Unser Vergütungssystem ist nicht gerecht", sagt Gernot Pflüger, Geschäftsführer der CPP Studios. Das Unternehmen mit seinen knapp 30 Beschäftigten produziert erklärende Animationen, Filme und Viral-Videos für Social Media - knallhart kalkuliert und unter Zeitdruck. Seit der Gründung vor 30 Jahren gab es hier noch nie Führungsstrukturen, dafür ein Einheitsgehalt. Alle fest angestellten Mitarbeiter verdienen unabhängig von Alter und Funktion gleich viel, nur Freelancer und Inhaber Gernot Pflüger, der mit seinem Vermögen haftet, bekommen etwas mehr.
Am Jahresende machen alle zusammen Kassensturz und entscheiden kollektiv darüber, wie viel sie sich als Bonus auszahlen und welche Beträge für das Unternehmen gespart oder reinvestiert werden sollen. Wenn es gut läuft, gibt es bis zu 15 Monatsgehälter, wenn nicht, müssen alle auf einen Teil ihres Gehalts verzichten. "Natürlich leisten einige mehr als andere, aber es gibt keinen Algorithmus, um Leistung zu messen. Wenn es ihn gäbe, würde ich keinen Einheitslohn bezahlen", argumentiert Pflüger.
Der Auszug aus der Pyramide
Sein Ansatz ist in der heutigen Arbeitswelt die absolute Ausnahme. Allerdings folgen immer mehr Firmen in einzelnen Teams einem ähnlichen Arbeitsmuster: Beschäftigte bewegen sich auf Augenhöhe oder in Netzwerken. Vor allem in einem Umfeld, in dem es um die Digitalisierung und Softwareentwicklung geht, ist Selbstorganisation gefragt.
Häufig kommen agile Methoden wie Scrum oder Kanban zum Einsatz. Gleichzeitig entscheiden noch meist die Führungskräfte anhand des jährlichen Mitarbeitergesprächs, ob eine Gehaltserhöhung ansteht oder nicht. Unternehmen legen häufig Gehaltsbänder fest, in die sie ihre Mitarbeiter nach bestimmten Kriterien eingruppieren. Ein Wechsel ist nur nach oben vorgesehen - und spiegelt die klassische Karriereleiter wider.
Einige Arbeitgeber, die ihre Zusammenarbeit ändern, machen sich auch über ihre Vergütungssysteme Gedanken oder setzen schon alternative Ansätze ein. Auslöser sind oft Störgefühle in der Organisation: Warum sollen Führungskräfte deutlich mehr verdienen als Mitarbeiter, die in ihrem Arbeitsalltag auch viele Entscheidungen für das Unternehmen treffen? Können Führungskräfte die Leistung der Mitarbeiter adäquat beurteilen? Und inwiefern passen individuelle Boni und Zielvereinbarung zu guter Teamarbeit?
Wenn Unternehmen diese Fragen nicht glaubwürdig beantworten können, entstehen bisweilen toxische Spannungsfelder. Hinzu kommt, dass sich die Wertvorstellungen und Wünsche der Mitarbeiter an ihren Arbeitsplatz stark wandeln. Viele Menschen erwarten eine hohe Flexibilität von Arbeitgebern - etwa in Form einer höheren Wahlfreiheit zwischen Geld und Freizeit. Plattformen wie Glassdoor, Xing/Kununu oder salary.com tragen dazu bei, dass Gehaltsinformationen immer transparenter werden. Nicht zuletzt steht mit der Diskussion um einen Gender Pay Gap die Forderung nach mehr Transparenz im Raum.
Erste alternative Ansätze zeigen sich schon seit einigen Jahren - seit 2017 häufiger unter dem Begriff New Pay. Im kürzlich erschienenen gleichnamigen Buch erklären Sven Franke, Stefanie Hornung (Autorin diesen Artikels) und Nadine Nobile, dass es sich dabei nicht um ein bestimmtes Gehaltsmodell, sondern um einen Prozess handelt: Es geht darum, das geeignete Vergütungsverfahren für die jeweilige Unternehmenskultur zu finden.
Im agilen Arbeitsumfeld sind dabei vor allem sieben Dimensionen bedeutsam: Fairness, Transparenz, Selbstverantwortung, Partizipation, Flexibilität, Wir-Denken und Permanent Beta. Auf Grundlage dieser Prinzipien identifizieren die New-Pay-Autoren 18 verschiedene Ansätze, die auf New Pay einzahlen und in der Praxis schon vorkommen - vom Einheitsgehalt über transparente Gehaltsverhandlungen und Mitarbeiterbeteiligung bis hin zum Wunschgehalt oder selbstgewählten Gehalt.
Mit der Gehaltsformel zum ultimativen Algorithmus?
Eine beliebte Lösung, vor allem im IT- und Softwareumfeld, ist die sogenannte Gehaltsformel: Mitarbeiter - und oft auch Bewerber - können anhand bestimmter Kriterien errechnen, was sie verdienen müssen. So wird beispielsweise zu einem Basisgehalt je nach Verantwortung im Unternehmen die Berufserfahrung eingerechnet. Dabei kann auch ein Standortfaktor zum Tragen kommen, der die Lebenshaltungskosten in bestimmten Städten berücksichtigt. Gehälter sind absolut transparent - jeder weiß, welche Gehaltskriterien einfließen und wie sie gewichtet sind.
Die Agenturgruppe Ministry Group mit ihren rund 50 Beschäftigten, zum größten Teil Programmierer und Kreative, hat sich für diese Lösung entschieden. "Gefühlte Fairness kann man, wenn überhaupt, nur mit einem Formelmodell realisieren", glaubt Geschäftsführer David Cummins. "Wir haben festgestellt, dass nicht mangelnde Transparenz der Gehälter unser Problem ist. Stattdessen müssen wir für Nachvollziehbarkeit sorgen." Die Lösung soll gleichwohl nicht zu technisch sein und das Problem anpacken, dass Führungskräfte allein die Mitarbeiter nicht adäquat einschätzen können.
Deshalb enthält die Ministry-Formel einige Besonderheiten. Als Komponenten sind beispielsweise Faktoren wie Selbst- und Fremdeinschätzung eingerechnet. Dazu sollen noch die Aspekte "Extra Engagement" und "Unternehmertum" kommen, die alle nach einem transparenten Verfahren ermittelt werden,das eine Arbeitsgruppe aus Freiwilligen erarbeitet hat. Bisher ist das Modell noch in der Testphase, denn die Gehaltsformel ist nicht so trivial, wie es auf den ersten Blick erscheint. Der Bewertungsmechanismus muss sich bewähren und das Unternehmen sich die errechneten Gehälter auch leisten können. Zudem können kleinste Anpassungen an der Formel Gehaltssprünge bei den Mitarbeitern auslösen.
Der IT-Dienstleister Seibert Media mit seinen rund 170 agil arbeitenden Beschäftigten in Wiesbaden und San Diego hat sich für einen anderen Ansatz entschieden. In den Anfangstagen der Firma in den 90ern galt noch die alte Kaufmannsregel: Der Gewinn liegt im Einkauf. Folglich zahlte die Firma den Mitarbeitern so wenig wie möglich und kitzelte in Gehaltsverhandlungen die Schmerzuntergrenze heraus. Wer besser verhandelte, verdiente mehr. "Wenn du mir die Empfehlung gegeben hättest, drücke diese sieben Knöpfe und du kannst dem Mitarbeiter noch 2000 Euro weniger zahlen, dann hätte ich es gemacht", gibt Gründer und Geschäftsführer Martin Seibert heute zu.
Mit agilem Arbeiten und Teamrecruiting ließ sich dies schwer vereinbaren, doch die Umstellung brauchte Zeit: Um die Vergütung transparenter machen zu können, waren Gehaltsanpassungen über drei Jahre nötig. Kollegen, die im Vergleich zu den anderen zu wenig verdienten, bekamen Gehaltserhöhungen. Seit 2014 arbeitet Seibert Media nun an einem neuen Gehaltsmodell, das jährliche Gehaltsrunden vorsieht. Elementar sind dabei die "Gehaltschecker": ein Kreis von gewählten Mitarbeitern, die Einsicht in alle Gehälter haben.
Vorschläge für Gehaltsveränderungen, die aus den Teams oder von den Mitarbeitern kommen, gleichen sie ab und verteilen sie auf das zur Verfügung stehende Budget. Gehaltschecker berücksichtigen die wirtschaftliche Machbarkeit und übernehmen Verantwortung. Somit setzen sich nicht alle Mitarbeiter intensiv mit dem Thema auseinander - das schont Ressourcen. Allerdings muss letztlich jeder selbst aktiv werden, um eine Gehaltserhöhung zu bekommen. "Ich kümmere mich darum, dass wir unsere Mitarbeiter irgendwann fürstlich entlohnen können, und da gibt es noch einiges zu tun", so Martin Seibert.
New Pay hat erst begonnen
Bisher greifen vor allem kleine und mittelständische Unternehmen Ideen von New Pay auf.In Großunternehmen ist der Veränderungsprozess zäher. Seit einigen Jahren ist etwa ein Trend weg von individuellen Boni zu beobachten: Rund 15 Konzerne haben diese im außertariflichen Bereich abgeschafft und durch Wir- oder Team-Boni ersetzt. Neben einigen Dax-Konzernen hat sich auch die Robert Bosch GmbH für diesen Weg entschieden.
Für die agilen Einheiten im Tarifbereich wurde bei Bosch zudem ein neues Vergütungssystem kreiert und mit der IG Metall vereinbart. Es beinhaltet zehn Gehaltsgruppen mit einer hohen Durchlässigkeit. Nach wie vor schätzen Führungskräfte die Gehaltsentwicklung ein, aber erstmals haben Mitarbeiter auch die Möglichkeit, eine Selbsteinschätzung abzugeben.
Die Bosch-Vergütungsprofis haben sich in diesem Zusammenhang auch mit dem Ansatz des Wunschgehalts auseinandergesetzt, das in kleineren Organisationen wie etwa bei der Agentur Wigwam in Berlin zum Einsatz kommt: Jeder Mitarbeiter kann sein Gehalt selbst bestimmen und erhält dafür Einblick in die Unternehmenszahlen und das zur Verfügung stehende Budget. Reicht dieses nicht aus, um die Wünsche aller zu erfüllen, werden die Gehälter prozentual heruntergerechnet.
Die Motivation der Mitarbeiter ist somit hoch, am Unternehmenserfolg mitzuarbeiten und das eigene Wunschgehalt zu erreichen. Doch gleichzeitig ist ein hohes Maß an Solidarität und Toleranz für die Wünsche der Kollegen gefragt. "Das Wunschgehalt wird in einem Konzern von 400.000 Mitarbeitern nicht großflächig funktionieren",ist Uwe Schirmer überzeugt, der für Personalgrundsatzfragen bei Bosch zuständig ist. "In einer kleinen überschaubaren Einheit, in der alle Mitarbeitenden Ergebnisverantwortung tragen, kann ich mir das aber als Experiment durchaus vorstellen."
In Zukunft dürften demnach weitere Konzepte in großen Unternehmen folgen, zumal Mitarbeiter, die agil arbeiten, meist außertariflich bezahlt werden. Absolut gerecht kann es dabei nie zugehen, aber die Zielmarke ist gesetzt. New Pay hat gerade erst begonnen.