"Unser Business-Modell ist in den vergangenen Jahren extrem komplex geworden", sagt Ales Drabek. "Die Herausforderungen wachsen täglich." Als Unternehmensgründer Max Conrad 1923 in Berlin begann, Bauteile für Radios zu verkaufen, war die Welt noch überschaubar. Heute beschäftigt Conrad Electronic weltweit rund 4000 Mitarbeiter und erwirtschaftet einen Umsatz von mehr als einer Milliarde Euro.
Rund 50.000 Produkte hatte der Elektronikhändler 2001 gelistet, mittlerweile sind es 800.000 für Privat- und 1,4 Millionen für Business-Kunden. Für 2020 rechnet Drabek mit zehn Millionen. Damit einher geht ein exponentielles Datenwachstum: Schon heute verwaltet das Unternehmen 200 Millionen individuelle Preispositionen, jedes Jahr sind 30 Millionen Artikeldaten-Änderungen vorzunehmen. Hinzu kommen die gravierenden Veränderungen, die der digitale Wandel in der Handelsbranche mit sich bringt.
Das seit 1946 im oberpfälzischen Hirschau ansässige Unternehmen reagiert darauf mit einer umfassenden Modernisierungs- und Transformationsstrategie. Verantwortlich dafür ist Drabek, der den eher seltenen Titel Chief Digital & Disruption Officer (CDDO) trägt. Einen ausgewiesenen CIO gibt es bei Conrad nicht, Drabek nimmt alle damit verbundenen Aufgaben in Personalunion wahr.
"Das Management wollte nur eine einzige Position auf C-Level, die für alle Themen rund um IT, Digitalisierung, Daten und allgemeine Technik verantwortlich zeichnet", erläutert er die Gründe. Zu seinen Aufgabengebieten gehören demgemäß nicht nur die Hardware- und Softwareausstattung, sondern auch so komplexe Themen wie Daten, Lösungen und neue Geschäftsmodelle.
Drabek kennt sich aus in der Handelsbranche. Vor seinem Einstieg bei Conrad im April 2016 war der gelernte Mathematiker als Director of Global Channels für den Metro-Konzern tätig. Davor arbeitete er für die Drogeriemarktkette Rossmann und den Bekleidungshändler C&A.
"Freedom in the Framework"
Die Migration in die Cloud ist nur der Anfang, räumt der Manager ein. Historisch bedingt sei die IT des Handelsunternehmens sehr zentral organisiert. Einmal genehmigte Systeme am Hauptsitz in Hirschau würden in der Regel sukzessive in den Länderniederlassungen ausgerollt. Vor gut zwei Jahren hat Drabek die Devise "Freedom in the Framework" ausgegeben. Was damit gemeint ist, erklärt er mit einer Analogie aus dem Fußball: "Das Fußballfeld bildet den Rahmen. Hier gelten Regeln, an die sich alle zu halten haben." Innerhalb des Rahmens aber könnten Organisationseinheiten oder auch gemischte Teams weitgehend selbständig agieren.
Zum großen Rahmen gehört für Conrad Electronic die Google Cloud Platform (GCP). Schon seit 2016 arbeiten die Oberpfälzer eng mit dem US-Konzern zusammen. Drabek nennt mehrere Gründe für seine radikale Cloud-Strategie: User Experience aus Kundenperspektive, Innovationen, Skalierbarkeit und Kosten.
Dass die Kundenerfahrung an erster Stelle steht, ist kein Zufall: "Vor allem aus Sicht der Kunden bringt uns die Cloud eine bessere Performance sowie schnellere und überall erreichbare Systeme", erläutert der Manager. Die hauseigenen Softwareentwickler könnten in der Cloud schneller arbeiten, aufwendige Aufgaben wie das Testing ließen sich automatisieren. So könnten sich die Entwickler auf ihre eigentlichen Aufgaben konzentrieren und beispielsweise schneller auf neue Kundenanforderungen reagieren. Hinzu komme der Einsatz von Machine-Learning-Techniken aus der Cloud, der sich ebenfalls auf die User Experience auswirke.
Neben Vorteilen in Sachen Skalierbarkeit gibt es auch bei Conrad handfeste Kostengründe, die für einen Cloud-Einsatz sprechen. In der Zentrale hat das Unternehmen noch etliche leistungsstarke Hardwaresysteme in Betrieb, die auf eine Maximallast ausgelegt sind. Gebraucht werden die Ressourcen aber nur in wenigen kurzen Perioden im Jahr, beispielsweise bei Lastspitzen im Weihnachtsgeschäft. In der Cloud-Welt bezahlt das Unternehmen in der Regel nur für tatsächlich genutzte Dienste.
Software-Entwicklung in der Cloud
Mehr als die Hälfte der Wegstrecke in die Cloud habe man bereits geschafft, berichtet Drabek. Auf der Cloud-Plattform arbeiteten heute beispielsweise die gesamte E-Commerce-Middleware und alle Frontend-Systeme. Auch erste Backend-Systeme wie das Digital-Asset-Management laufen in der Cloud. Unter Middleware versteht der Manager eine Microservices-basierte Plattform, auf der alle kundennahen Prozesse wie Pricing und Fulfillment laufen. Conrad hat einige dieser Anwendungen in der Google Cloud selbst entwickelt. Für das Management der aktuell rund 1050 Microservices setzt das IT-Team unter anderem auf Containertechniken, wie sie Google mit seiner Kubernetes Engine anbietet.
Auch das CRM-System baut Drabeks Team lieber selbst in der Google Cloud. Ein "System von der Stange" wie etwa Salesforce.com würde Conrad Nachteile bringen, führt er aus. Denn dazu müsste die IT etliche maßgeschneiderte und bewährte Funktionen ausmustern, die die Mitarbeiter bislang in mehreren kundenbezogenen Anwendungen nutzen.
S/4HANA-Migration steht noch aus
Nachholbedarf gibt es im Backend. Hier laufen noch etliche SAP-Kernsysteme lokal, darunter das Order- und das Lieferanten-Management sowie das Product Information System (PIM). Bis 2020 will Drabek die Migration auf S/4HANA gestemmt haben. Das System soll allerdings nicht in SAPs Cloud-Umgebung, sondern in der Google Cloud laufen. Als Gründe nennt der Digitalchef neben Kostenvorteilen die "technische Überlegenheit" der Google Cloud. Zudem erreiche man eine bessere Performance, wenn alle Systeme in einer Cloud betrieben würden statt auf mehreren unterschiedlichen Plattformen. Hinzu komme die Möglichkeit, die gesamten Daten in der Cloud zu verwalten und auch mit Hilfe von Machine-Learning-Services zu nutzen.
Aufgeräumt hat Drabek bereits im Bereich Datenhaltung für die E-Commerce-Plattform. Die lange Zeit genutzten Oracle-Datenbanken löste er durch das Open-Source-System PostgreSQL ab. Das lokale Data Warehouse will er durch ein System auf Basis von Apache Kafka in der Google Cloud ersetzen. Am Ende der Cloud-Migration werde man sich dann auch für das Rechenzentrum in Hirschau einen anderen Einsatzzweck überlegen müssen.
Vertikale Teams entwickeln Software
Auch in der Anwendungsentwicklung geht der Digital-Manager neue Wege. Sogenannte vertikale Teams für Bereiche wie "Produkt", "Suche" oder "Checkout" arbeiten weitgehend selbständig an ihren Programmen. Sie nutzen agile Methoden und können beispielsweise eigenständig entscheiden, wann sie ein neues Release ausliefern. Laut Drabek kann es sich dabei auch um sehr kurze Zyklen handeln. Zu den Mitgliedern eines vertikalen Teams gehören neben dem Product Owner sowohl IT-Spezialisten als auch Fachexperten oder Datenexperten, die sich beispielsweise um Requirements oder Prozessfragen kümmern.
Eng verbunden mit der Cloud-Strategie sind die digitalen Aktivitäten. Conrad Electronic verfolgt dabei drei Stoßrichtungen:
Kundenbezogene Initiativen,
Digitalisierung für die eigenen Mitarbeiter,
Innovationen mit dem Schwerpunkt IoT.
Im ersten Bereich gehe es um die Frage: "Was tun wir für die Kunden?", erläutert der CDDO. Aus strategischer Sicht wolle man sowohl mit den auf Consumer ausgerichteten Online-Kanälen wachsen als auch mit dem Kanal zu Unternehmenskunden. Drabek: "Am Ende möchten wir eine Plattform sein, die für B2C- und B2B-Kunden Mehrwerte schafft." Dazu habe man beispielsweise den "Conrad Marketplace" aufgebaut, auf dem B2B-Kunden auf ein ständig wachsendes Technik- und Elektroniksortiment von Conrad selbst und von Partnern zugreifen könnten.
Über eine API-Plattform können Geschäftskunden zudem beispielsweise Daten zu Produkten, Preisen und Umsätzen abrufen und in ihre eigenen Systeme einspielen. Darüber hinaus können sie die E-Procurement-Lösungen von Conrad nutzen und so ihre internen Prozesse optimieren.
Eine relativ junge Initiative ist die Serviceplattform "Conrad Friends". Privat- und Geschäftskunden können darüber anderen Nutzern Installations- und Reparaturdienste sowie Produkttrainings anbieten.
G Suite für 4.000 Mitarbeiter
Geht es um die Digitalisierung für die eigenen Mitarbeiter, denkt Drabek vor allem an Skills und geeignete Tools: "Wir fragen uns: Welche Core-Systeme brauchen unsere Mitarbeiter und welche Fertigkeiten sind in Zukunft wichtig?" In Sachen Softwarewerkzeuge sei es beispielsweise unabdingbar, dass diese den Mitarbeitern eine geräte- und ortsunabhängige Zusammenarbeit ermöglichten.
Insbesondere mit Blick auf die Collaboration-Features habe sich Conrad entschieden, Microsofts Office-Paket unternehmensweit durch Googles G Suite zu ersetzen. Konkret bedeute das: Alle 4.000 Mitarbeiter nutzen das Google-Paket aus der Cloud. "Natürlich gab es auch Widerstände", räumt der Manager ein. "Vor allem der mit Microsoft Office verbundene 'Way of Working' war stark in den Köpfen verankert." Die Entscheidung für die G Suite sei top-down gefallen: "Es gab keine großen Diskussionen und auch keine Proof of Concepts. Das Management hat gesagt: Wir machen das."
Zu den neuen Tools aus der Cloud gehört auch Google Sites. Mitarbeiter können damit ohne technische Vorkenntnisse eigene Websites bauen und gemeinsam nutzen. Über die Low-Code-Plattform Google App Maker können Fachanwender eigene Business-Anwendungen erstellen, ohne dazu eine Programmiererausbildung durchlaufen zu müssen.
Machine Learning aus der Cloud
Mit der Cloud-Plattform als technischer Basis eröffnen sich für die Conrad-Mitarbeiter neue Möglichkeiten, wenn sie etwa Machine-Learning-Dienste nutzen möchten. Im Bereich Digital-Asset-Management können sie Produktfotos ins System laden, aus denen ein Google-Service automatisiert detaillierte Bilderbeschreibungen erstellt. Das spart Zeit und Kosten. Technische Produktbeschreibungen lassen sich zudem maschinell in andere Sprachen übersetzen.
Künstliche Intelligenz und Machine Learning setzt Conrad Electronic auch für die Betrugserkennung (Fraud Detection) in seinen Shop-Systemen ein. So lassen sich beispielsweise automatisiert Betrugsrisiken im Kaufprozess erkennen. Einem verdächtigen Käufer könnte das System dann etwa eine andere Bezahlart anbieten. Auch bei Entscheidungen über das richtige Pricing spielen Algorithmen eine wichtige Rolle.
Auch erste Chatbots sind schon im Einsatz. Die virtuellen Assistenten nutzt Conrad beispielsweise im IT-Support oder im Bereich Customer Care. So könnte ein Cloud-basierter Chatbot beispielsweise einem Servicemitarbeiter schnell alle relevanten Daten zu einem Kunden oder einem bestimmten Auftrag liefern.
Neue Geschäftsmodelle mit IoT
Große Hoffnungen setzt Conrad Electronic in den Bereich Innovationen, die dritte Stoßrichtung der Digitalisierungsinitiativen. "Dahinter steht die Frage: Was ist unser künftiges Business-Modell?", erklärt Drabek. Weil das klassische Handelsgeschäft immer schwieriger werde, suche man auch nach neuen Modellen. Schon seit Längerem beschäftigt sich das Unternehmen intensiv mit dem Internet of Things (IoT). Das erste konkrete Ergebnis heißt "Conrad Connect". Dahinter verbirgt sich eine eigenentwickelte IoT-Plattform für Smart Home und Smart Living. Damit lassen sich herstellerübergreifend intelligente Geräte und Services vernetzen, um alltägliche Abläufe wie Fitness-Tracking oder das heimische Energie-Management zu automatisieren.
"Viele technische Produkte sind heute schon connected", erläutert der Chief Disruption Officer. Dazu gehören beispielsweise smarte Glühbirnen, Alarmanlagen oder intelligente Heizungsthermostate, die ihre Daten jeweils in eine eigene Cloud transferieren, aber nicht mit Daten in anderen Clouds verknüpft werden können. Die Idee hinter Conrad Connect ist es, die Geräte mit einer herstellerübergreifenden Cloud zu vernetzen, so dass Nutzer eigene Use Cases mit Produkten erstellen können, die ohne die Plattform nicht miteinander kommunizieren könnten.
Interessant ist das beispielsweise für Smart-Home-Anwendungen. Benutzer können mit den unterschiedlichen Geräten sogenannte Projekte aufsetzen, um beispielsweise Heizungs- und Beleuchtungssysteme zu kombinieren. Solche Consumer-orientierten Szenarien sieht Drabek aber eher als Testfelder. Kommerziell spannender sind Einsätze im Gebäude-Management. Zu den ersten Conrad-Kunden in diesem Kontext gehören beispielsweise Hotels oder Büros, die über die IoT-Plattform ihre Gebäude automatisieren.
Mit dem "Service Marketplace", der im September 2018 vorgestellt wurde, schließt Conrad Connect zudem als erste Smart-Living-Plattform die Lücke zwischen intelligenten Produkten, die Kunden in ihrem Alltag einsetzen, und realen Dienstleistungen. Für die Nutzer ergibt sich daraus ein besonders hoher Automatisierungsgrad.
Beispielsweise bietet der Konzern Versicherungskammer einen kostenpflichtigen Service auf der Plattform an: Mit Hilfe von intelligenten Rauchmeldern, Wassersensoren und Sicherheitssystemen, die mit der Conrad-Connect-Plattform verbunden sind, wird im Fall eines Brandes, Wasserschadens oder Einbruchs ein Alarmsignal an den Nutzer gesendet. Wird dieser im Ernstfall nicht aktiv, reagiert der Assistenzservice und leitet den Alarm an das zuständige Assistenzzentrum weiter. Ein Team schreitet in diesem Fall sofort ein und kann im Nachgang helfen, versicherungstechnische Belange zu klären.
Drabek bereitet den Elektronikhändler auch organisatorisch auf solche Modelle vor. In Berlin arbeitet bereits ein 20-köpfiges IoT-Team bei Conrad Connect, das er weiter ausbauen will.