Analysten-Kolumne

Zwischen Industrialisierung und Prozessorientierung: IT-Strategien im Spannungsbogen von Extremen

28.03.2007 von Thomas Reuner
Wie viele Paradigmenwechsel kann ein durchschnittlicher CIO verdauen? Schenkt man den Marketing-Maschinen der IT-Anbieter Glauben (wie gerade wieder auf der Cebit), so droht den Unternehmen eine Fülle von fundamentalen Veränderungen.
Thomas Reuner von IDC: "Der Kunde muss stärker im Mittelpunkt von Marketing stehen."
Foto: Ovum

Die technologischen Schlagworte in diesen Diskussionen lauten etwa Industrialisierung von IT, Service Oriented Architecture (SOA), Prozessorientierung, Konvergenz von IT und TK oder Echtzeit-Computing. Auch wenn davon ausgegangen werden darf, dass CIOs mit einem gesunden Maß an common sense sich eher auf die Geschäftsprobleme konzentrieren als über die Rhetorik der IT-Industrie schlaflose Nächte zu verlieren, werfen diese Diskussionen doch grundlegende Fragen über die zukünftige Ausrichtung von IT-Strategien auf.

Besonders die Frage, wie der vermeintliche Gegensatz zwischen Industrialisierung, also einer standardisierten und hochautomatisierten Bereitstellung von Dienstleistungen auf der einen Seite, und einer immer stärkeren und tiefer gehenden Prozessorientierung auf der anderen Seite, aufgelöst werden kann. Marketingtechnisch ist dies sehr einfach zu erklären. Denn mit Konzepten wie SOA, so das Argument, wird die Brücke zwischen diesen beiden Extremen hergestellt, indem standardisierte Daten und Abläufe in heterogenen Umgebungen wiederverwendet werden können. Aber in der alltäglichen Arbeit in den IT-Fachabteilungen dürfte die Welt etwas komplizierter und differenzierter aussehen. Die Frage zielt vielmehr auf das Selbstverständnis von IT und darauf, wie technologische Konzepte vermarktet werden. Und dass hier keineswegs Konsens herrscht, hat die Diskussion um Nicholas Carr's vieldiskutierten Thesen im Kontext von "Does IT matter" deutlich gezeigt!

Die erste Phase von Industrialisierung fokussierte sich besonders im Hinblick auf "Global Sourcing", also der Konsolidierung und Standardisierung von Dienstleistungen, um über Skaleneffekte und globale Arbeitsteilung Wettbewerbsvorteile zu erzielen. Die nächste Phase, die sich beispielsweise momentan abzeichnet, ist die nutzerbasierte Bereitstellung von komplexen Lösungen wie etwa Enterprise Ressource Planning (ERP).

So warb etwa T-Systems auf der Cebit damit, dass seine "Dynamic Services" so einfach seien wie Elektrizität und Licht. SAP selbst wird Mittelständlern, aus einer anderen Perspektive kommend, gehostete, standardisierte Lösungen anbieten, welche die Angst vor Komplexität und hohen Preisen nehmen sollen. Wenn man sich vor Augen führt, dass bei vielen Unternehmen, die Einführung von ERP-Systemen in der jüngeren Vergangenheit so kritisch waren, dass problematische ERP-Einführungen den Unternehmenswert erheblich beeinflusst haben, wirkt die Darstellung dieser Entwicklung auf den ersten Blick perplex.

Technologische Argumente erreichen Entscheider nicht

Dass IT sich immer stärker an Geschäftszielen und -prozessen orientieren muss, wird auch gerade von uns Analysten immer wieder gerne postuliert. Aber wie sich die Realität jenseits der DAX-Unternehmen ausnimmt, ist sicherlich unterbeleuchtet. Häufig fehlen dort erfahrene Projekt-Manager, die solche komplexen Projekte stemmen können. Die Zielrichtung ist zwar klar erkannt, aber die Umsetzung hängt nicht zuletzt von Mitarbeitern ab, die tiefere Kenntnisse in den Prozessen haben. Gleiches gilt für die Anbieter. Der Kampf um Vertriebler und Projekt-Manager, die nicht nur generische Kenntnis von ERP-Lösungen haben, sondern die komplexe Welt der Prozesse abbilden können, ist hart und teuer. Der Mangel an Fachkräften zeigt sich eben besonders in diesen zukunftsweisenden und komplexen Aufgabengebieten.

Vieles von dem vermeintlichen Gegensatz zwischen Industrialisierung und Prozessorientierung hängt sicherlich davon ab, wie diese Konzepte vermarktet werden. In der Mehrzahl thematisieren diese Konzepte technologische Innovationen, holen die Kunden aber selten bei deren Geschäftsproblemen ab. Technologische Argumente sind in der Fachabteilung sicherlich willkommen, aber erreichen häufig eben nicht die Entscheider, die klare Nutzungsszenarien und betriebswirtschaftliche Eckdaten benötigen.

Ebenso hinterlässt der Spannungsbogen zwischen der Simplizität des Utility-Gedankens von IT und dem Versuch, SOA mit all seinen Facetten Kunden näher zu bringen, Zweifel an der Validität von Marketing-Aussagen. Entscheidend scheint aber zu sein, den Kunden stärker in das Zentrum von Marketing zu stellen. Insbesondere die Entscheider auf C-Level-Ebene müssen stärker eingebunden werden. Wie so häufig ist die Welt nicht schwarz und weiß, sondern es bedarf einer Differenzierung. Und da Marketing das wichtigste Instrument ist, um den Kunden zu erreichen, sollten diese bei ihren Problemen abgeholt werden, anstelle die Vielzahl an Innovationen (und damit Jargon, Komplexität und manchmal vermeintliche Widersprüche) zu kommunizieren. Dann können aus diesem Spannungsbogen zwischen vermeintlichen Extremen Innovationen entstehen, die den Unternehmenswert steigern.

Dr. Thomas Reuner ist Research Director bei IDC in Frankfurt.