Digitalwüste Deutschland

Land der "Digital Idiots"?

Kommentar  22.01.2021
Peter Rausch lehrt als Professor für Wirtschaftsinformatik an der Technischen Hochschule Nürnberg.
Deutschland fällt als digitale Wüstenlandschaft zunehmend unangenehm auf.
Die Zukunftsfähigkeit Deutschlands hängt entscheidend davon ab, ob in Sachen Digitalisierung ein Ruck sowohl durch die Bevölkerung als auch die deutschen Unternehmen und Institutionen geht.
Die Zukunftsfähigkeit Deutschlands hängt entscheidend davon ab, ob in Sachen Digitalisierung ein Ruck sowohl durch die Bevölkerung als auch die deutschen Unternehmen und Institutionen geht.
Foto: Gemenacom - shutterstock.com

Die deutsche Tageszeitung "welt.de" titelte vor Kurzem: "Faxgerät und Zettelwirtschaft - Gesundheitsbehörden irren durch die Pandemie". Und in einigen Regionen Deutschlands brachen nach den Schulferien die Lernplattformen der Schulen zusammen, um ein weiteres Beispiel zu nennen. Selbst die ausländische Presse attestiert Deutschland ein "Fremdeln mit der DigitalisierungDigitalisierung" und ein "fundamentales Problem". Alles zu Digitalisierung auf CIO.de

Vielen Deutschen gelte Technik gar als Teufelszeug, hieß es in der schweizerischen "NZZ". Das peinliche Stolpern deutscher Institutionen und Behörden durch die Corona-Pandemie ist - allen Bemühungen des Personals zum Trotz - augenscheinlich. "Fremdeln" die Deutschen also wirklich mit der Digitalisierung? Vielleicht ist die Industrie ja besser aufgestellt?

Digital Mindset? Keine Spur

Hinweise hierzu finden sich in einer Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2020. Die repräsentativen Befragung von knapp 1000 deutschen Führungskräften ergab, dass mehrheitlich Zweifel an der Innovationsfähigkeit der Betriebe in Deutschland bestehen. Fast die Hälfte der Interviewten sieht in deutschen Unternehmen Rückstände im Bereich der Digitalisierung beziehungsweise in innovativen Technologien wie Künstlicher Intelligenz oder Big Data.

Hinzu kommt ein knappes weiteres Drittel, das diesem Befund zumindest in Teilen zustimmt. Diese Ergebnisse decken sich mit den Zahlen einer anderen weltweit betriebenen Untersuchung, wonach sich mehr als die Hälfte der Unternehmen hierzulande in Bezug auf das Datenzeitalter nicht vorbereitet sieht.

Professor Tobias Kollmann, Experte im Bereich Digital Leadership, liefert hierfür eine mögliche Erklärung. Damit digitaler Wandel gelingt, müssen Entscheidungen unter unsicheren Bedingungen getroffen werden. Ob sich eine Investition in eine neue Technologie lohnt, kann oft nur subjektiv eingeschätzt werden. In vielen Unternehmen soll aber alles auf mehr oder weniger abgesicherten Prognosen basieren, was sich im Zeitalter des digitalen Wandels meist nur schwer realisieren lässt. Zudem widerspricht es der deutschen Kultur der Planungssicherheit.

In größeren Organisationen sind darüber hinaus starre Unternehmensstrukturen und fehlende Risikobereitschaft hinderlich. Bei Anreiz- und Belohnungssystemen stehen oft Ergebniszahlen aus dem laufenden Geschäft im Vordergrund und nicht die zukunftsorientierte Ausrichtung auf neue digitale Geschäftsmodelle, so Kollmann. Von einem Digital Mindset kann also keine Rede sein. Hinzu kommt, dass der Wertbeitrag der IT, also der Anteil der IT an der Leistungsfähigkeit des Unternehmens, eher selten betrachtet wird.

Auf einem Auge blind, schauen viele zunächst auf die Kosten der Digitalisierung. Die Umkehrfrage nach den Folgekosten einer veralteten oder nicht vorhandenen IT-Landschaft wird hingegen selten gestellt. Es wäre ja auch ketzerisch zu fragen, wie viele Monate milliardenteuren Lockdowns man hätte sparen oder gar wie viele Menschenleben man hätte retten können, wenn die Bevölkerung und die staatlichen Institutionen in Deutschland im Jahr 2020 mit intelligenterer Technik ausgestattet gewesen wären.

Könnte es nicht auch eine digitale Revolution "von unten" geben, wenn wir daraus nicht lernen? IT-Fachkräfte, IT-Nerds oder "Digital Natives" hätten das Potenzial, Startups zu gründen und so den digitalen Wandel zu beflügeln. Besonders IT-Nerds, welchen oft das negativ stereotype Bild der sozialen Inkompetenz anhaftet und die meist nur in der IT-Szene gesellschaftliche Anerkennung erfahren, hätten hierzu das technische Know-how. Zudem gibt es in Deutschland immerhin schon eine Reihe von Tech-Inkubatoren, die Startup-Ideen unterstützen und die eine Vernetzung dieser "IT-Freaks" mit Wissensträgern aus verschieden Bereichen fördern.

Digital Idiots statt Digital Natives?

Andererseits steht der viel zitierte Fachkräftemangel in Verbindung mit den Altersstrukturen in Deutschland der Digitalisierung im Wege. IT-Nerds müssen jedoch nicht zwangsläufig "Digital Natives" also Personen, die in der digitalen Welt aufgewachsen sind, sein. Digital Natives wiederum sind nicht immer IT-Nerds. Sie können auch sogenannte "Digital Idiots" sein.

Dieses im Netz geprägte Prädikat bezeichnet technikbesessene Personen, die stets das neueste mobile Endgerät besitzen, zum Beispiel ein Smartphone oder Tablet von einer renommierten Marke, das sie gerne als Statussymbol zeigen, aber selbiges nur für sehr einfache Anwendungsfälle nutzen. Werden sie zu etwas tiefergreifenden Funktionalitäten befragt, sind sie schnell ratlos und überfordert. Ohne fremde Hilfe scheitern sie nicht selten bereits beim Herunterladen von Apps oder beim Vornehmen von einfachen Sicherheitseinstellungen. "Digital Natives" und "Digital Idiots" werden in der Praxis oft verwechselt.

Im Gegensatz zu "Digital Natives" haben "Digital Immigrants" die digitale Welt erst im Erwachsenenalter kennengelernt. Sie müssen aber nicht unbedingt "Digital Idiots" sein. Auch wenn zur Relation von IT-Nerds zu "Digital Idiots" in Deutschland keine verlässlichen Zahlen vorliegen, mangelt es seitens der Politik nicht an Bekundungen, den Bildungssektor im IT-Bereich auszubauen und die IT-Kompetenzen in Deutschland zu stärken.

Dabei darf es allerdings nicht nur um die Bedienung von Computern gehen, sondern darüber hinaus auch um andere Kompetenzen wie beispielsweise die Wirtschaftlichkeitsbewertung von neuen Technologien, die Prozessgestaltung mit IT, die Entwicklung von IT-Lösungen in interdisziplinären Teams oder auch das Management von IT-Systemen.

Doch selbst, wenn die ehrgeizigen Ambitionen in der Bildungspolitik umgesetzt werden können, wird ein digitales Mindset nicht von heute auf morgen entstehen. Ohne Commitment seitens der Unternehmen beziehungsweise auch staatlicher Institutionen und der Vereinfachung bürokratischer Auflagen sowie der pragmatischen Klärung juristischer Fragen, zum Beispiel im Bereich des Datenschutzes, wird sich an der aktuellen Situation in Deutschland - trotz erhöhtem Leidensdruck durch die aktuelle COVID-19-Pandemie - nicht viel ändern.

In jedem Fall sollte grundlegendes IT-Wissen im Jahr 2021 Bestandteil der Allgemeinbildung sein. Hier steckt im schulischen Bereich noch vieles in den Kinderschuhen. So fand eine repräsentative Studie 2018 heraus, dass deutsche Schüler und Schülerinnen zwar grundsätzlich mit Computern umgehen können, es aber dennoch gravierende Defizite gibt. Einerseits stellt alles, was auf einem mobilen Endgerät durch Klicken und Wischen funktioniert, die Wenigsten vor Probleme.

Auch schnell ein kleines Video drehen und ins Internet stellen können mittlerweile viele. Doch längst nicht alle aus dieser Gruppe verstehen, wie Computerprogramme arbeiten beziehungsweise haben kein tiefergreifendes IT-Wissen und fallen somit in die Kategorie der Digital Idiots. Der Erhebung zufolge besitzt jeder dritte Schüler oder Schülerin in Deutschland nur geringe Computerkenntnisse.

Ist Deutschland also noch zukunftsfähig? Vielleicht hilft ja ein Blick in die Vergangenheit. 1997 stellte der damalige Bundespräsident Roman Herzog im Zuge der allgemeinen Ernüchterung nach Jahren der Wiedervereinigungseuphorie in seiner berühmten Rede "Aufbruch ins 21. Jahrhundert" fest, dass man in Deutschland kühne Zukunftsvisionen entwirft und umsetzt. Ganz überwiegend würden jedoch Mutlosigkeit und Krisenszenarien gepflegt werden.

Ja sogar ein Gefühl der Lähmung soll damals über unserer Gesellschaft gelegen haben. Kommt uns dieses Gefühl im Jahr 2021 im Kontext der allgemeinen Pandemiemüdigkeit und der nun augenscheinlich werdenden Digitalisierungsdefizite in Deutschland nicht irgendwie bekannt vor?

Deutschland sucht Bildungskanon

Doch wie ist dem Dilemma beizukommen? Auch hier kann der Blick auf Herzogs Rede weiterhelfen. Er forderte damals, dass ein Ruck durch Deutschland gehen müsse. Damit meinte das ehemalige Staatsoberhaupt natürlich keinen Ruck im Sinne rechts- oder linksradikaler Kräfte, sondern forderte die Deutschen vielmehr dazu auf, die verkrusteten Strukturen in ihrem Land aufzubrechen.

Das Ansprechen der unbequemen Wahrheiten und die sprachliche Direktheit stießen vor mittlerweile fast 24 Jahren auf große Resonanz. Das Aufbrechen verkrusteter Strukturen, das zweifelsohne immer noch von Nöten wäre, setzt bei allen Bevölkerungsgruppen inklusive des Managements von Unternehmen eine gewisse Aufgeschlossenheit gegenüber Neuem und speziell auch gegenüber der scheinbar so seltsamen Welt der IT voraus.

Somit können alle zu einer Kultur des Wandels und damit zur Zukunftsfähigkeit Deutschlands beitragen. Wenn dies noch von einem Bildungskanon des 21. Jahrhunderts, der die oben angedeuteten Kompetenzen einschließt, flankiert und seitens der Politik ernsthaft unterstützt wird, dann könnte aus der Digitalwüste Deutschland wieder fruchtbarer Boden werden. Vielleicht ist dieser Artikel ja ein kleiner Anstoß für einen Digitalisierungs-Ruck in Deutschland im Jahr 2021.

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