Jobwunder oder Demografiefalle?
Ost-Arbeitsmarkt im Wandel
Dresden, Halle, Jena, Rostock oder Potsdam als Jobziel für junge Westdeutsche: Für Michael Behr ist das mehr als eine Hoffnung. "Hier werden bald unglaublich viele Posten bei Mittelständlern neu besetzt. Ostdeutschland wird zur Region der schnellen Karrieren", glaubt der Soziologieprofessor und Arbeitsmarktexperte. Hunderttausende neue, sozialversicherungspflichtige Jobs entstanden in den vergangenen zehn Jahren zwischen Ostsee und Erzgebirge. Die Arbeitslosenquote liegt nicht mehr fast doppelt so hoch, sondern nur noch einige Prozentpunkte über dem westdeutschen Schnitt.
Mehr noch: In Thüringen, dem Arbeitsmarktprimus im Osten, ist die Arbeitslosigkeit nach den Statistiken der Bundesagentur seit Monaten geringer als in Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Bremen oder dem Saarland. Thüringens südliche Spitze zu Bayern, traditionell eine Pendlerregion, verzeichnete im November 2016 mit einer Quote von 3,3 Prozent fast Vollbeschäftigung. Auch in Sachsen-Anhalt, Sachsen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern ist der Arbeitsmarkttrend positiv, allerdings mit großen regionalen Unterschieden.
Fast überall suchen Firmen Facharbeiter, Ingenieure und Azubis. Manche sprechen bereits von einer "Besetzungsnot". Auch sehen sich viele Nachwende-Gründer für ihre mittelständischen Betriebe nach Nachfolgern um. Von einem Beschäftigungswunder Ost ist dennoch nicht die Rede.
"Wenn man nur die Entwicklung der Arbeitslosenquote betrachtet, ist es ein großer Erfolg", sagt der Chef der Landesarbeitsagentur Sachsen-Anhalt-Thüringen, Kay Senius. "Aber es ist falsch, daraus zu schließen, der Arbeitsmarkt ist ohne Probleme. Es gibt erhebliche Risiken." Für Entspannung sorge in erheblichem Maß die Demografie: "Es gehen seit Jahren mehr Menschen in Rente als junge Leute ins Arbeitsleben kommen."
Die Massenarbeitslosigkeit nach dem Strukturwandel in den 1990er Jahren führte zur massenhaften Abwanderung qualifizierter und vor allem junger Ostdeutscher. Nun sind die Folgen spürbar: Etwa jeder dritte Arbeitnehmer im Osten ist älter als 50 Jahre, sagen Untersuchungen des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesarbeitsagentur. Und der Anteil der Betriebe mit unbesetzten Ausbildungsplätzen ist im Osten fast doppelt so hoch wie im Westen.
Der demografische Effekt, der zur Entlastung des Arbeitsmarkts führt, ist damit Segen und Fluch zugleich. Schon jetzt sei die Beschäftigungsquote der Menschen im erwerbsfähigen Alter in Sachsen und Thüringen höher als in anderen Bundesländern, sagt Behr. Der Abteilungsleiter Arbeitsmarkt im Thüringer Sozialministerium ist bekennender Optimist. Doch eine Zahl treibt ihm Sorgenfalten auf die Stirn: Bis zum Jahr 2035 wird die Zahl der Erwerbsfähigen allein in Thüringen um 29 Prozent schrumpfen - und damit schneller als die Bevölkerung. "Im ländlichen Raum sind es sogar 35 Prozent."
Fachleute sind sich einig: "Das Fachkräfteproblem kann ohne Zuwanderung aus anderen Bundesländern und vor allem dem europäischen Ausland nicht gelöst werden", sagt Agenturchef Senius. Die Hoffnung, dass viele Abwanderer und Pendler wieder Jobs in der Heimat annehmen, hat sich bisher nicht erfüllt. Senius: "Es pendeln weniger aus, aber es kommen nur wenige zurück."
Ein Grund dafür ist das Lohnniveau - laut IAB steht im Osten im Schnitt etwa ein Fünftel weniger auf dem Gehaltszettel, in einigen Bereichen sind es bis zu 30 Prozent. Das liegt nach Meinung von Fachleuten auch an der kleinteiligen Wirtschaftsstruktur und dem Mangel an Konzernzentralen mit ihren gut bezahlten Stellen.
Behr verweist auf tendenziell steigende Löhne und Gehälter, mögliche Karrieresprünge und einen Vorteil, mit dem der Osten auch punkten könne: Vereinbarkeit von Familie und Beruf. "Es gibt gute Kinderbetreuungsangebote und vergleichsweise günstige Möglichkeiten, ein Häuschen zu erwerben." (dpa/ad)