QUALITÄTSKONTROLLE

Zentrale Störungsstelle für die Lieferkette

01.10.2001 von Roland Keller
Software-Firmen haben einen neuen Markt entdeckt: flexible Controlling-Programme, die Störungen in der Lieferkette aufspüren – auch über System-Grenzen hinweg.

DEN GRÖSSTEN STRESS hat Gerald Strizek gerade hinter sich. "Kurz vor der Feriensaison gehen bei uns die meisten Bestellungen ein", erklärt der bei Gretag Imaging für die Logistik verantwortliche Strizek. Dabei verkauft das Unternehmen aus der Nähe von Zürich weder Tickets noch Eis, sondern Entwicklungsmaschinen für Fotos. "Die Geräte dann alle zum gewünschten Zeitpunkt auszuliefern, ist eine enorme Herausforderung." Damit die künftig reibungslos gemeistert werden kann, will Gretag Reserven in der Prozesskette aufspüren. Und dabei soll eine neue Software helfen, die die Prozesse im Unternehmen prüft. Das Problem: Viele Prozess- und Lieferketten wie die von Gretag werden selbst im eigenen Haus durch mehrere unterschiedliche Programme -- etwa von SAP oder Oracle -- gesteuert. Software-Generalisten wie Tibco, Click-Commerce oder Imediation sind im Feld der Analyse und des Reporting inzwischen angetreten. Als einziges Unternehmen hat sich allerdings bislang B-Focus auf Software-übergreifende Lösungen spezialisiert, die seit kurzem bei Gretag oder auch Siemens eingesetzt werden.

Bisher war es kaum möglich, anhand von Echtzeitberichten zu erkennen, wo Störungen auftreten, die dann sofort beseitigt werden können. "Genau das ist jedoch notwendig, um wettbewerbsfähig zu bleiben", sagt Strizek. Eine Untersuchung der Berliner Unternehmens beratung KPMG ergab eine breite Kostenspanne für die Optimierung der Lieferkette -- auch bei Firmen mit vergleichbaren Prozessen. Einige Unternehmen gaben fünf Prozent mehr Geld aus als andere. Eine Vernachlässigung der Prozesskette macht sich allerdings in der Unternehmensbilanz deutlich bemerkbar: Um bis zu zwei Prozent können die Firmen ihren Gewinn bei optimierter Lieferkette erhöhen.

Lieferkette zeigt verborgenes Potenzial

Das Problem fehlender Prozessoptimierung könnte sich bei vielen Unternehmen in Zukunft noch verschärfen, warnen die Analysten des amerikanischen Marktforschungs- Instituts Forrester Research. Der Grund: Laufen die Prozesse erst über elektronische Marktplätze, dann geraten all jene ins Hintertreffen, die nicht in der Lage sind, ihre internen Prozesse sauber elektronisch abzubilden und zu kontrollieren. Unternehmen, die das können, beziehen einen großen Teil ihres Wettbewerbsvorsprungs aus optimal aufgestellten Lieferketten. Als Beispiele müssen in der Forrester-Studie allerdings Firmenriesen wie etwa der Netzwerk-Spezialist Cisco oder der PC-Hersteller Dell herhalten.

?Oft liegt die Leistung einer Firma nur bei sechzig Prozent dessen, was möglich wäre", berichtet Andreas Stoltze, Geschäftsführer von B-Focus, aus seiner Praxis. "Bei vielen birgt gerade die Lieferkette noch enormes Potenzial." Gefragt sind also umfassende Messmethoden, womit sich auch dann Lieferketten analysieren lassen, wenn diese über mehrere unterschiedliche Software- Produkte gesteuert werden.

Zum Beispiel bei Siemens: E-Business-Chef Albert Goller holte deshalb B-Focus in seinen ?Business- Accelerator" am Münchner Flughafen. Von Siemens Medical Solutions in Forchheim kam Mitte 2001 der erste Auftrag: ein Pilotprojekt im Bereich Computer-Tomographie. Für den zuständigen Supply-Chain-Manager Franz Grasser ist es wichtig, "ständig die Qualität der Supply Chain zu messen und den Kunden zu zeigen, wo ihre Aufträge stehen". Nun hat er eine Art "Drehzahlmesser für Lieferketten" zur Verfügung, um damit den Bestandsumschlag zu erhöhen und den Cashflow zu verbessern.

Sichtbar für den Kunden wird der Drehzahlmesser über das Internet. Sobald die Software nach etwa zwei bis drei Monaten implementiert ist, lassen sich mit Hilfe der Schlüsselindikatoren die gewünschten Daten über das Internet darstellen. "Wir erkennen Störungen und Fehlsteuerungen nahezu in Echtzeit, ohne in bestehende Systeme einzugreifen", verspricht Stoltze. Konkret verheißt die B-Focus-Software, alle Daten herauszufiltern, die Supply-Chain-Manager benötigen: Angaben zu Durchlaufzeiten, Lieferzeiten und zur Liefertreue, dazu Vergleichsdaten zu anderen Prozessen innerhalb des Unternehmens. Dieses interne Benchmarking, also der Vergleich des Ist- mit dem Soll-Zustand, ist sowohl bei Gretag als auch bei Siemens nun auch über Software- Grenzen hinaus machbar.

Drehzahlmesser offenbart Fehlsteuerungen

Die Kehrseite solcher Offenheit liegt, wie so oft, im menschlichen Bereich: Absolute Transparenz der Lieferkette fühlt dazu, dass sich Fehler in der Planung und in den Abläufen nicht mehr verbergen lassen. Wer jetzt pfuscht, steht sehr schnell am Pranger. Mögliche Widerstände der Prozessverantwortlichen dagegen werden verständlicherweise meist nicht offensiv vorgetragen. Peter Ossenberg, Unternehmensberater bei B-Focus, will denn auch gegen das SCM-Controlling bei Siemens und Gretag keine Vorbehalte bemerkt haben. Und das, obwohl "gerade unternehmensübergreifende Ketten nie so hundertprozentig" funktionieren können, sagt er.

Aber vielleicht werden die unangenehmsten Leichen ja aus dem Keller geholt, bevor dort das Licht ausgeht.

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