Jens Pape ist angekommen. Entspannt sitzt er am Konferenztisch und gönnt sich ein Glas Mineralwasser. Seit Ende Februar ist er bei Hansenet in Hamburg, und nun hat er vor drei Tagen sogar mit dem Kaffeetrinken aufgehört, wie er sagt. Auf die tägliche Überdosis Koffein kann Pape, auf dessen Visitenkarten heute Director New Services & Audience steht, nun mit gutem Gewissen verzichten und durchatmen.
Pape hat ein abenteuerliches Integrationsprojekt hinter sich. Bis vor Kurzem war der studierte Elektrotechniker Chief Technology Officer bei AOL Deutschland. Im März 2007 verkaufte die AOL-Mutter Time Warner das Internet-Zugangs-Geschäft von AOL Deutschland an den Hansenet-Eigner Telecom Italia. Pape verantwortete auf AOL-Seite den technischen Teil des Verkaufs - und hat danach die Aufgabe übernommen, die Integration der AOL-Kundendaten in die Systeme der neuen Eigner zu gewährleisten. "Es ist eigenartig, während des Projekts die Seiten zu wechseln", sagt er. "Die Kollegen werden im Laufe der Zeit zu Partnern, mit denen man eher verhandelt als offen zu diskutieren, da man auf unterschiedlichen Seiten des Tisches sitzt."
An der Migration waren rund 200 Mitarbeiter von AOL England, US und Deutschland, von Telecom Italia, Accenture und Mitarbeiter von Hansenet beteiligt. In Video- und Telefonkonferenzen koordinierten sich die über zwei Kontinente und vier Länder verteilten Projektgruppen, die Arbeitsschritte wie Netzwerkmigration, Kundenbetreuung, Abrechnung oder Datenmigration übernommen hatten.
Doch nicht nur auf der menschlichen Ebene war das Projekt eine Herausforderung. Ein Ziel der 665 Millionen Euro teuren Übernahme war es, die AOL-Kunden zu halten und viele zum Wechsel zu Hansenet-Produkten zu bewegen. Der Druck, Kunden mit einem reibungslosen Übergang einen positiven Einstieg in die Hansenet-Welt zu bieten, war groß. "Die Devise lautete: Der Kunde darf nichts merken", sagt Pape. "Das "Look and Feel" der AOL-Anwendungen sollte erhalten bleiben."
1.000 Attribute pro Kunde
Dazu war es nötig, nicht nur die alten Anwendungen von den AOL-Servern auf die Rechner von Hansenet zu überspielen. Vor allem die Kundendaten, die unter anderem Adressen, Vertrags- und Einwahlinformationen enthalten, mussten übertragen werden. Schon die schiere Menge der Daten - AOL Deutschland hatte rund zwei Millionen Kunden - machte das zur Herkulesaufgabe. Aufgrund gesetzlicher Vorgaben mussten auch eine dreimonatige Kundenhistorie und Abrechnungsdaten bei laufendem Betrieb übertragen werden. "Pro Kunde mussten wir also rund 1.000 Attribute definieren", sagt Peter Spisak, der die Projektgruppe Datenmigration operativ geleitet hat. "Bei zwei Millionen Kunden ist das eine riesige Datenmenge."
Also versuchte man gar nicht erst, den riesigen Bestand in einem Schritt zu migrieren. "Stattdessen haben wir vier Projektschritte definiert", sagt Spisak. Der erste Schritt bestand im Sammeln der Daten. Alle Outsourcing- und Projektpartner stellten ihre Kundendaten zentral über einen FTP-Server zur Verfügung. Der setzte sich aus alten AOL-Daten zusammen, aber auch aus Daten von Partnerfirmen wie O2, die etwa Mobilfunkverträge zum AOL-Angebot beigesteuert hatten. "Wir haben erst einmal Kundendaten gesammelt, ohne Rücksicht auf Konsistenz, Vollständigkeit oder Datenformat", sagt Pape.
Im zweiten Schritt beschäftigte sich das Projekt-Team mit der Validierung der Daten. Die Mannschaft prüfte, ob mit dem Ausgangsmaterial ein konsistenter neuer Datensatz aufgebaut werden konnte, wie die verschiedenen Attribute wie unterschiedlich aufgeteilte Adressfelder zusammenpassen und welche Informationen anderswo fehlende Bits und Bytes ersetzen könnten. Im dritten Projektschritt schließlich transformierte das Team die Daten so, dass ein harmonischer Bestand entstand. Erst im vierten Schritt erfolgte die Übernahme der Daten in die beiden Zielsysteme von Hansenet und Telecom Italia.
Dass der Transfer über die vier Schritte hinweg funktioniert, testete das Migrationsteam für jede Kundengruppe anhand der Daten von 1.000 typischen Kunden. "Erst nachdem alles reibungslos lief, haben wir begonnen, größere Tranchen mit 200.000 Kunden auf einmal zu migrieren", sagt Pape.
Wann welche Kunden des Bestands dran waren, das war im Vorfeld des Projekts bis auf auf den Tag genau definiert worden. "Jeder Kunde und jede Kundengruppe kamen in ein feines Raster", sagt Spisak. "Alle zwei Wochen wurde eine Gruppe von Kunden migriert." Zunächst kamen die 950.000 Kunden an die Reihe, die sich über ein Modem mit AOL-Einwahldaten ins Internet einwählen. Bei den DSL-Breitband-Kunden waren die Abrechnungsmodi und Datenmodelle komplizierter, weil AOL als Weiterverkäufer von Anschlüssen auftrat, die die Deutsche Telekom abwickelte.
Einwegsoftware für die Migration
Das eingesetzte Migrations-Framework, ein System auf Oracle-Basis, entstand erst während des Projekts. Grundlage war eine Datentransferlösung von Accenture, die fortlaufend an die Anforderungen des Projekts angepasst wurde. Die Software sollte genau die Migration überstehen, keinen Tag eher aufgeben, aber auch keinen Tag länger gebraucht werden. Durch diese Maßgabe konnten der Zeitplan der Entwicklung gehalten und die Kosten minimiert werden. Oft waren die Programmierer den Projekt-Managern, die bestimmte Teile der Anwendung benötigten, nur um Haaresbreite voraus. "Wir haben gleichzeitig getestet und integriert. Noch während die Nutzer von Modemverbindungen als die ersten Kunden migriert wurden, arbeiteten wir an den Datenmodellen für die DSL-Kunden", sagt Pape. "Das war "rapid prototyping at its best"."
Sommerzeit stört Umzug
Für künftige Projekte ist die Transferlösung tatsächlich nicht mehr zu gebrauchen. Wie das Gewinnermodell eines Seifenkistenrennens, das genau hinter der Ziellinie auseinanderfällt, ist die intensiv aufgebohrte und hastig geflickte Anwendung nach dem Vollgas-Projekt für weitere Aufgaben nicht mehr geeignet. Dafür hat sie sich aber während ihres Lebenszyklus so gut bewährt, dass große Störungen beim Übertragen der Datensätze ausblieben.
Wie wichtig das war, zeigt eine Panne, die durch den unterschiedlichen Beginn der Sommerzeit in den Vereinigten Staaten und Europa verursacht worden war: 30.000 Daten, die übertragen werden sollten, wurden wegen des Zeitzonenfehlers einen halben Tag zu spät von einem System in das andere eingespielt. "In dieser Zeit liefen die Telefone der Callcenter heiß", erinnert sich Pape.
Insgesamt ist man bei Hansenet mit dem Ergebnis der Umstellung zufrieden. Zwar meldete die Tageszeitung "Die Welt", eine Viertelmillion AOL-Kunden hätten die Hanseaten durch die Integration verloren, vor allem genervte Modem-Surfer. Hansenet bestreitet das aber. Die Zahl der Kündigungen von AOL-Kunden während der Migration entspreche dem Level der vergleichbaren Zahlen von AOL im Jahr 2006, also ein Jahr vor der Migration, sagt Sprecher Carsten Nillies.
Die verbliebenen AOLer können in jedem Fall nach wie vor auf das gewohnte, blau-weiße Icon auf ihrem Desktop klicken, wenn sie ins Netz wollen. Browser und Benutzeroberflächen haben sich nicht geändert. Dass die Einwahl und die AOL-Anwendungen über Hansenet-Server laufen, merken die alten AOL-Kunden inzwischen nur noch an der Rechnung. Und bei den DSL-Kunden kommt Hansenet noch besser an. Etliche haben bereits die AOL- gegen Hansenet-Verträge ausgetauscht, heißt es aus dem Unternehmen.
Ideen für das Web-TV gesucht
Nach Abschluss der Integration kann sich Pape nun seiner neuen Aufgabe widmen: dem Aufbau von Zusatzangeboten für das Online-Geschäft von Hansenet. Hintergrund: Qualität, Preis und Service sind inzwischen bei vielen DSL-Angeboten vergleichbar. Die Anbieter müssen sich mit neuartigen Angeboten von der Konkurrenz abheben. Einen verbesserten E-Mail-Dienst und komfortable Sicherheits-Software für die Hansenet-Surfer hat Papes neue Mannschaft schon auf den Weg gebracht. Nun soll sie dem lahmen Geschäft mit dem Internet-Fernsehen IPTV neues Leben einhauchen. "Auf das reine TV-Bild über das Datenkabel wartet keiner", weiß Pape. Doch auch Komfortfunktionen wie das zeitversetzte Ansehen von Sendungen haben bislang nicht dazu geführt, dass einen nennenswerte Zahl von Kunden für TV aus der Datenleitung zahlt. Pape und sein Team werden für diesen Job noch innovativere Ideen aus dem Hut zaubern müssen als bei dem Integrationsprojekt. Gut möglich, dass Pape dann bald doch wieder mit der Koffeinzufuhr beginnt.