Wenn die Welt wankt

Keine Ruhe nach dem Sturm für Merkel und Co.

09.07.2018
Die Regierungskrise in Berlin ist vorbei. Aber die Grundsatzfrage ist offen: Probleme lieber alleine national lösen oder im mühsamen Konsens mit Partnern? US-Präsident Trump wird beim Nato-Gipfel sicher wieder lautstark seine ganz eigene Antwort geben.
"Zurzeit gerät etwas ins Wanken, was wir als fast unveränderlich gesehen haben", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel.
"Zurzeit gerät etwas ins Wanken, was wir als fast unveränderlich gesehen haben", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Foto: 360b - shutterstock.com

Immerhin, die Welt dreht sich noch nach diesen Krisentagen. Hummeln umkreisen in der Sonne den Lavendel, die U-Bahn fährt, die Kinder sind startklar für die großen Ferien. Deutschland hat noch immer seinen Bundestrainer, seine Kanzlerin, seinen Innenminister. Doch bleibt die Ahnung, dass die Sache noch nicht ausgestanden ist - nicht die Regierungskrise in Berlin, nicht der Streit in Europa, nicht das Zerren und Reißen an der Welt, wie wir sie kannten.

"Zurzeit gerät etwas ins Wanken, was wir als fast unveränderlich gesehen haben", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel dieser Tage im Bundestag und meinte damit die alte Ordnung des "Multilateralismus", das mühsame Suchen nach Konsens und Ausgleich der Interessen. Seltsamerweise ist die Antwort der Politik auf diese allseits wahrgenommene Ungewissheit nun mit Vorliebe das Stiften von Chaos.

Der Meister dieser Kunst, US-Präsident Donald Trump, kommt in diese Woche zum Nato-Gipfel nach Europa - während die EU sich weiter sortiert und Deutschland seine Wunden leckt. So dürften die nächsten Tage nicht viel ruhiger werden als die vergangenen. Fünf Thesen zum globalen Stand der Dinge:

1. Die große Koalition ist noch nicht überm Berg

Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) hofft nach der Asyl-Einigung darauf, dass das "Sommertheater" vorbei ist. Man wolle "zur Sacharbeit zurückkehren", heißt es jetzt immer wieder. Aber kann aus dieser großen Koalition unter Angela Merkel, die von Anfang an unter keinem guten Stern stand, wirklich noch eine einigermaßen normale Regierung werden?

Die Chancen dafür scheinen derzeit deutlich geringer zu sein als das Risiko einer neuen Krise. Merkel und ihr CSU-Innenminister Horst Seehofer gehen geschwächt und unversöhnt aus dem Asyl-Streit heraus. Die SPD konnte von dem unionsinternen Konflikt nicht profitieren.

Gut möglich, dass auf das Sommertheater die Herbst-Depression folgt - bei den Landtagswahlen in Hessen und vor allem in Bayern. Dümpeln dort die Umfragewerte der CSU weiter unter der absoluten Mehrheit, wird die Nervosität bei den bayerischen Unionisten wieder steigen. Und jeder verlorene Prozentpunkt der SPD bei den Wahlen wird den Unmut über die ungeliebte große Koalition in Berlin wachsen lassen. Was das Dreierbündnis aus CDU, CSU und SPD vor allem zusammenschweißt, ist die düstere Aussicht, dass bei einer Neuwahl alles noch viel schlimmer kommen könnte.

2. Der Kompromiss im Morgengrauen ist auch nicht mehr, was er mal war

Nicht nur der Merkel-Seehofer-Waffenstillstand lässt viele Fragen offen, ähnlich ist es bei der von Merkel mühsam errungenen Einigung des EU-Gipfels zur Migration. Als die Kanzlerin gegen 05.00 Uhr morgens aus den Brüsseler Verhandlungen kam, wirkte sie auch eher erschöpft als euphorisch, sprach aber immerhin von einer "guten Botschaft" nach "intensiver Diskussion" - was so viel heißt wie: Es flogen die Fetzen, bis alle mitmachten.

Nur las danach jeder der 28 Staats- und Regierungschefs aus dem verquasten Text, was er wollte. Italien freute sich, dass es nun nicht mehr alleine für ankommende Flüchtlinge zuständig sei, sondern die ganze EU. Österreich pocht auf "Schutzzentren" in Afrika, damit weniger Migranten in die EU kommen. Die Osteuropäer sehen sich aus dem Schneider, weil Aufnahme und Verteilung von Flüchtlingen rein freiwillig sind. Und so fort. Griechenlands Ministerpräsident Alexis Tsipras verließ Brüssel mit dem bitteren Fazit, EU-Gründungsprinzipien wie Solidarität, Humanismus und Respekt der Menschenrechte seien nicht mehr für alle ein gemeinsamer Nenner: "Die EU ist tief gespalten."

3. Das Jeder-Macht-Seins-Europa driftet auseinander

Für die einen ist diese Spaltung erschreckend - den anderen ist sie bestenfalls egal. "Innerhalb eines Jahres wird sich entscheiden, ob es das vereinte Europa noch gibt oder nicht mehr", sagte Italiens neuer Innenminister Matteo Salvini neulich dem "Spiegel". Große Sorge scheint ihm das nicht zu machen. Es war übrigens Salvini, mehr noch als Merkel, der mit der einseitigen Zurückweisung von Flüchtlingsschiffen im Mittelmeer die EU unter Handlungsdruck setzte.

Die neue Populisten-Koalition in Rom hat die Tektonik in Europa verschoben: Nationalismus ist plötzlich kein Grund mehr für Scham. Italien first, Ungarn first, Österreich first, Bayern first - jeder macht seins und bequemt sich zum Konsens nur, wenn es passt. Dass die EU auf gemeinsame Grundwerte und Vereinbarungen pocht, verbittet sich nicht nur Polen empört.

Säuerlich und immer säuerlicher saß Ministerpräsident Mateusz Morawiecki diese Woche im Europaparlament, während ein Abgeordneter nach dem anderen ihm wegen der Justizreform den Abriss des Rechtsstaats vorwarf. "Polen ist ein stolzes Land, bitte erteilen Sie uns keine Lehren!", rief er am Ende trotzig. Es klang fast, als gehörte er gar nicht mehr dazu.

4. Trump bringt die Welt gezielt in Unordnung

Jeder für sich und alle gegen alle. So sieht die Welt-Unordnung des Donald Trump aus. Am Mittwoch kommt der US-Präsident mal wieder nach Europa, zum Nato-Gipfel. Die Vorzeichen könnten schlechter kaum sein. Trump ist jetzt schon wieder im Krawallmodus, fordert lautstark höhere Verteidigungsausgaben der Partner - vor allem von Deutschland.

Die Zeiten, in denen der Ablauf solcher Gipfel einigermaßen vorhersehbar war, sind vorbei. Zuletzt hatte Trump seine europäischen Partner beim G7-Gipfel in Kanada düpiert, indem er nachträglich aus der Abschlusserklärung ausstieg. Jetzt degradiert er die Nato-Konferenz schon vorab zu einer Art Prolog zu seinem Gipfeltreffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ein paar Tage später.

Die Frage, ob der Westen als Wertegemeinschaft am Ende ist, wird sich auch hier wieder stellen. Der Trumpismus hat dafür gesorgt, dass auch deutsche regierende Politiker wie der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) den Glauben an die von durch internationale Organisationen und Abkommen geordnete Welt aufzugeben scheinen. Die "Zeit des geordneten Multilateralismus" sei vorbei, sagte Söder vor Kurzem und erschreckte damit auch viele Kollegen in den eigenen Reihen. Bayern first? Zum Verhalten der CSU in den vergangenen Krisentagen passt das jedenfalls.

5. Europa müsste sich zusammenraufen, wirkt aber schwach

Eine Weile sah es so aus, als schlösse Europa mit dem Druck von Außen die Reihen. "Der Brexit hat uns stärker zusammengeschweißt als früher", machte sich Ratspräsident Donald Tusk schon voriges Jahr Mut. Und auch gegen die ständigen Breitseiten aus Washington schien die EU geeint, vor allem im Handelsstreit, wo der EU-Gipfel zuletzt klare Kante androhte.

Der Philosoph Jürgen Habermaß erhebt trotzdem Anklage gegen die "fehlende Handlungsfähigkeit" der EU, und zwar vor allem bei der Frage, die er noch vor der Migration für den Kern des Problems hält: die wirtschaftliche und soziale Spaltung der EU. "Der Rechtspopulismus verdankt sich in erster Linie der verbreiteten Wahrnehmung der Betroffenen, dass der EU der politische Wille fehlt, handlungsfähig zu werden", sagte Habermas in einer Rede vorige Woche und beschrieb "die politischen Eliten im Sog eines kleinmütigen, demoskopisch gesteuerten Opportunismus kurzfristiger Machterhaltung." Viel Zuversicht verbreitete Habermas nicht. (dpa/rs)

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