Agile Software

5 Jahre Scrum: Eine Bilanz

12.03.2014 von Nadine Hege
Nur eine starke Verhaltens- und Mentalitätsänderung - vor allem - in den oberen Hierarchiestufen bis unten zum Entwickler lässt eine agile Projektkultur erfolgreich aussehen, wie das Beispiel der Scout24-Gruppe zeigt.

Es ist Donnerstagmorgen, neun Uhr. Das interdisziplinär zusammengestellte Produkt-Entwicklungsteam trifft sich zum "Daily Scrum", einem 15minütigen, täglich stattfindenden Arbeits-Meeting, zum gegenseitigen Informationsaustausch. Versammelt um das sogenannte Taskboard, auf dem die Aufgaben und Ziele der nächsten zwei Wochen angepinnt sind, überprüft das Team, welche Anforderungen es am vorherigen Tag umgesetzt hat, welche Ziele heute auf dem Plan stehen und wie diese erreicht werden können. Konzentration ist gefragt - jeden Tag. Denn am Ende des 14tägigen Zyklus wird das Entwicklungsteam seine Ergebnisse vor Stakeholdern präsentieren und sich deren Feedback stellen müssen.

Papierloses Büro? Keineswegs erstrebenswert, wenn ein Team mit Scrum arbeitet.
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So funktioniert Scrum. Immer mehr Unternehmen arbeiten in der Produkt- und Softwareentwicklung mit der agilen Arbeitsmethode. Im Vergleich zum klassischen Wasserfallmodell, bei dem der Entwicklungsprozess in streng aufeinanderfolgenden Phasen eingebettet ist und die interdisziplinären Abteilungen nur wenig zusammenarbeiten, sind agile Methoden flexibler. Wie die Erfahrung zeigt, bremst ein zu planvolles Vorgehen den Verlauf der Softwareentwicklung vielmehr aus, anstatt ihn zu beschleunigen. So lassen sich vorab festgelegte Anforderungen an das Produkt während des Entwicklungsprozesses stetig ändern und kritisches Nutzer-Feedback auch in frühen Phasen der Entwicklung einarbeiten.

Dass sich mit Scrum die Effizienz von Entwicklungsteams steigern lässt, gilt für viele Entwickler als ausgemacht. Doch bleiben agile Arbeitsmodelle nicht ohne Nebenwirkungen: Die Methode funktioniert nur im Zusammenspiel mit einer bestimmten Unternehmenskultur gut. Die Organisationsstruktur und Kultur der Firma muss sich mit der Einführung von Scrum ändern, was sich auf das Zusammenspiel zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern sowie auf die gesamte Organisation auswirkt. Diese Erfahrung hat die in München ansässige Scout24-Unternehmensgruppe gemacht.

In kurzer Zeit viel entwickeln

Seit mehr als fünf Jahren setzt das Online-Unternehmen in der Produkt- und Software-Entwicklung auf Scrum. Neben den klassischen Entwickler-Teams in der IT bezieht Scout24 auch das Produkt-Management, das Business Development, Marketing und Vertrieb ein. "Im ersten Jahr nach der Einführung von Scrum und komplementärer agiler Arbeitsmethoden stieg die Entwicklungsgeschwindigkeit um 200 Prozent", berichtet Joachim Gmeinwieser, Head of Agile & Lean Management, wie sein offizieller Titel lautet.

Joachim Gmeinwieser, Scout24: "Im ersten Jahr nach der Einführung von Scrum stieg die Entwicklungsgeschwindigkeit um 200 Prozent."
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In den Folgejahren erreichten die Scrum-Teams im Jahresdurchschnitt weitere Steigerungen um 20 Prozent. Auch die Qualität der ausgelieferten Produkte und Features wuchs Gmeinwieser zufolge signifikant, die Anzahl kritischer Fehler konnte das Unternehmen innerhalb des ersten Jahres um 80 Prozent verringern. Derzeit liege die Anzahl von in den Live-Systemen auftretenden Fehlern nahezu bei null Prozent.

Zusätzlich führt AutoScout24 seit etwa 15 Monaten mehrmals pro Tag Live-Releases durch, die Nutzer können somit täglich die neuesten Ergebnisse der Softwareentwicklung am Produkt, in diesem Fall der firmeneigenen Website, nutzen.

Neue Rollen, neue Aufgaben, neue Abläufe

Die Umstellung der Arbeitsabläufe stellt Mitarbeiter wie Führungskräfte vor Herausforderungen. "Bei der Umstellung auf Scrum ist vor allem wichtig, die Grundidee agiler Arbeitsmethoden in der Unternehmenskultur zu etablieren, die Selbstorganisation des Einzelnen zu fördern. Der Mitarbeiter muss das Unternehmen als gesamtes System begreifen", sagt Thomas Knauer, Personalreferent der Scout24 Holding. Die Rollen von Teamleitern, Scrum-Mastern und den Teammitgliedern müssten eindeutig definiert sein; Großraumbüros zur engen Abstimmung und Stärkung des Team-Gefühls sind ein Muss.

Thomas Knauer, Scout24: "Die Neuordnung der Rollen durchbricht das klassische Verständnis von Hierarchien und Positionen."
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Um näher am Geschehen zu sein, sitzen auch die Teamleiter größtenteils beim Team, Einzelbüros wurden aufgegeben. "Diese Neuordnung der Rollen durchbricht das klassische Verständnis von Hierarchien und Positionen", erzählt Knauer. Der Austausch zwischen Führungskraft und Mitarbeiter gestalte sich intensiver, die Führungskraft wird zum Coach. "Entwickler, Scrum-Master und Teamleiter agieren auf Augenhöhe", so Knauer. Der einzelne Mitarbeiter sei stärker am Gesamtvorhaben beteiligt, verantwortet ein eigenes Thema, das er vorantreibt und für dessen Ergebnisse er einsteht. Kontinuierliches, gegenseitiges Feedback sei ein Muss bei den kleinteiligen Arbeitsschritten. Ob Coach, Scrum-Master oder Team-Mitglied, jeder müsse mit der Kritik der Anderen umgehen können.

Neben der veränderten Teamstruktur haben sich die Mitarbeiter auf neue Arbeitsabläufe einzustellen. Anders als im Wasserfallmodell wird die Softwareentwicklung bei Scrum in so genannte Sprints unterteilt, einer Zeitspanne von zwei Wochen, in der das Team vorab festgelegte Anforderungen am Produkt umsetzt. Während des Sprints informieren sich die Team-Mitglieder in den eingangs beschriebenen Daily Scrums über den aktuellen Stand der anderen, analysieren Probleme und die nächsten Schritte. Am Ende jedes Sprints präsentieren die Team-Mitglieder in "Sprint Review Meetings" ihre Ergebnisse vor Stakeholdern und stellen sich deren Feedback und konstruktiver Kritik. Die Rückmeldungen fließen in die neuen Anforderungen für die nachfolgende Sprint-Planung ein und der Prozess beginnt von vorne.

Vom Chef zum Coach

Um den Rollentausch vom Chef zum Coach umsetzen zu können, sollte das Unternehmen individuelle und auf die spezifischen Herausforderungen angepasste Coachings anbieten. ImmobilienScout24 bereitet die Führungskräfte in einem mehrstufigen Training mit theoretischen und praktischen Elementen vor. "Führungdurch Abgucken" steht hierbei im Mittelpunkt: Um sich auf ihre neue Rolle als Coach vorzubereiten, trainieren Führungskräfte in kleinen Gruppen in Zusammenarbeit mit einer Schauspielgruppe eigene kritische Situationen. In diesem - der Realität von allen Trainingsszenarien am nächsten kommenden Situationen - erarbeiten sie mögliche Lösungsansätze und experimentieren mit dem eigenen Führungsverhalten. Die füragile Arbeitsweisen wichtigen Aspekte wie etwa Motivationsfähigkeit werden gezielt trainiert und gefördert.

Das agile Arbeiten findet bei der Scout24-Gruppe übrigens nicht ausschließlich in der Softwareentwicklung statt. Seit zwei Jahren arbeiten auch die angrenzenden Teams aus Marketing und Vertrieb stärker mit der agilen Vorgehensweise. Das Unternehmen will diesen ganzheitlich orientierten Ansatz in den nächsten Jahren ausweiten, so Scrum-Spezialist Gmeinwieser. "Auch aus der Perspektive des Personal-Managements und Employer Brandings ist die Scrum-Methode ein Gewinn", ist HR-Spezialist Knauer überzeugt. Denn die Methode passt zu den geänderten Ansprüchen jüngerer Arbeitnehmer, der so genannten Millennials oder Digital Natives. Sie mögen flache Hierarchien, kontinuierliches Feedback und ein Umfeld, das ihnen die Möglichkeit bietet, sich sichtbar einzubringen. "Genau das bietet Scrum, wenn Unternehmen die eigene Kultur an die Methode anpassen", sagt Knauer.

Vom Wasserfall-Projektleiter zum Scrum-Profi

Wie hat sich die Rolle der Führungskraft durch Scrum für Sie verändert?

Joachim Gmeinwieser:Ich habe 2008 als klassischer "Wasserfall-Projektleiter" bei AutoScout24 begonnen und bin dann mit der Einführung von Scrum zum Teamleiter geworden. Die Umstellung auf agiles Arbeiten bedeutete für mich Gelerntes und Etabliertes zu hinterfragen, aber vor allem auch Macht abzugeben. Die Führungskraft ist nicht mehr der einsame Held, der Beste. Deutlich effektiver ist es, die Mitarbeiter auf Basis ihrer Kompetenz und Motivation eng an Entscheidungen zu beteiligen und Verantwortung zu übertragen. Es geht weniger darum, alles selbst zu entscheiden. Man muss loslassen können, den Mitarbeitern Entwicklungs- und Entscheidungsspielraum geben, um die Lösung selbst zu finden. Ich unterstütze hierbei nur und bin mehr Coach als Führungskraft.

Welche Voraussetzungen muss ein Scrum Coach mitbringen, welche ein Scrum-Master und die Team-Mitglieder?

Thomas Knauer: Egal ob als Coach, Scrum-Master oder Teammitglied - man steht in ständigem Austausch mit dem Team und sollte daher offen sein und auf Menschen zugehen können. Man sollte bereit sein, Verantwortung zu übernehmen. Was die einzelnen Rollen betrifft, sollte der Coach sein Team motivieren, beraten und auf den richtigen Kurs bringen, ohne zu stark führen zu wollen. Der Scrum-Master muss kein Fach-Know-how mitbringen, er entwickelt nicht, er konzipiert nicht. Er sollte vielmehr das Talent besitzen, die Arbeitsabläufe der einzelnen Scrum-Teams zu koordinieren, die Einzelinteressen in Einklang zu bringen und vor Störungen zu schützen. Die einzelnen Team-Mitglieder hingegen müssen Spezialwissen mitbringen, um die Produkte optimal weiterzuentwickeln können.