Die digitale Transformation kann schon in guten Tagen mal aus dem Ruder laufen, doch die vergangenen zwei Jahre haben echte Verwerfungen ausgelöst. Angesichts vielfältiger Krisen ist es für Unternehmen wichtiger denn je, Blockaden anzugehen und stockende Digitalprojekte wieder in Schwung zu bringen. Sie können es sich nicht leisten, bei der digitalen Transformation zu scheitern, da "wir nun in die Ära des digitalen Business' eingetreten sind, in dem die Transformation Teil der Unternehmens-DNA sein muss", konstatiert das Marktforschungs- und Beratungshaus IDC in der Studie "FutureScape 2023: Worldwide CIO Agenda 2023 Predictions".
IDC definiert digitale Unternehmen als dynamische Organisationen, die ihre Betriebsmodelle und die ihnen zugrunde liegenden digitalen Plattformen kontinuierlich weiterentwickeln. "In dieser neuen Welt ist die IT keine eigene Organisation mehr - sie ist die eigentliche Struktur des Unternehmens", heißt es im Bericht. "CIOs werden neue Wege finden müssen, um die IT zu steuern, da die Tentakel der digitalen Technologie immer tiefer in das Unternehmen und sein Ökosystem hineinreichen."
Zugegeben, keine einfache Aufgabe. Hilfreich ist ein Blick auf die häufigsten Gründe, warum digitale Transformationen immer wieder scheitern.
Transformation im laufenden Betrieb führt zu Fehlern
Als die Corona-Pandemie im März 2020 ausbrach, "sahen die Menschen die Herausforderungen und entwickelten sofort Lösungen", erinnert sich Michael Spires, Principal und Technology Transformation Lead beim Beratungsunternehmen Hackett Group. Das bedeutet, dass sie sich nicht mit den zugrundeliegenden technologischen Problemen oder der Art und Weise, wie die Arbeit erledigt werden kann, auseinandergesetzt haben, sondern stattdessen die "Wir haben eine Krise und haben reagiert"-Haltung eingenommen haben. Untersuchungen von Hackett ergaben, dass IT-Abteilungen zwar die Möglichkeiten für Remote Work schaffen und CIOs ihr Profil in den Unternehmen schärfen konnten - jedoch meist "um den Preis, dass sie auf suboptimalen Plattformen aufbauen".
Dies war vor allem der Fall, wenn die IT ältere Basistechnologien verwendet hat, die nicht integriert waren, oder weil das Unternehmen durch Übernahmen gewachsen ist und die IT die unterschiedlichen Technologien nicht auf einheitliche Plattformen migriert hat, so Spires. Zwar änderte die IT die Art und Weise, wie sie auf das Business reagierte - in guter Absicht, fügt er hinzu, "aber mit Technologien, die nicht rationalisiert oder optimiert worden waren. Die Plattformen waren also nicht wirklich stabil."
Zeit für nachhaltige Lösungen fehlte in der Pandemie
Es sei eine Sache, Ressourcen auf ein Problem zu werfen, um in einer Krise Ergebnisse zu erzielen, aber das sei selten nachhaltig, argumentiert der Berater. "Man kann das sechs bis 18 Monate lang tun, um auf einen Stand zu kommen, mit dem man die COVID-Herausforderungen meistert. Aber es führt nicht zu einer langfristigen, transformierten Technologieplattform und hat nicht unbedingt die Art und Weise verändert, wie man mit den Stakeholdern umgeht." Infolge dieser Praktiken stellten viele IT-Chefs fest, dass sie sich erstmal mit ihren pandemiebedingten technischen Schulden auseinandersetzen müssen.
Kardinalfehler: Keine klare Vision für die Transformation
Wenn sich Unternehmen für eine Transformation im Sinne der Industrialisierung entscheiden, bei der zuerst das technische Backbone aufgerüstet wird, gibt es nur wenige schnelle Erfolge, sagt Stephanie Woerner, Direktorin des MIT Sloan Center for Information Systems Research (CISR). Das operative Rückgrat einer Organisation hänge von der Art des Unternehmens ab, erklärt sie. Das kann etwa die Implementierung eines SAP-Systems oder einer Kernbankplattform bedeuten. "Wenn Sie keine Vision im Kopf haben und diese nicht kommunizieren können, wird es für Ihre Mitarbeiter schwierig, bis sich Produktivitätssteigerungen einstellen", so Woerner.
Außerdem vergessen Unternehmen oft, dass eine digitale Transformation eigentlich zwei Dinge auf einmal umfasst: die Digitalisierung des Backbones sowie die Automatisierung und Vereinfachung, im Idealfall durch Wiederverwendung von Komponenten oder Prozessen. Woerner zufolge sollten Unternehmen beispielsweise bei der Anlage eines Kunden die beste Methode ermitteln und diesen Prozess dann immer wieder verwenden. Sie sollten zudem Daten wiederverwenden, anstatt zu versuchen, sie jedes Mal von Grund auf neu zu erstellen, so die Expertin.
Technologien statt Kunden im Fokus
Das Problem sei, "dass Führungskräfte in die Falle tappen, wenn sie bei der Einrichtung des operativen Backbone für eine digitale Initiative nicht auf den Kunden achten", sagt Woerner. "Ich denke, in den vergangenen zwei Jahren wurde die Notwendigkeit, gleichzeitig auch Kundeninitiativen zu berücksichtigen, häufig übersehen." Die Untersuchungen des MIT Sloan Center for Information Systems Research hätten gezeigt, dass es bei der Transformation von Unternehmen nicht nur um das operative Rückgrat gehe, sondern gleichzeitig auch darum, den Kunden zu begeistern.
Keine klare Strategie, keine klaren Zwischenziele
Digitale Initiativen würden scheitern, wenn es "an einer absolut klaren Vision und Strategie fehlt", ergänzt Tony Ambrozie, Senior Vice President und Chief Digital Officer and Information Officer bei Baptist Health South Florida. Aber selbst bei einer großartigen Vision, Strategie und Unterstützung durch den Vorstand könne es zu Misserfolgen kommen, wenn es keine "klaren Ziele und Vorgaben auf dem Weg dorthin gibt, so dass jeder sieht, ob sich der Erfolg einstellt und die Transformation erfolgreich ist", so Ambrozie.
Vergessen, den Kunden mit auf die Reise zu nehmen
Eine digitale Transformation könne scheitern, wenn CIOs nicht herausgefunden haben, wie sie ihre Kunden von den Vorteilen neuer Abläufe überzeugen, merkt Woerner an. "Digitale Bankinitiativen sind zwar sehr spannend, aber wenn Sie nicht herausgefunden haben, wie Sie Ihre Kunden dazu bringen, diese neue Bank zu nutzen, sitzen Sie am Ende mit zwei Geschäftseinheiten fest, die dasselbe tun." Dies bedeute, dass die eine Bank immer noch Transaktionen persönlich durchführen muss, während die andere längst zum Online-Banking übergegangen ist.
Laut Woerner hat das Forschungszentrum der Hochschule diese Entwicklung vor allem bei Banken beobachtet. Sie hätten großartige Ideen, wie sie sich umstellen können, "und dann stellen sie fest, dass sie vergessen haben, den Kunden mitzunehmen." Erfolgreiche Ansätze sieht sie etwa in Schulungen für die Kunden sowie in Kommunikationsmaßnahmen. "Der Hauptzweck einer digitalen Transformation ist es, zuerst den Kunden besser zu bedienen und dann die Organisation sowie ihre Mitarbeiter", argumentiert auch Ambrozie.
Die Herausforderung des Kulturschocks
Auch wenn die digitale Transformation in der Regel Herausforderungen in Bezug auf Architektur und Technologie mit sich bringe, sei der Kulturwandel die wichtigste Aufgabe, sagt Raju Seetharaman, Senior Vice President für IT und Transformation bei der Versicherungssparte von Legal & General America. "Die Stakeholder sind an ihre Arbeitsweise gewöhnt, und es gibt Widerstände gegen Veränderungen, die man in den Griff bekommen muss", sagt Seetharaman. "Es geht darum, sie auf eine Reise mitzunehmen und herauszufinden, wie man den Wandel bewältigen kann."
Der IT-Manager rät dazu, Mitarbeitern eine frühe Version eines neuen Produkts an die Hand zu geben. Handele es sich um eine große Plattformänderung, "sollten Sie ihnen ein Minimum Viable Product oder eine Demo zur Verfügung stellen, damit sie Feedback geben können und das Gefühl haben, dass sie Teil der Reise sind", sagt er. Die IT-Abteilung sollte auch schnell für Verbesserungen sorgen, wenn den Beteiligten etwas nicht gefällt. Andernfalls sei das Produkt schnell zum Scheitern verurteilt.
Fehlende Schulungen für digitalen und kulturellen Wandel
Die MIT-Researcherin Woerner stimmt dem zu und sagt, dass ihrer Untersuchung zufolge die meisten Misserfolge dann auftraten, wenn CIOs und andere Führungskräfte nicht alle Beteiligten mit ins Boot holten und den kulturellen Wandel, den die Digitalisierung mit sich bringt, nicht durch Schulungsprogramme unterstützten. "Die meisten dieser Bemühungen werden nicht sehr erfolgreich sein, denn um eine Kultur zu ändern, muss man seine Gewohnheiten ändern - und das bedeutet, die Arbeitsweise der Menschen zu ändern", sagt sie.
Mangelndes langfristiges Engagement
Unzureichende Finanzierung und zu wenig Geschäftssinn sind weitere sichere Gründe für das Scheitern einer digitalen Initiative, sagt Franzuha Byrd, CIO bei Morgan Franklin Consulting. "IT-Führungskräfte sind großartig beim Einführen von Technologien, aber wenn man sie bittet, den Wert eines digitalen Transformationsprojekts in finanzieller Hinsicht zu erläutern, scheitern die meisten." Er stoße oft auf unrealistische Erwartungen. Wichtig sei, dass die digitalen Initiativen über ein festes, mehrjähriges Budget verfügen, um sie in guten wie in schlechten Jahren aufrechtzuerhalten, merkt Ambrozie an. "Unternehmen und insbesondere der CFO müssen ein klares Verständnis der Rendite haben, also wissen, wie und wann sie sich manifestieren wird." Es dürfe nicht erwartet werden, dass der ROI sofort eintritt. "In diesem Fall besteht die Gefahr, dass der Start als Misserfolg gewertet wird und nicht als Beginn eines langfristigen Erfolgs."
Taktisches Denken in Tools
Während Unternehmen über die Tools nachdenken, die sie für die Einführung digitaler Technologien benötigen, haben viele nicht bedacht, was das Unternehmen wirklich braucht, sagt Spires. Ein Teil der IT-Organisation könnte sich etwa für ein Tool begeistern und entscheiden, dass es auch an anderer Stelle eingesetzt werden muss. Doch das stehe einem koordinierten Einsatz eines gemeinsamen Tool-Sets womöglich entgegen.
Spires zufolge führe so ein Vorgehen dazu, dass man nicht in großen Zusammenhängen denkt, sondern taktisch, in der Krise und im Augenblick. "Wir sehen immer noch viele Silos, und die IT-Abteilung verwaltet die Landschaft nicht ganzheitlich. Das führt zu einem Wildwuchs und einem Mangel an gemeinsamen Tools." In Anbetracht des derzeitigen IT-Personalmangels wachse das Problem mit jedem neuen Programm, warnt der Experte der Hackett Group.
Kein Support aus dem Vorstand
Die meisten IT-Initiativen scheitern ohne die Unterstützung der Führungsebene. Das gilt auch für die digitale Transformation, vor allem angesichts der weitreichenden Auswirkungen auf alle Mitarbeiter, berichtet John Roman, CIO der Bonadio Group, einem Wirtschaftsprüfungs- und Finanzdienstleistungsunternehmen. "Wenn die Führungsebene nicht lautstark ihre Unterstützung zum Ausdruck bringt, wird es niemand tun." Ohne die unerschütterliche Unterstützung des Vorstands, des CEO und der leitenden Angestellten sei das ein Konzept zum Scheitern, stimmt Ambrozie zu. "Ein CDO oder CIO kann diese Bemühungen anführen, aber hinter den handelnden Personen muss immer die Unterstützung des Vorstands stehen", betont er.
Die Geschäftsbereiche verstehen ihre Rolle nicht
Die IT hat die Aufgabe, die Technologie zu verändern, doch die Fachbereiche verstehen oft nicht, was von ihnen verlangt wird, stellt Spires fest. "Man braucht eine Unternehmensführung, die sagt: 'Ich bin für die Ergebnisse verantwortlich, und die Technik ist für die Umsetzung zuständig.' Oft fehle es an Fachwissen auf beiden Seiten."
Wenn die Fachbereiche ihre Rolle nicht artikulieren, fühle sich das IT-Team verpflichtet, einzugreifen. Aber oft sei es gar nicht ausreichend darüber informiert, was das Unternehmen will. In solchen Fällen treffe das IT-Team womöglich Entscheidungen im Namen eines Fachbereichs, der gar nicht richtig eingebunden ist. "Ich sehe das häufig", berichtet Spires. Eine engere Zusammenarbeit im gesamten Unternehmen sei notwendig, um sicherzustellen, dass sich alle Einheiten in Richtung Digitalisierung bewegen, fügt Seetharaman hinzu: "Die Flut hebt alle Boote - das war eine der wichtigsten Lehren der vergangenen zwei Jahre."
Dieser Artikel basiert auf einem Beitrag unserer Schwesterpublikation cio.com