Mutter aller Krisen?

Lehman-Pleite wirkt nach

08.09.2023
Bankenkrise, Börsencrash, BIP-Absturz: Die Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers im Herbst 2008 hatte immense Folgen. Wie tief der Schock sitzt, zeigt sich noch 15 Jahre danach.

"Lehman 2.0" - wann immer eine Krise sich zuspitzt, ist der Vergleich mit dem Herbst 2008 nicht weit. 2020 Corona-Pandemie: Trifft das Virus die Wirtschaft verheerender als die Finanzkrise 2008/2009? 2021 Evergrande: Beginnt mit der Schieflage des chinesischen Immobiliengiganten ein Abwärtsstrudel? 2023 Silicon Valley Bank und Credit Suisse: Sind die Probleme regionaler US-Banken und die Notübernahme der zweitgrößten Schweizer Bank der Anfang einer weltweiten Krise? Die Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008 hat sich tief ins kollektive Gedächtnis eingegraben. In den 15 Jahren seither hat sich jedoch viel verändert.

Lehman Brothers war am 15.09.2008 Geschichte - mit dramatischen Folgen.
Lehman Brothers war am 15.09.2008 Geschichte - mit dramatischen Folgen.
Foto: Felix Lipov - shutterstock.com

Rückblende: Nach einem dramatischen Wochenende mit Verhandlungen bis tief in die Nacht steht an einem Montagmorgen im September 2008 fest: Die Rettung der weltweit vernetzten US-Investmentbank Lehman Brother ist gescheitert. Der Staat lässt eine 158 Jahre alte Bank fallen, die eigentlich als zu groß zum Scheitern galt ("too big to fail"). Bilder von Bankern, die ihr Hab und Gut in Kartons gestopft aus einem New Yorker Büroturm tragen, gehen um den Globus. Die wegen der US-Immobilienkrise bereits seit Monaten alarmierte Finanzwelt steht unter Schock, die Weltwirtschaft gerät an den Rand des Kollaps.

Rettungspakete und Zinssenkungen

Eilig schnüren Regierungen milliardenschwere Rettungspakete, die großen Notenbanken senken in einer Notfallaktion gemeinsam die Zinsen. Allein die Staaten der Europäischen Union pumpen in den Monaten nach der Lehman-Pleite rund 1,6 Billionen Euro in strauchelnde Banken. Der teure Feuerwehreinsatz verhindert das Schlimmste gerade noch, auch wenn die Konjunktur einbricht und der Abwärtssog weitere Geldhäuser in den Abgrund reißt.

Nach der großen Krise beginnt das große Aufräumen: Mehr Kontrolle und schärfere Regeln sollen die eng verflochtene Finanzwelt krisenfester machen. Generell sind Geldhäuser heute verpflichtet, Risiken durch mehr eigenes Kapital abzusichern. Regelmäßig müssen die Institute sowohl in den USA als auch in Europa in Stresstests beweisen, dass die Puffer auch im Fall extremer Krisensituationen ausreichen würden.

Die Europäer setzen zudem auf ein Dreigestirn aus zentraler Bankenaufsicht, gemeinsamen Regeln zur Sanierung und notfalls Schließung von Banken sowie einem grenzübergreifenden Schutz der Guthaben von Bankkunden. Doch während die neue Euro-Bankenaufsicht ("Single Supervisory Mechanism"/SSM) unter Führung der Europäischen Zentralbank (EZB) seit November 2004 und die gemeinsame europäische Bankenabwicklung ("Single Resolution Mechanism"/SRM) seit Anfang 2016 etabliert sind, scheitert die gemeinsame EU-Einlagensicherung bis heute an Widerständen - unter anderem aus Deutschland mit seinen vergleichsweise gut gefüllten Notfalltöpfen.

Finanzsystem jetzt stabiler

Dennoch fällt das Fazit von Aufsehern positiv aus. Seit der Finanzkrise 2007/2008 sei das globale Finanzsystem stabiler geworden, sagte der Präsident der deutschen Finanzaufsicht Bafin, Mark Branson, im Mai 2023 angesichts seinerzeit aufkommender Sorgen, die Serie von Bankenpleiten in den USA könnte der Beginn einer neuen weltweiten Systemkrise sein.

"Wir haben bereits vieles geschafft, doch wir sind noch lange nicht fertig", sagte Branson. "Aus meiner Sicht müssen wir es schaffen, dass die Schieflage eines kleineren oder mittelgroßen Instituts keine unnötigen Ansteckungsängste mehr auslöst." Zudem müssten auch große, systemrelevante Banken im Fall einer Schieflage abgewickelt werden können. "Das war ein zentrales Anliegen der Reformen nach der Krise 2007/2008. Nie wieder sollte ein Institut zu groß zum Scheitern sein. Dieses Ziel dürfen wir nicht aufgeben", mahnte der Chef der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin).

Allerdings: Internationale Standards für die Finanzbranche durchzusetzen ist trotz aller politischen Bekundungen alles andere als einfach. Die Umsetzung der 2017 verabschiedeten Bankenreformen - im Fachjargon "Basel III" und "Basel IV" genannt - zieht sich seit Jahren. Die USA lockerten unter Präsident Donald Trump sogar die Vorschriften für mittelgroße Banken.

Im Lichte der jüngsten Entwicklungen mahnte im April 2023 der Finanzstabilitätsrat die Finanzminister und Notenbankgouverneure wichtiger Wirtschaftsnationen (G20): "Die vollständige, rechtzeitige und konsequente Umsetzung der internationalen Finanzstandards bleibt der Schlüssel zur Stärkung der globalen Finanzstabilität." Der international besetzte Finanzstabilitätsrat (Financial Stability Board/FSB) soll Schwachstellen des weltweiten Finanzsystems identifizieren, Vorschläge zu ihrer Beseitigung unterbreiten und deren Umsetzung überwachen.

Über allem schwebt die bange Frage: Kann ein Fall wie Lehman sich wiederholen? Den jüngsten Stresstest zumindest haben Europa große Banken in Summe besser überstanden als die Krisenübung zwei Jahre zuvor. Eine Verschärfung der geopolitischen Spannungen plus ein Wiederaufleben der Corona-Pandemie unterstellt, müssten die Geldhäuser demnach binnen drei Jahren Verluste von 496 Milliarden Euro verkraften. Obwohl ihre Kapitalpuffer dabei um 271 Milliarden Euro schrumpfen würden, könnten die Banken die Wirtschaft auch in einer derart ernsthaften Konjunkturkrise noch unterstützen, stellte die europäische Bankenaufsicht EBA fest - und dass, obwohl die EBA nach eigenen Angaben noch nie ein so harte Krisenszenario simuliert hat wie im Stresstest 2023. (dpa/ad)

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