Landmaschinenhersteller John Deere hat als einer der ersten SAP-Kunden sein ERP-System auf HANA gehoben und die Konstruktions- und Materialplanung auf Echtzeit umgestellt. Derek Dyer, Director Global SAP Services bei John Deere: "Die Business Suite auf HANA ist die Lösung, nach der wir seit Langem gesucht haben, die aber bisher nicht verfügbar war." Dabei will er es nicht bei den bereits implementierten verkürzten Planungszyklen belassen, die durch den enormen Geschwindigkeitszuwachs der In-Memory-Technik möglich wurden. Er verspricht sich weitere Vorteile durch die reduzierte Komplexität seiner IT-Landschaft, vor allem aber aus einer intelligenteren "vorbeugenden Wartung".
Dyer denkt dabei an ein Szenario, das speziell der Automotive-Industrie zu besseren Servicemodellen verhelfen soll. Mit den gegenwärtigen IT-Systemen ist es unmöglich, alle Daten in Realtime zu verarbeiten oder gar individualisierte Serviceangebote daraus zu gewinnen. Wenn man aber die Nutzerdaten aus Fahrzeugen wie Motor- und Öltemperatur, Anzahl Betriebsstunden und Belastungskennziffern zusammen mit dem Wartungs- und Fahrverhalten sowie den Reparaturen aller Nutzer des gleichen Fahrzeugtyps in Zusammenhang bringen und in Echtzeit auswerten kann, ließe sich damit der Service individualisieren und verbessern. HANA soll das möglich machen.
Statt fester Intervalle für Ölwechsel und Inspektionen könnte man dann die Wartungszyklen in Abhängigkeit von der jeweiligen Fahrzeugnutzung individuell errechnen. Im besten Fall ließen sich aus den Daten aller Nutzer mögliche Fehlerquellen erkennen, schon bevor das Fahrzeug tatsächlich liegenbleibt. SAP spricht von "proaktiver Analyse" und "predictive Maintenance" und sieht darin einen Schlüssel für individualisierte Serviceangebote der Hersteller. Nach Angaben von SAP gibt es neben John Deere weitere Kooperationen und Pilotprojekte mit Autoherstellern, die der Softwareanbieter aber nicht nennen will.
Weltweit 700 HANA-Anwender
Schon seit Anfang vergangenen Jahres ist die Datenbank HANA (High Performance Analytic Appliance) von SAP für BI- und Data-Warehouse-Anwendungen verfügbar. Nach Angaben von SAP setzen mehr als 700 Unternehmen weltweit HANA in diesem Umfeld ein. Typischerweise bringt die Umstellung von einer herkömmlichen Datenbank auf die In-Memory-Technologie eine mehrere hundert- bis zu zehntausendfache Beschleunigung der Antwortzeiten. Mit anderen Worten: Eine Abfrage, die früher mehrere Stunden brauchte und üblicherweise über Nacht lief, ist mit HANA in einigen Sekunden erledigt.
Anfang Januar hat SAP auf einer Pressekonferenz angekündigt, dass künftig die gesamte Business-Suite auf der HANA-Datenbank betrieben werden kann - und zwar sowohl bei Neuinstallationen als auch für bereits existierende Systeme. Was auf den ersten Blick lediglich wie der simple Austausch der zugrunde liegenden Datenbank aussieht, könnte künftig gewaltige Auswirkungen haben.
Denn mit der Kombination aus ERP-System und In-Memory-Technologie entsteht gleichsam ein neues Paradigma: Auswertungen und analytische Verfahren können damit direkt und in Echtzeit auf transaktionale Systeme aufsetzen. In der Theorie der Informationstechnologie ausgedrückt: Die Trennung zwischen OLTP (Online Transaction Processing) und OLAP (Online Analytical Processing), die heute die IT-Landschaften der Unternehmen bestimmt und sich in getrennter Datenhaltung für BI- und Transaktionssysteme ausdrückt, könnte mithilfe von HANA überwunden werden.
Das wird Auswirkungen sowohl auf den Markt für ERP-Systeme als auch für künftige BI-Installationen haben. "Wenn künftig OLTP- und OLAP-Systeme in einer einzigen Umgebung laufen, können die Endanwender Analysen und Abfragen beliebiger Granularität, Aggregation und Dimension in Echtzeit direkt bis hinunter auf den einzelnen Datensatz durchführen", kommentiert Rüdiger Spies. Damit würde zugleich die Komplexität bisheriger IT-Architekturen reduziert, weil Transaktionssysteme und OLAP-basierte Business Warehouses in einer einzigen IT-Infrastrukturumgebung betrieben werden können. Auf eben diese Vereinfachung der IT-Architektur zielt Dyer von John Deere ab, wenn er von Kosteneinsparungen durch HANA spricht.
Auch die Experton Group bescheinigt SAP einen entscheidenden Schritt nach vorn: "Das bedeutet strategisch nichts anderes als den zweiten revolutionären Architekturwechsel in der Geschichte von SAP - vergleichbar mit dem Schritt von R/2 zu R/3", kommentieren die Analysten der Experton Group die Ankündigung von SAP.
Vor der zurzeit intensiv geführten Debatte um Big Data gewinnt HANA eine besondere Relevanz. "Bei Big Data geht es um Methoden und Werkzeuge, die geeignet sind, in Echtzeit oder zumindest in hoher Geschwindigkeit Daten zu verwerten und auszuwerten und dabei auch unstrukturierte oder teilstrukturierte Daten zu verarbeiten", sagt Andreas Gadatsch, der sich als Wirtschaftsinformatikprofessor an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg besonders mit betriebswirtschaftlicher Software und ERP-Systemen befasst. "HANA ist natürlich nicht die einzige, aber ganz sicher eine bedeutende Technologie für Big Data."
Einsatz bei Ferrero und HSE24
Die wenigen Pilotanwender, die schon die Business-Suite auf HANA einsetzen, berichten einhellig von positiven Erfahrungen. Der Süßwarenkonzern Ferrero hat mit HANA die Planung beschleunigt und Simulationsverfahren verbessert: "Früher haben wir unter großem Aufwand einmal monatlich alle Daten für Marketing und Controlling zusammengeführt und ausgewertet - mit HANA können wir die Entwicklung jetzt in Echtzeit verfolgen", freut sich Enzo Bertolini, CIO bei Ferrero.
Auch der Shopping-Sender HSE24 gehört zu den HANA-Anwendern der ersten Stunde. "Jeder Zeitverlust ist für uns entgangener Umsatz", sagt CIO Norbert Paulus. Mehr als tausend Callcenter Agents nehmen bei HSE die Bestellungen entgegen "Mit HANA können wir jetzt kurzfristig - das heißt nicht mit einem Vorlauf von Tagen oder Wochen, sondern in Stunden oder Minuten - auf das Kundenverhalten reagieren und dem Kunden abhängig von der aktuellen Situation sogar während des Telefonkontakts maßgeschneiderte Angebote machen."
Sicher ist, dass es für HANA eine Vielzahl weiterer Anwendungsfelder gibt - eben jene, die heute im Zusammenhang mit Big Data diskutiert werden. Welche Möglichkeiten sich tatsächlich mit einer Echtzeitverarbeitung großer Datenmengen erschließen, soll sich allerdings noch erweisen. "Es gibt für Big Data nicht die Killeranwendung oder das Superbeispiel", sagt Professor Gadatsch, "im Grunde ist Kreativität gefragt."
Daran fehlt es bei SAP nicht. So sieht der Softwareanbieter beispielsweise in der Medizintechnik, der Krebsforschung und der Genomauswertung mit ihren riesigen Datenmengen sinnvolle Anwendungsgebiete. Auch im Bereich Handel/Transport wären mit dem sogenannten "Precision Retail" individualisierte Angebote an die Kunden möglich, die ihm per Handy direkt während des Einkaufs in Abhängigkeit von seiner Produktauswahl unterbreitet werden. In einer japanischen Einkaufskette findet derzeit ein Pilotprojekt dazu statt.
Auch das Transportunternehmen STM aus Montreal, Kanada, hat ein Pilotprojekt aufgesetzt. Dabei bildet SAP Precision Retailing den Kern für geolokalisierte und personalisierte Angebote. In Zusammenarbeit mit Einzelhändlern, Taxis, Unterhaltungsanbietern und Medienpartnern sollen einer Million jährlicher Fahrgäste personalisierte Inhalte und Angebote in Echtzeit unterbreitet werden.
Gleitender Umstieg auf SAP HANA
Doch erfolgreiche Pilotprojekte und erste Einsätze in Unternehmen sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass HANA und Big-Data-Projekte noch seltene Ausnahmen sind: "Der Umstieg auf SAP HANA wird gleitend erfolgen", sagt Spies. "Für eine komplette Migration fehlt derzeit sowohl den internen IT-Organisationen als auch externen Beratungen noch das nötige Know-how."
Und nicht nur das: "Die große Schwierigkeit bei der Erschließung neuer Anwendungsfelder für Big Data ist derzeit, dass sich das Business-Management bisher kaum mit dem Thema auseinandergesetzt hat", konstatiert Professor Gadatsch. Das Potenzial von Big Data würde nur allmählich und zuerst in den IT-Abteilungen erkannt. Die IT-Manager aber seien meist weit entfernt von der Produktentwicklung. "IT- und Business-Management müssen zusammengebracht werden, um das Potenzial von Big Data in neue Geschäftsmodelle umzusetzen. Vereinfacht gesagt: Es gibt inzwischen Lösungen, aber noch kein ausgeprägtes Bewusstsein für das Problem."