Stellen Sie sich vor, Sie würden morgen aufwachen, und jeder Gegenstand hätte eine eigene IP-Adresse: Ihr Badspiegel, ihre Kinderzimmertapete, Ihr Küchentisch, Ihr ICE-Sitz, Ihr Bürofenster - ganz normale Alltagsgegenstände, die uns umgeben. Auch Spiegel, Tisch, Kaffeetasse und andere Dinge des Alltags.
Schwer vorstellbar? In zehn Jahren werden wohl zirka 100 Milliarden Geräte auf der Erde vernetzt sein. Jeder von uns wird dann in nahezu jeder Situation 30 bis 50 vernetzte Geräte um sich herum haben. Was werden Ihre Kunden von Ihnen verlangen, was wird Ihre Konkurrenz tun, und wie werden Sie reagieren? Ich bin immer wieder überrascht, dass viele Zuhörer meiner Vorträge, auch CIOs, bei dieser Frage zusammenzucken, als hätte ich gerade eine unglaubliche Hiobsbotschaft verkündet.
Dabei reden wir ja nicht über kommende Jahrhunderte, sondern über das Jahr 2021. Schon seit vielen Jahren steuern wir auf diese Situation hin. Damit wird in den kommenden Jahren die Internet-Logik Schritt für Schritt alle Orte und Geräte des Alltagslebens erobern. Und die werden auf diese Weise intelligent: Bildanalyse, Bilderkennung und beobachtende Interfaces sorgen dafür, dass Alltagsgegenstände das Verhalten ihrer Benutzer beobachten, diese Realwelt-Daten mit virtuellen Informationen kombinieren und über 3D-Displays in allen Varianten jeweils situationsgerechte Informationen in unseren Alltag einspielen. Wir Konsumenten werden diese Techniken nutzen oder auch nicht. Souverän! Ganz wie wir es brauchen: Wir nutzen die Technologie, wenn sie uns hilft, und wir schalten sie ab, wenn wir uns mit weniger "Intelligenz" durch unseren Alltag treiben lassen wollen.
Die wichtigste Auswirkung dieser "intelligenten" Geräte lässt sich in einem Satz zusammenfassen: "Der Tod der Masse"! Das Phänomen der "Masse" wird allmählich aus unserer Gesellschaft verschwinden. Das bedeutet: Es gibt keine "lenkbaren" Horden von Käufern mehr, da deren Einkaufszettel durch individuelle, elektronische Assistenten zusammengestellt werden. Es gibt keine lenkbare Masse an Zuschauern für Werbebotschaften mehr, wenn Fernsehprogramme und Zeitungen individuell zusammengestellt werden. Und wenn nicht mehr der Einkäufer im Supermarkt sein Warenangebot zusammenstellt, sondern der elektronische Assistent in seinem Handy, dann drohen selbst emotional starke Marken an Wert zu verlieren.
Technische Filter sind klüger als menschliche Filter
Diese Entwicklung ist an sich nicht neu, unser ganzes Leben wird ja von Filtersystemen bestimmt. Auch früher haben wir uns auf Informationsfilter verlassen: auf Lehrer, Redaktionen, Makler, Trainer, Verkäufer, Reiseführer und Berater. Deren Geschäfte basieren auf der asymmetrischen Verteilung von Informationen, das heißt, sie haben Informationen schneller oder in besserer Qualität als wir und verdienen ihr Geld damit, dass sie anderen die Informationen neu sortieren und individualisiert zur Verfügung stellen.
Nun werden wir uns daran gewöhnen, dass technische Filter intelligenter sind als menschliche. Sie bringen uns bessere Ergebnisse! Diese Digitalisierung wird jedermann in die Lage versetzen, zu jeder Zeit auf alle beliebigen Informationen zuzugreifen und dennoch das für ihn Wichtige gefiltert zu bekommen. Jeder Amateursportler trainiert dann mit Profimethoden, jeder Kunde hat das Wissen des Fachberaters, und jeder Fernsehzuschauer bekommt sein individuelles Programm.
Kunden vertrauen auf digitale Assistenzsysteme
Für uns Trendforscher ist dieser Wandel durch die Digitalisierung der klassischen Branchen derzeit der spannendste Bereich. Wir sind uns sicher, dass er unsere Branchen in den kommenden Jahren viel stärker wandeln wird als in den Jahrzehnten zuvor. Der Grund ist recht einfach: Das Vertrauen, das die Basis eines jeden Geschäfts ist, durchlebt derzeit einen radikalen Wertewandel. Waren es vor einigen Jahren noch Marken, Berater und Experten, die das größte Kundenvertrauen genossen, so vertrauen die Kunden künftig in großen Segmenten auf digitale Assistenzsysteme.
Das Verschwinden des Standardsegments
Das führt zu einer durchgreifenden Veränderung aller Märkte. Die ehemalige Marktpyramide mit den klar definierten Economy-, Standard- und Premium-Segmenten transformiert sich mittelfristig in nur noch zwei große Marktbereiche: den Economy- und den Premium-Bereich. Das Standardsegment verschwindet. Ausgerechnet jenes Segment, in dem die meisten von uns das Geschäft gemacht haben.
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Die wichtigste Zukunftsentwicklung ist, dass dann Economy- und Premium-Segment nach unterschiedlichen Logiken funktionieren. Während das bisherige Abwägen zwischen Qualität und Preis dem Economy-Segment vorbehalten bleibt und hier neue Extreme ausprägt, treffen die Kunden im Premium-Segment ihre Kaufentscheidung nicht nach Qualität und Preis, sondern aufgrund der Frage, ob ein Produkt zu ihrer Identität passt und diese unterstreicht.
Unternehmen, die ihre Position im Economy- Bereich stärken wollen, müssen ihre Prozesse und Produkte mit der Logik der Digitalisierung verbinden. Es reicht hier nicht aus, die bisherigen Produkte nun auch online verkaufen zu wollen. Vielmehr geht es um eine wirklich intelligente Verschmelzung von digitaler Logik und physischer Präsenz.
Unternehmen, die ihre künftige Position im Premium-Bereich suchen, müssen sich als Identitätsmanager ihrer Kunden präsentieren. Marken, Produkte und Personen werden Identitätsträger sein. Sie machen ihr Geschäft dann, wenn der Kunde seine eigene Identität ausdrücken kann, indem er von einem bestimmten Unternehmen ein bestimmtes Produkt kauft oder sich von einem bestimmten Experten betreuen und begleiten lässt.
Debatten über Industrie 4.0 greifen zu kurz
Eine derzeit stark unterschätzte Rolle spielt in der Digitalisierung die Veränderung unserer Wahrnehmung von Daten. Vor zehn Jahren basierten die Digitalisierungsschritte auf statischen Daten in Datenbanken, also auf "alten Daten". Alle heutigen Schritte der Digitalisierung von Social Media über digitale Plattformen und Kundenschnittstellen bis hin zu den Industrie-4.0-Debatten haben ein anderes Verständnis von Daten zur Grundlage: die Echtzeitdaten.
Doch dies ist nur ein kleiner Zwischenschritt der Digitalisierung. Die meisten Industrie-4.0-Studien und -Strategien greifen viel zu kurz. Sie beschreiben zumeist nur die Vernetzung, Automatisierung und Rationalisierung. Dies geschieht natürlich heute. Aber die wirklichen Auswirkungen der Digitalisierung zeigen sich erst später, dann nämlich, wenn die Computer mit ihrer Prognostikkompetenz die Steuerung und Kontrolle im Unternehmen übernehmen. Ich persönlich rede bei meinen Kunden nicht mehr über Industrie 4.0, sondern nur noch vom Predictive Enterprise.
Echtzeit reicht nicht - Predictive Enterprises sind schneller
Dieser Schneller-als-Echtzeit-Trend führt dazu, dass nahezu jeglicher Unternehmensprozess durch ein intelligentes Betriebssystem gesteuert wird. Ein Beispiel: Das Workforce-Management eines Flughafens wird von einer intelligenten Software gesteuert, die prognostiziert, welche Person mit welcher Kompetenz in 20 Minuten am Punkt X gebraucht wird. Entsprechend werden die Personaleinsatz-Prozesse durch den Computer gesteuert. So verändern sich dann die Anforderungen an Führung und Personalabteilungen.
Ein anderes Beispiel: In einem Handelsunternehmen der Zukunft, das mit solch einem intelligenten Betriebssystem arbeitet, prognostiziert der Computer, welche Ware in welcher Anzahl an welchem Point of Sale (PoS) am kommenden Samstag verkauft werden wird. Entsprechend dieser Prognose steuert der Computer alle Beschaffungs- und Logistikaktivitäten sowie alle beteiligten menschlichen Arbeitskräfte, sofern sie noch gebraucht werden.
Paradigmenwechsel für Geschäftsmodelle
Welche Auswirkungen haben solche Predictive Enterprises? Sie bedeuten nicht weniger als einen Paradigmenwechsel für unsere Geschäftsmodelle. Denn die heutigen Schritte der Digitalisierung beziehen sich zumeist auf das Bedienen der neu entstandenen digitalen Kanäle. Wir versuchen, unsere Standardprodukte auf die neuen Kanäle zu verteilen. Gut so! Doch das ist nur ein kleiner Schritt auf einem langen Weg. Die eigentlichen Zukunftschancen in einer Schneller-als-Echtzeit-Welt liegen in der Anpassung der Produkte und Services an die sich verändernden Nutzungsbedürfnisse jedes einzelnen Kunden: individuell und situativ.
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Aus Sicht des Kunden werden dies digitale, intelligente Assistenzsysteme auf den Displays der Kunden sein. Auf Basis von Datenanalyse verstehen sie, wie ihr Besitzer tickt und welche Kundenbedürfnisse ihn treiben.
Darüber hinaus verstehen sie auf Basis von situativen Daten auch, wie sich von Moment zu Moment die Kundenbedürfnisse ihres Nutzers verändern. Die von den Geräten gegebenen Empfehlungen sind nicht nur individuell, sondern auch situativ verschieden. Beides zusammen heißt: adaptiv. In der Konsequenz werden die Kunden die Erfahrung machen, dass ihre digitalen Assistenten ihnen wesentlich passendere Angebote unterbreiten als herkömmliche Verkäufer - ganz einfach, weil die Qualität der Antworten höher sein wird.
Privacy by Design wird ein Unterscheidungsmerkmal
Ein wesentlicher Erfolgsfaktor dabei ist der souveräne Umgang mit sensiblen Daten. Dies bedeutet aber nicht die Ausdehnung des Datenschutzes oder das Zurückdrehen technischer Entwicklungen. Vielmehr besteht die Möglichkeit der Anbieter, auf diese Entwicklung zu reagieren, darin, Produkte bereits bei der Konzeption mit unterschiedlichen Privacy-Levels zu planen. Dieses Prinzip von "Privacy by Design" erfordert zwar mehr Aufwand, kann aber ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal hochwertiger Produkte sein.
In Zukunft wird die Datenfreigabe in Standardprodukten für den Massenmarkt omnipräsent sein. Einige andere Kunden im Premium-Markt sind dagegen bereit, die Kosten für mehr Sicherheit und Privatsphäre zu übernehmen. Produkte werden daher in vier bis fünf Privacy-Levels konzipiert. Basis-Levels erfüllen zwar die gesetzlichen Vorgaben, bieten jedoch in der Regel keine weiteren Vorkehrungen zum Schutz der Privatsphäre.
Die Verantwortung der CIOs
Wenn wir Zukunftsforscher und Innovationsberater heute den "digitalen Reifegrad" eines Unternehmens messen, dann geht es natürlich nicht nur um Informationstechnik. Es geht um sieben Dimensionen: Digitalstrategie, Unternehmenskultur, Reporting und Monitoring, Kundenschnittstellen, Steuerung, Technologie sowie Mitarbeiterkompetenzen. Unsere Erfahrung zeigt: Auf dem Weg zu Predictive Enterprises machen Unternehmen immer dann gute Fortschritte, wenn sie in allen sieben Dimensionen etwa gleich fortgeschritten sind. Doch die entscheidende Frage, vor der die meisten stehen, lautet: Wer steuert den Prozess in all den sieben Dimensionen?
Sind es CEOs, weil die Aufgabe eine übergreifende ist? Sind es Personalchefs, weil Kompetenzen und Unternehmenskultur zu den wichtigen Dimensionen gehören? Sind es die neuen CDOs, Chief Digital Officers? Oder sind es CIOs?
Die Antwort mag von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich ausfallen. Aus meiner Sicht tragen diese große Verantwortung jene Führungskräfte im Unternehmen, die am meisten von Technologie verstehen und als Erste die Folgen der Technologie für die Lebenswelten ihrer Kunden, die Arbeitswelten ihrer Mitarbeiter und die Anforderungen an ihre Produkte ableiten können.
Falls Sie das in Ihrem Unternehmen sind, dann ist genau dies Ihre Verantwortung! Dann sollte sich Ihr Aufgabenfeld weit über die IT-Systeme hinaus in diese sieben Dimensionen entwickeln.
Ich freue mich auf Ihr Feedback!
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