E-Mail-Flut

Wo ist der Gurkenschäler?

03.06.2002 von Lars Reppesgaard
"Auf Sie warten 300 neue Nachrichten." Zwei Tage reichen oft, um in E-Mails zu ertrinken. Viele davon sind total unwichtig - etwa tagelange Fahndungen nach verlorenem Küchenzubehör. CIOs müssen Strategien zur Kanalisierung der Flut digitaler Briefe entwickeln.
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Seit Stefan Höll aus dem Osterurlaub zurück ist, kann auch er ein Lied vom Leid mit dem digitalen Briefkasten singen: "Ich weiß beim besten Willen nicht mehr, wie viele E-Mails ich am Montag am Stück lesen musste; aber es waren Dutzende", sagt der Leiter Systeme und Prozesse im Allgemeinen Einkauf bei Alcatel SEL.

Höll ist kein Einzelfall. Die E-Mail-Flut stellt in den meisten Unternehmen ein Problem dar. Der Info-Müll, mit dem sich die Mitarbeiter herumschlagen müssen, besteht aus riesigen Dateianhängen, der x-ten Kopie eines von einem zum anderen geschickten Reports oder überflüssigen Rückantworten. So suchte eine Layouterin eines großen Verlagshauses vor kurzem via E-Mail an alle ihren in der Flurküche verschwundenen Gurkenschäler. Zahlreiche Witzbolde antworteten - wiederum mit Durchschlag an die gesamte Belegschaft und begleitet von Dutzenden wortreicher Beschwerden. An Arbeiten war dabei kaum zu denken.

"Als Rekordhalter gilt bei mir eine Mail von einem Manager, die insgesamt fünf weitergeleitete Nachrichten im Anhang hatte, die ihrerseits mehrere weitergeleitete Mails und Winword-Dokumente mit eingebetteten Outlook-Mails enthielten", so ein Mitarbeiter von Fujitsu Siemens. Die Hälfte der mitgeschickten Mitteilungen hatte er bereits auf anderen Wegen erhalten. "Es war mühselig herauszufinden, welche der Mails ich noch nicht kannte."

Der Stress steigt, die Effektivität sinkt

Hinzu kommen 1000fach kopierte Witze, Werbe-Mails und Kettenbriefe mit Geschäftsideen. Sie alle kleistern die digitalen Briefkästen derart zu, dass Ralph Siepmann, Technical Architect der IBM-Tochter Lotus Notes, sagt: "In der Weise, wie sie heute benutzt wird, ist die E-Mail der Feind von Wissensmanagement und Arbeitseffektivität."

Die Aufgabe, als Kommunikationsmittel schnell und ohne Rücksicht auf Entfernung Inhalte zu übermitteln, erfüllt die E-Mail indes noch immer. Und dass es ohne sie nicht geht, ist auch klar. Schon vor zwei Jahren wies Ferris Research nach, dass Büroarbeiter durch den Einsatz von E-Mails produktiver sind - um 381 Arbeitsstunden pro Jahr oder durchschnittlich 12919 Dollar. Schließlich entfielen Tätigkeiten wie Adressierung und Kuvertierung oder die Bedienung des Faxgeräts. Doch schon damals gingen pro Nutzer auch 115 Stunden Arbeitszeit, sprich 3919 Dollar verloren, etwa durch das sinnlose Klicken des "Cc"-Knopfs, der Mail-Kopien erzeugt.

Bis heute hat sich die Situation noch verschärft: E-Mails sind ein Stressfaktor geworden. Das fand die Universität Erlangen-Nürnberg im Auftrag der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in der Untersuchung "Informationsflut am Arbeitsplatz" heraus. Jeder 10. der 700 Befragten gab an, davon "sehr gestresst" zu sein. So unangenehm das im Einzelfall ist - noch schlimmer sind die Folgen für die Firma. Der Würzburger Wirtschaftspsychologe Klaus Moser ist überzeugt, dass Stress ein Grund für steigende Fehlzeiten in den Betrieben sei. Dabei erwartet die Meta Group in den nächsten fünf Jahren einen Anstieg des Mail-Volumens um jährlich zehn Prozent.

Filter gegen Mail-Schwemme

Schuld an den Mail-Massen sind häufig unzureichende Kommunikationsregeln. "Es gibt keine Frage nach dem Warum", kritisiert Lotus-Experte Siepmann. "Firmen brauchen eine Strategie, wofür E-Mails da sein sollen." Beispiel: Oft werden sie als Werkzeug zum Projektmanagement eingesetzt, sind dafür aber schlechter geeignet als ein Mitteilungsbrett im Intranet.

Abhilfe könnten klare Dienstanweisungen schaffen. Derjenige, der diese Richtlinien aufstellen muss, ist der CIO. Firmenpolitik sollte sein, dass E-Mails als das gekennzeichnet werden, was sie sind. Bereits in der Betreffzeile muss erkennbar sein, ob sie einen Cartoon oder einen Projektbericht enthalten. Alle dafür relevanten Dokumente lassen sich besser im Intranet in virtuellen Werkräumen - bei Lotus Notes die "Shared Places" - organisieren und zugänglich machen. Außerdem raten Experten, Mitarbeiter im Umgang mit Mail-Programmen zu schulen, sodass sie Ordner für Privat- oder Projekt-Mails anlegen und der Software das Sortieren überlassen. Auch der Einsatz von Filtern wie Webwasher kann die Mail-Flut stoppen. Sie blockieren etwa werbliche Mails automatisch.

Allerdings sind die enormen Mail-Massen weniger eine Frage der Filter-Software oder schlecht konfigurierter Programme. "Zu 75 Prozent ist es ein psychologisches und kulturelles Problem", sagt Lotus-Experte Siepmann. Wenn Mitarbeiter das Gefühl haben, sich immer nach oben absichern zu müssen, werden sie weiter den Vorgesetzen auf "Cc" setzen - und so dessen elektronischen Briefkasten auch künftig in ein Datengrab verwandeln.