Am Scheideweg
Was Deutschland an Europa hat
Der frühere Bundespräsident Horst Köhler hat einmal bei einem Workshop mit Jugendlichen eine simple Antwort auf die Frage, was Europa zusammenhält, gegeben: "Frieden". Vor allem die Älteren, die noch den Zweiten Weltkrieg oder die unmittelbare Nachkriegszeit erlebt haben, sehen das Friedensprojekt EU als entscheidende Triebfeder. Die anderen freuen sich über grenzenloses Reisen, Erasmus und andere Austauschprogramme. Doch nicht erst die Flüchtlingsströme haben große Unsicherheit gebracht - auch massive Abstiegsängste im Zuge der Globalisierung spielen eine Rolle. Plötzlich steht vieles in Frage - stolpern wir wie ein Schlafwandler in eine Krise hinein, die Jahrzehnte an Aufbauarbeit zerstören kann?
Angstthema Flüchtlinge
Nichts entzweit die 28 Staaten so, wie das Jahrhundertthema Migration - macht einer die Grenzen dicht, können andere folgen, nationales Handeln statt gemeinsame Kompromisssuche. Und Menschen als Spielball. Beim EU-Gipfel geht es am Donnerstag und Freitag somit auch um die Zukunftsfähigkeit der Europäischen Union - und am Ende auch um das Fortbestehen der Bundesregierung in Berlin.
Populistische Kräfte gewinnen an Bedeutung, in Italien sind sie jetzt an der Regierung. Die Demokratien geraten unter Druck, Großbritannien ist bereits den Schritt des EU-Ausstiegs gegangen (Brexit).
Einheit gegen Nationalismus
Wenn jeder wieder macht, was er will, auf Alleingänge statt Absprachen setzt, könnte es zwischen den Staaten in Europa verstärkt knirschen. Und der Aufstieg Chinas, die Entfremdung mit den USA zeigen, nur gemeinsam kann Europa in stürmischen Zeiten globalen Veränderungen trotzen. Und wenn Deutschland schon woanders registrierte Flüchtlinge abweisen würde, befürchtet nicht nur der frühere Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) "vagabundierende Flüchtlingsströme" und einseitige nationale Maßnahmen anderer Staaten - auf Dauer könnten wieder überall die Schlagbäume hochgezogen werden.
Entgegen den gefühlten Fakten: Deutschland ist großer EU-Profiteur.
Gemeinsame Währung
Rund 337 Millionen Menschen in der Europäischen Union zahlen heute mit dem Euro - statt wie früher mit D-Mark, Franc oder Lira. 19 von 28 EU-Mitgliedstaaten haben inzwischen ihre nationalen Währungen aufgegeben und den Euro als Gemeinschaftswährung übernommen; es gibt kein lästiges Umrechnen von Kursen mehr und kein Umtauschen. 2002 wurde der Euro als Zahlungsmittel eingeführt. Wie kein anderes Land hat Deutschland als wirtschaftsstärkster Staat durch den Euro gewonnen. Die deutsche Wirtschaft befindet sich auch deshalb heute in einer der längsten Aufschwungphasen seit den 1980er Jahren. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wuchs nun acht Jahre in Folge.
Binnenmarkt
Seit zwölf Jahren nimmt die Beschäftigung in Deutschland zu - ohne EU-Binnenmarkt undenkbar. Der Handel ist frei, es gibt keine Zölle, gemeinsame Normen und Standards für die Unternehmen erleichtern den Warenaustausch. Auch in Südeuropa wächst die Wirtschaft wieder, Griechenland etwa profitiert im Tourismus. Deutschland hat mit Abstand den größten Anteil am EU-weiten BIP mit einem Anteil von 21,3 Prozent. Ohne ein einiges Europa und die entsprechende Handelsumsätze würden die Steuereinnahmen nicht so sprudeln, Sozialleistungen und Renten müssten eher gekappt werden.
Exportmotor
Rund 60 Prozent der deutschen Exporte gehen nach Angaben des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) in die EU. Deutsche Betriebe exportierten 2017 Waren im Wert von rund 749 Milliarden Euro in die EU - in die USA gingen Lieferungen im Wert von 111 Milliarden Euro. Deutsche Unternehmen haben in anderen EU-Ländern Produktionskapazitäten in Höhe von rund 800 Milliarden Euro aufgebaut und beschäftigen 3,3 Millionen Menschen. Aber: Die ökonomischen Ungleichgewichte sind enorm, dies ist ein Grund dafür, dass in Italien Lega und Fünf Sterne an die Regierung gekommen sind.
Krisenhilfen
Sicher, Deutschland ist enorme Risiken eingegangen, viele Milliarden wären bei einer Griechenland-Pleite weg gewesen. Aber hier gelang es Europa zusammenzuhalten. "Scheitert der Euro, scheitert Europa", lautete ein Kernsatz von Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Und entgegen allen Behauptungen der AfD: Deutschland ist bisher einer der größten Profiteure der Milliardenhilfen zur Rettung Griechenlands, hat seit 2010 mindestens 2,9 Milliarden Euro an Zinsgewinnen gerade bei Anleihegeschäften verdient. Finanzminister Olaf Scholz (SPD) prüft, einen Teil der Gelder an Athen abzutreten.
Der Ursprung, die blutige Vergangenheit, geraten aus dem Blick.
Historische Leistung
Doch Deutschland hat auch anderweitig von der europäischen Einigung profitiert. Nach den Verbrechen des Nationalsozialismus, nach Holocaust und Zweitem Weltkrieg konnte die Bundesrepublik im europäischen Rahmen wieder zur Macht in Mitteleuropa aufsteigen, gerade weil sie sich in der Außen- und Sicherheitspolitik zurückhielt. Erst die Wiedervereinigung hat das deutsche Selbstbewusstsein über seine Führungsrolle in Europa in gewisser Weise normalisiert. Und erst 2014 konnte der damalige Bundespräsident Joachim Gauck die neue internationale Verantwortung Deutschlands festschreiben - nicht unwidersprochen, aber fast.
Krieg und Frieden
Vor 100 Jahren endete der Erste Weltkrieg, vor 400 Jahren begann der Dreißigjährige Krieg - die EU war und ist vor allem auch eine Antwort auf die blutige europäische Geschichte. Für Ex-Kanzler Helmut Kohl (1930- 2017) war die EU deshalb stets mehr als eine Wirtschafts- und Zollunion, nämlich eine "Frage von Krieg und Frieden". So wie es auch später Bundespräsident Köhler betont hat. (dpa/rs)