit: Traditionelles BPM mit starr strukturierten Eingabemasken und Formularen passt nicht zu komplexeren Aufgaben. Sobald Ausnahmen vom Standardablauf auftreten, müssen Mitarbeiter auf inoffizielle Mittel wie E-Mails, Notizen, Excel-Arbeitsmappen und Telefonate ausweichen. Neuere Ansätze zur Workflow- und Prozessautomatisierung ermöglichen durchgängigen digitalen Zugriff auf alle mit dem Prozess verknüpften Dokumente.
Flexibilität, um Ungewissheiten zu managen: Anders als in BPM-Prozessen bieten Tools für adaptives Workflow- und Prozess-Management den Anwendern mehr interaktive Möglichkeiten. Ihre Stärke besteht darin, mit Ungewissheiten im Rahmen eines kontrollierten Prozesses umzugehen. Unternehmen lernen so besser, mit Unvorhersehbarem umzugehen, statt zu versuchen, es zu eliminieren.