Vor allem die IT ist betroffen: Viermal so häufig wie andere Branchen erkranken IT-Führungskräfte an Burnout. Laut einer Studie des Instituts für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen sind 57 Prozent der Berufsanfänger und jungen Projekt-Manager in der IT-Branche gefährdet, an Burnout zu erkranken. Besserung ist erst einmal nicht in Sicht. "Seit etwa drei bis vier Jahren verzeichnen wir eine drastische Steigerung an Krankschreibungen aufgrund psychischer, vor allem depressionsähnlicher Symptome, darunter zunehmend auch mit der Diagnose "Burnout", sagt Professor G. Günter Voß vom Institut für Soziologie, Industrie- und Techniksoziologie der TU Chemnitz. "Das passiert inzwischen so häufig, dass man es fast nicht glauben kann", sagt er.
Kein Tabu mehr
Warum genau die Zahl der Burnout-Erkrankten oder von Patienten mit ähnlichen Symptomen zugenommen hat, ist noch nicht abschließend geklärt. Einige Fakten sind allerdings bereits bekannt. "Einerseits hat die Bereitschaft der Betroffenen und der Gesellschaft im Allgemeinen zugenommen, über psychische Erkrankungen zu sprechen", meint Voß. "Es ist sehr positiv, dass sie enttabuisiert werden." Mehr Menschen gehen wegen Depressionen, Burnout und Co. zum Arzt. Doch dies allein könne den rasanten Anstieg der Fallzahlen nicht erklären.
Die Veränderung der Arbeitswelt spielt bei der Zunahme eine große Rolle: "Im Gegensatz zu früher hat die Arbeitsbelastung stark zugenommen", sagt Voß. Vor allem IT-Fachkräfte kennen das. Immer mehr Projekte in immer weniger Zeit mit immer weniger Ressourcen müssen geschafft werden. "Die Arbeitsanforderungen steigen regelmäßig und damit steigt der Druck", sagt der Soziologe. Zu dem Mehr an Stress kommt die Flexibilisierung der Arbeitswelt hinzu, die vor allem Selbstständige, aber auch Chefs vor große Probleme stellt. Experten sprechen in diesem Fall von "Dynaxität", der Mischung aus Dynamik und Komplexität, die stetig zunimmt. Dies fördert die Entstehung von Burnout.
Beutet euch aus!
Doch das Haupt-Stichwort heißt "Selbstausbeutung". "Je mehr Freiheit ich habe, desto mehr Druck mache ich mir selbst", sagt Voß. "Wenn ich keine Grenzen kenne, dann setze ich mir auch keine und höre nie auf zu arbeiten." Das äußere sich schließlich darin, dass jeder sich selbst bekämpfe: Man ist Ausbeuter und Ausgebeuteter in einem. "Heutzutage wissen viele nicht mehr, wann genug ist", sagt der Soziologe.
Arbeitsforscher sprechen in so einem Fall von "Entgrenzung der Arbeit". Irgendwann ist man vom vielen Arbeiten so erschöpft, dass man keinen Ausweg mehr sieht. "Da kann man zwar eine Woche Urlaub machen - aber die Fallen, in denen man steckt, bleiben erhalten", sagt Voß. Eigentlich steht ein grundsätzlicher Wechsel des Lebensstils an, um eine psychische Erkrankung zu verhindern. Vor allem für Entscheider ist das kein leichter Schritt.
Dass gerade Führungskräfte besonders häufig von Burnout betroffen sind, erklärt Voß so: "Sie stehen unter ständiger Beobachtung von allen Seiten, sowohl von Vorgesetzten als auch von Mitarbeitern." Die Sandwichposition des Managements ist gefährlich und führt zu hohem Druck. "Je weiter man nach oben kommt, desto höher wird die Belastung, unter der man steht", sagt der Soziologe. Gleichzeitig sollten Führungskräfte nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Mitarbeiter schützen. "Sie müssen ihnen zum Beispiel klare und vor allem bearbeitbare Zielvorgaben geben und sie vor Selbstüberforderung warnen ", sagt Voß. Das verstärkt den Stress der Führungkraft, die die Kollegen nicht überfordern will.
Zu diesem Druck kommt gerade im IT-Bereich der ständige Wandel hinzu, der noch viel stärker als in anderen Fachbereichen zu Buche schlägt. Kein Wunder, dass der Burnout in höheren Etagen häufiger auftritt.
Auch Chefs brauchen eine Pause
Dabei wäre der erste Schritt, dem Burnout vorzubeugen, eigentlich recht einfach: "Gerade bei Führungskräften müsste es als professionell gelten, sich als Mensch mit Grenzen und Schwächen erkennen zu geben", sagt Voß. Auch ein Vorgesetzter müsse nach anstrengenden Projekten ausschlafen und Kraft schöpfen, um vollkommene Überarbeitung zu vermeiden.Entscheider können auch mit gutem Beispiel voran gehen: "Wenn der Chef sagt, dass auch er eine Pause braucht, dann hat das auch Vorbildcharakter für die Mitarbeiter", sagt er. So kann eine Führungskraft gleich zwei Dinge parallel schaffen: Sich selbst mehr Zeit für die Entspannung und ein Vorbild für die Kollegen.
Obwohl so viele Menschen an Dauerstress leiden, wird Burnout oft als "Modediagnose" oder "Luxuserkrankung" abgetan. "Wenn man einmal jemanden erlebt hat, der so krank ist, der weiß, wie schwer ein Burnout sein kann", kann Voß dazu nur sagen. Die Verunglimpfung der Betroffenen mag daran begründet sein, dass die Symptome bei jedem anders auftreten.
Komplexe und diffuse Symptome
Bei einigen Erkrankten kommt der Prozess schleichend in Gang. Chronische Müdigkeit und Schlaflosigkeit, Bluthochdruck, Magen-Darm-Beschwerden und ständige Stresszustände sind nur einige der Symptome. Hinzukommen Depressionen, Gereiztheit und diffuse Ängste. "Bei jedem wirkt sich der konstante Stress anders auf den Körper aus", sagt Voß. Dies ist auch der Grund, warum Burnout immer noch keine eigenständige Diagnose ist. "Auf einem Überweisungsschein stehen oft mehrere Diagnosen, also Depression, Erschöpfung und so weiter." Jeder erlebe die Symptome anders - das heiße aber nicht, dass sie deswegen weniger schlimm seien.
Führungskräfte anders betroffen
Gerade bei Führungskräften unterscheide sich der Leidensweg oft von dem ihrer Mitarbeiter, meint Voß. "Sie arbeiten mit Vollgas, bis sie nicht mehr können und kippen dann von einem auf den anderen Tag um", erzählt er. "Viele Führungskräfte müssen so tun, als ob alles in Ordnung sei. Gestern war man noch fit, heute kommt man kaum noch die Treppe rauf." Lange wurden Symptome ignoriert oder weggeschoben, anstatt dass der Betroffene auf seinen Körper gehört hat. Wer so viel arbeitet und dann auch noch stolz darauf ist, dass er so erschöpft ist, kann die Symptome vielleicht auch gar nicht bemerken.
Oder er will es nicht: "Wenn ich arbeite bis zum Umfallen und regelmäßig Beta-Blocker gegen hohen Blutdruck oder Mittel zur Leistungssteigerung nehme, sollte ich doch eigentlich merken, dass etwas nicht stimmt", sagt Voß.
Betriebliches Gesundheitsmanagement
Einige Firmen versuchen, mit betrieblichem Gesundheits-Management gegen die Selbstausbeutung zu steuern, wie etwa die Otto Group mit ihrem Kurs zur Früherkennung von Burnout. Das sei zwar lobenswert, meint Voß. "Aber die Wochenendseminare zur Meditation bringen wenig, wenn es am Montagmorgen wieder so weiter geht wie vorher", sagt er. Volkswagen versucht, die Mitarbeiter von Überstunden abzuhalten, indem die E-Mails ab 20 Uhr abgestellt werden. In der Theorie mag das ja eine gute Idee sein - nur die Umsetzung bereitet Schwierigkeiten, wie Voß weiß. "Wenn um 20 Uhr die Kollegen aus dem Büro geworfen werden, schleichen sie sich eben durch die Tiefgarage wieder rein. Sie finden auch Wege, das E-Mail-Verbot zu umgehen - das Projekt muss fertig werden", erklärt Voß. Er fordert, dass sich in Firmen grundsätzlich die Strukturen ändern müssten.
Zurück zur Stechuhr?
Um die Grenzen wieder in die Arbeit zurückzubringen, fordern einige Betriebsräte sogar wieder die Einführung einer Art Stechuhr - klar, dass sich die Firmen dagegen wehren. Ob das so sinnvoll ist, daran hat Voß seine Zweifel. "Ich glaube jeder Einzelne muss lernen, besser auf sich zu achten", sagt er. Er weiß, dass er damit Kritik erntet. "Aber jeder einzelne muss auf seinen Körper hören und frühzeitig die Symptome erkennen." Man müsse sich selbst Grenzen setzen. "Ich weiß, dass das schwer ist", gibt Voß zu. Wer große Probleme damit habe, sich Grenzen zu setzen, der könne diese Aufgabe auch delegieren. "Da muss man es zulassen, wenn Angehörige einem sagen, dass man zu viel arbeitet", sagt Voß. Im Zweifel ist eine Psychotherapie mit Medikamenten nötig, um die Erschöpfungserscheinungen wieder in den Griff zu kriegen.
Firmen müssen sich umstellen
Dass diese Forderungen nach anderer Strukturen und anderen Unternehmenskulturen nicht einfach in die Realität umzusetzen sind, weiß auch Voß. "Welche Führungskraft hat denn tatsächlich die Weisungsbefugnis, einen Mitarbeiter nach einem sehr anstrengenden Projekt auch nach Hause zu schicken, damit er sich erholen kann?" Auch die Unternehmenskultur kann ein Problem sein: Wenn in Firmen eine Kultur der unbedingten Leistung gelebt wird, ist klar, dass vor allem Führungskräfte sich nicht als "schwach" darstellen lassen.
Dabei wäre es die höchste Priorität für Betriebe, den Burnout zu verhindern, ganz unabhängig vom menschlichen Schaden. Einerseits arbeiteten Menschen unter Druck schlechter, meint Voß. Die Qualität der Arbeit leidet genauso wie der Mensch. Andererseits kostet ein Totalausfall - zumal von Spezialisten oder Führungskräften - den Staat und das Unternehmen Unsummen. Laut einer Sudie summierte sich das zu etwa 60.000 Euro während eines sechsmonatigen Ausfalls. So schnell ist kein temporärer Ersatz für eine Führungskraft aufzutreiben. Und wer will langfristig in einem Unternehmen arbeiten, das seine Mitarbeiter zugrunde richtet? In Zeiten der umkämpften Fachkräfte können sich das nur wenige Unternehmen leisten.
Arbeiten ohne Augenringe
Immerhin, ein Wandel scheint sich abzuzeichnen. Obwohl noch immer zu viele Firmen den Druck weitergeben, wächst langsam das Bewusstsein, dass die Mitarbeiter das wertvollste Kapital sind. "Vor einigen Jahren sprach ich mit einem Personalverantwortlichen einer großen Firma, der sagte: Wer bei uns keine Augenringe hat, ist kein Leistungsträger", erzählt Voß. Eine solch menschenverachtende Haltung sei nicht mehr so häufig anzutreffen, sagt der Professor. "Die Unternehmen merken, dass da was schief gelaufen ist." Der Wandel kommt. Hoffentlich rechtzeitig.