Im Jahr 2019 flog Gerd Leonhard mehrmals um den Globus, insgesamt 750.000 Meilen. 2020 hielt der Zukunftsdenker, der für sich die Jobbeschreibung Futurist und Humanist wählt, seine zahlreichen Reden von seinem Wohnsitz in Zürich aus. "Keynote-Televison" funktioniert auch und kommt an, das zeigte auch sein mitreißender Vortrag zur Halbzeit der Hamburger IT-Strategietage.
"Ich selbst bin ein gutes Beispiel dafür, dass man sich auch mit 55 Jahren noch verändern kann, wenn man will", so Leonhard. In der Covid19-Krise hätten wir alle die Bereitschaft zur Veränderung gelernt. Die Pandemie begreift er darum nicht nur als Krise, sondern als Katalysator für Veränderung in vielfältiger Hinsicht. Microsoft-CEO Satya Nadella habe zurecht erkannt: In den vergangenen zwölf Monaten gab es mehr Digitalisierung als in den zehn Jahren vorher. Und Futurist Leonhard ergänzt: "Die nächsten zehn Jahre bringen eine radikale Kursänderung, die zu 90 Prozent gut sein wird." Drei Paradigmen gab Leonhard seinem virtuellen Auditorium mit auf dem Weg:
Die Zukunft ist besser als wir denken.
Die Zukunft kommt schneller als wir denken.
Wir bestimmen die Zukunft mit unserem Denken.
Es braucht einen neuen Kapitalismus
In seinen Augen wird es auch nach Corona kein Zurück zum Status quo ante geben - zurück zur vermeintlichen Normalität. Stattdessen prophezeit er viele parallele Normalitäten sowie eine Explosion der Technologien - etwa im Quantencomputing, in der Interaktion Mensch und Maschine oder in der Konvergenz von Medizin und Technologie. Die Dekarbonisierung der Wirtschaft und Gesellschaft ist für Leonhard "eine der größten Herausforderungen der nächsten 20 Jahre".
Natürlich müsse man sich in dem Zusammenhang die Frage stellen, ob das im Rahmen des bisherigen Kapitalismus funktionieren kann? Nein, kann es nicht. Profit allein dürfe die Unternehmen nicht mehr antreiben. An dessen Stelle rückt Leonhard "people, planet, purpose und prosperity" als Treiber eines neuen Kapitalismus. Der Sinn, den Unternehmen Kunden, aber auch Mitarbeitern anbieten müssten, rücke in den Mittelpunkt.
Jeden Tag eine Stunde Zukunftslernen
Der Vordenker appellierte an die CIO-Community, die Zukunft selbst zu formen. Das heißt im ersten Schritt: "Wir müssen die Ohren weit aufmachen und jeden Tag eine Stunde nachdenken, was morgen sein könnte." Microsoft-Gründer Bill Gates widme sich fünf Stunden in der Woche dem Zukunftslernen.
Zu Zukunftslernen gehöre auch, die Janusköpfigkeit der Technologien zu begreifen: "Technologie ist ein Geschenk, aber auch eine Bombe." Ein Zuviel an Technik sei schädlich. Da Technik selbst keine Ethik besitzt, müssten wir als Menschen und als Gesellschaft hier regulieren. Zwar werde Gesellschaft von Wissenschaft und Technologie angetrieben, aber von Werten bestimmt. Darum heiße eine wichtige Zukunftsfrage: Wie kann Ethik mithalten?
Von einer pessimistischen Zukunftserwartung, wie sie in Deutschland im internationalen Vergleich weit verbreitet ist, hält Gerd Leonhard genauso wenig wie von der ängstlichen Frage, was die Zukunft wohl bringen wird. "Das ist nicht die richtige Frage", so der Vordenker. "Wir müssen fragen: Welche Zukunft wollen wir?" Er ist überzeugt, dass wir das, was kommt, durch neues Denken, stetiges Beobachten, mehr Experimente und durch das Adaptieren der geglückten Versuche selbst gestalten können. Ganz nach dem Prinzip der Self-Fulfilling-Prophecy.
Zoom-Calls sind super, Umarmungen noch besser
Für die unmittelbare Zukunft, also das aktuelle Jahr 2021, sagt Leonhard eine "Renaissance der Menschlichkeit" voraus. "Durch Covid-19 haben wir gemerkt, wie wichtig der Kontakt zu anderen Menschen ist. Also: Zoom-Calls sind super, Umarmungen aber noch besser." Die Menschen sind sich bewusst geworden, dass Erfahrungen, Erlebnisse und Beziehungen am wichtigsten für sie sind - auch im Business.
Und sie hätten gemerkt, dass scheinbar Unmögliches Realität werden kann, wenn alle zusammenarbeiten: Das Paradebeispiel für solch eine kollektive Lösung ist die Erfindung des Impfstoffes binnen eines Jahres. Eine kollektive Zusammenarbeit beziehungsweise internationale Sanktionen sieht Leonhard auch als einzigen Weg an, wenn es um Ethik für Technologien geht.