Noch geht es einigermaßen ruhig zu in der Gesundheitsbranche, verglichen mit anderen Branchen wie Automotive oder Handel. Doch die Ruhe ist trügerisch: Zwar sind die Veränderungen im Healthcare-Bereich bislang nicht sonderlich disruptiv, aber sie sind spürbar, und sie nehmen langsam ihren Lauf. "In zwei bis drei Jahren werden das Marktgeschehen, die Digitalisierung und die Startups das Gesundheitswesen verändern", erwartet CIO Gerd Niehage vom Medizintechnik- und Pharmahersteller B. Braun Melsungen.
Liegezeiten im Krankenhaus halbiert
Tatsächlich herrscht in der Branche schon lange ein hoher Kostendruck, weil die Ausgaben für Medikamente und Behandlungen stetig steigen und die Menschen immer älter werden. Zugleich deckelt der Gesetzgeber die Budgets in diesem weitgehend regulierten Markt. Als eine Reaktion darauf gibt es europaweit den Trend, dass Krankenhäuser ihre Patienten immer früher entlassen, um zu sparen. Laut Statistischem Bundesamt betrug in Deutschland im Jahr 2016 die durchschnittliche Liegezeit von Patienten 7,3 Tage, 1991 lag sie noch bei 14 Tagen. Diese Entwicklung wird sich fortsetzen. Als Benchmark gilt zurzeit Dänemark, wo die Verweildauer auf nur noch drei Tage gesunken ist.
Natürlich gesunden die Patienten nicht schneller als früher, vielmehr verlagert sich die Heilungsphase ins private Heim sowie in ambulante Pflegeeinrichtungen. In der häuslichen Pflege ergeben sich damit viele Chancen für Startups, um Ärzte, Pflegedienste, Apotheken, Medizintechnikanbieter, Sanitätshäuser oder Krankenversicherungen zusammenzuführen. "Die Entscheidung, welchen Anbieter der Patient nimmt, fällt der Patient dann schon im Krankenhaus mit einer App", sagt Niehage.
Der CIO kann sich vorstellen, dass es dann eine Plattform für die ambulante Betreuung geben wird, vergleichbar etwa mit dem Hotelbuchungsportal HRS, wo alle Anbieter gegen Gebühr aufgenommen und miteinander verglichen werden. Hoteliers sind über HRS nicht durchweg glücklich, um es vorsichtig auszudrücken. Solche Vergleichsportale kosten Geld und nagen an den Gewinnmargen, weil sie Preistransparenz ermöglichen.
IoT-Plattform in der Cloud
Bevor andere das zentrale Portal für die Branche bauen, möchte B. Braun selbst tätig werden. Schließlich bietet das Unternehmen eine breite Palette an Produkten, die in der Heimpflege eingesetzt werden können. Dazu zählen beispielsweise technische Hilfsmittel für die Wundversorgung und die Behandlung von Diabetikern, Infusionsapparate und -lösungen, Dialysegeräte oder Stoma- und Katheterversorgung. "Mittels Digitalisierung und einem eigenen Hub könnten wir es Patienten viel einfacher ermöglichen, an Produkte und Services zu kommen", erläutert Niehage.
Ein solcher Service könnte die Überwachung eines Diabetespatienten sein, bei dem Sensoren den Zuckerspiegel messen und eine kombinierte Glykose- und Insulinpumpe den Zuckerhaushalt steuert. Dafür entwickelt B. Braun zurzeit eine Plattform, auf der alle Produkte mit einer einheitlichen Schnittstelle in einer konzerneigenen Cloud verbunden sind. "Egal ob unsere Produkte im Krankenhaus oder in Zukunft in den eigenen vier Wänden betrieben werden, wir brauchen dazu eine IoT-Plattform, um die Geräte zu warten oder Sensordaten aufnehmen und verarbeiten zu können", erklärt Niehage.
Die Digital Foundation hat es in sich
Die geplanten Netze und Prozesse für solche Geschäftsmodelle sollen aber nicht nur lokal in Deutschland funktionieren, sondern weltweit, und zwar einheitlich. In der Umsetzung ihrer Digitalisierungsstrategie folgt die IT dabei der Unternehmensstrategie: Es geht um mehr Wachstum und höhere Profitabilität. Erwirtschaftete B. Braun 2017 einen Umsatz von 6,8 Milliarden Euro, so strebt das Unternehmen für 2020 einen Umsatz von acht Milliarden Euro an.
Für die IT heißt das, Prozesse noch effizienter zu gestalten und zu digitalisieren, um die Produktivität zu steigern. Zum anderen gilt es, die neuen Geschäftsmodelle zu fördern. Dazu hat B. Braun eine Digitalstrategie entwickelt, um die beiden Säulen digitale Transformation und digitale Innovation voranzutreiben. "Für unsere Digitalstrategie brauchen wir ein stabiles Fundament, um unsere gesamte Daten- und Prozesslandschaft zu harmonisieren und einen unterbrechungsfreien Datenfluss zu gewährleisten", sagt Niehage. Ohne diese "Digital Foundation" würden die besten digitalen Geschäftsmodelle nicht funktionieren.
Die Digital Foundation hat es in sich, denn sie soll die technische Grundlage für die kommenden zehn bis 15 Jahre bilden. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Migration auf SAP S/4HANA zu. Zurzeit herrscht bei B. Braun noch eine heterogene ERP-Landschaft vor, die dadurch geprägt ist, dass das Unternehmen schon sehr früh auf ERP gesetzt hat, stets aktiv bei Mergers and Acquisitions war und außerdem durch die starke internationale Aufstellung immer schon den Gesetzen in verschiedenen Ländern folgen musste. "Das Upgrade auf S/4HANA ist für uns der Anlass, komplett alle Prozesse anzufassen, um globale intelligentere und integrierte Prozesse zu schaffen", sagt Niehage. Die SAP-Cloud-Software sei das Vehikel, um das übergeordnete Projekt des "Intelligent Enterprise" voranzutreiben.
S/4HANA für 2025 und später
Künftig will B. Braun beispielsweise Prozesse werksübergreifend von einer Vorfertigung in Asien bis hin zur Endfertigung in Melsungen abbilden. Lieferschwierigkeiten wegen Bottlenecks in der Supply Chain werden Kunden und Patienten auf Dauer nicht dulden.
Mit hochgradig standardisierten Abläufen kennt sich der CIO aus. Anfang 2017 kam Niehage vom Automobilzulieferer Hella, wo er auch schon als CIO tätig war. "Wir nehmen uns zwei Jahre Zeit, alle neuen Prozesse zu entwickeln", sagt Niehage. "Wir wollen keine Software einführen, die das Jahr 2018 widerspiegelt, sondern eine, die uns zukunftsorientiert weit über 2025 hinaus weiterhilft." Weltweit arbeiten rund 50 Koordinatoren mit Prozessverantwortung entlang der neu zu definierenden End-to-End-Prozesse. Weil die IT mit dem ERP-Wechsel zwei Schritte zugleich vollzieht, nämlich standardisieren und flexibilisieren, wird sie künftig auch möglichst kein System mehr customizen.
Der S/4HANA-Rollout soll 2025 abgeschlossen sein. Das neue ERP-System soll nicht etwa in einer Private Cloud betrieben oder gehostet werden, sondern in einer Public Cloud bereitstehen. "Flexibilität bekommen wir nur hin, wenn wir in die Public Cloud gehen", begründet der CIO diese Entscheidung. "Wir wollen ganz nah am Standard bleiben und einen Evergreen-Ansatz fahren."
Individuelle Ausprägungen in Ländern und Werken sollen später über Microservices sichergestellt werden, die auf die S/4-HANA-Welt zugreifen und die Daten auch wieder zurückspielen. 80 Prozent sollen im Standard bleiben, 20 Prozent werden lokale Ausprägungen sein. "S/4HANA ist dann eine große Datenbank für uns, mit der wir alle Daten im ganzen Unternehmen unterbrechungsfrei zur Verfügung stellen", so Niehage.
Change ist die Herausforderung
Die zwei Jahre Vorlaufzeit veranschlagt Niehage nicht nur, um Prozesse neu zu planen. Es geht auch um einen kulturellen Wandel. Die Mitarbeiter sollen lernen, verstärkter End-to-End vernetzt zu denken. Zurzeit arbeitet der CIO intensiv mit den Prozesskoordinatoren zusammen, deren anfängliche Skepsis immer mehr einer offen-positiven Haltung weicht. Diese Koordinatoren sollen das neue Denken später in das gesamte Unternehmen hineintragen. "80 Prozent der digitalen Transformation besteht aus Change-Management", ist sich der CIO sicher. "Das ist die große Herausforderung".
B. Braun ist schon seit vielen Jahren ein Vorreiter einer modernen Bürokonzeption, die eine offene Kommunikation unterstützt und die weiterentwickelt wird. Human Resources (HR) und die Unternehmenskommunikation waren auch die ersten Abteilungen, die sich nach der Methode "Tasks and Teams" aufgestellt haben.
Dabei arbeiten Mitarbeiter aus unterschiedlichen Bereichen und Regionen selbstorganisiert und gemeinsam an Projekten, wodurch keine Abteilung mehr alleine vor sich hin werkeln kann. Dies ist ein großer Vorteil in der Transformation. Deshalb arbeitet Niehage ebenfalls eng mit den Personalverantwortlichen zusammen, mit denen er Schulungen und die Weiterentwicklung der Organisation abstimmt. Praktische Anwendung findet die Methode auch bei einem großen PLM-Projekt, das als tragende Säule der digitalen Transformation noch vor dem Baubeginn der S/4HANA-Plattform fertiggestellt werden soll.
Hier kam es immer wieder zu Diskussionen zwischen beteiligten Experten aus allen Sparten, Regionen und Fachbereichen, wie das zukünftige Vorgehensmodell in Projekten aussehen soll, zum Beispiel dass man in Salesforce agil arbeiten könne, bei SAP dagegen auf das Wasserfallmodell angewiesen sei. "Übergreifend kann man nicht mehr nach Wasserfall vorgehen, sondern man muss mit User-Stories arbeiten, um End-to-End zeigen zu können, was geschieht", glaubt Niehage. "Statt in IT-Funktionen müssen wir in Business-Funktionen denken, um die Veränderungen für alle verständlich zu machen."
Strukturen aufbrechen
Auch die über Jahre gewachsenen Strukturen in der IT sind in Frage zu stellen, bevor sie zu einem Engpass für Innovationen, Agilität und Tempo werden. Deswegen fing der CIO damit an, die Mitarbeiter für eine Vertrauenskultur zu begeistern, die den direkten Zugriff auf die Experten ermöglicht. Bei den Fachleuten kam das gut an, weil sie spürten, dass ihre Stimme auf einmal Gewicht bekam. Aber das mittlere Management fühlt sich in der neuen Rolle oft übergangen und überflüssig. Um allen Mitarbeitern diese Sorge zu nehmen, arbeitet Niehage heute mit einer Coaching-Agentur zusammen. Nach gut einem halben Jahr zeigen sich seinen Ausführungen zufolge Fortschritte in der Kommunikation, so dass sich die Umsetzungsgeschwindigkeit erhöht habe.
Seine Rolle als CIO sieht Niehage auch darin, Zielbilder weiterzuentwickeln, wo das Unternehmen mit seinen Bereichen 2025 stehen will. Damit sich die Mitarbeiter in die richtige Richtung bewegen können, brauchen sie Ressourcen, Skills und auch die nötigen Freiheiten. Das Arbeiten in interkulturellen und virtuellen Teams kennt Niehage schon aus seiner Zeit bei Hella gut, als CIO hatte er für den Automobilzulieferer von 2008 an in Shanghai gearbeitet und gelebt.
Bimodal IT wird aufgebaut
Für noch mehr Tempo soll eine bimodale Aufstellung der IT-Organisation sorgen. In einer Inventur über die wichtigsten Projekte hatte der CIO feststellen müssen, dass er eigentlich 500 zusätzliche Mitarbeiter bräuchte, wenn er alle geplanten Projekte umsetzen wollte. Weil Niehage weiß, dass er zu den bisherigen 650 IT-Mitarbeitern kaum weitere 500 hinzubekommen wird, soll die bimodale IT das Projekt-Gap verkleinern. Heute umfasst die agile IT-Organisation rund 40 Mitarbeiter, 200 weitere sollen in Shared-Service-Centern aufgebaut werden. Dieser Bereich arbeitet mit agilen Methoden nach dem DevOps-Ansatz. Es gibt keine Hierarchien, viele Freiheiten und eine vollständige Orientierung am Task-and-Teams-Ansatz, damit sich die Mitarbeiter immer wieder schnell neu organisieren können.
Der Mitarbeiterengpass liegt jedoch weniger bei Entwicklern, so Niehage: "Es gibt zu wenige Berater wie Scrum-Master, die Projekte moderieren und Prozesse begleiten können." Arbeit finden solche internen Consultants auch in der neu geschaffenen Inhouse-Beratung, die auf die Fachbereiche zugehen und ihnen beispielsweise erklären muss, was sie tun müssen, wenn sie sehr schnell eine App für bestimmte Anforderungen entwickelt haben möchten.
Fachbereiche sollen IT-Kompetenzen aufbauen
CIO Niehage wäre es noch viel lieber, wenn die Fachbereiche basierend auf dem vorgegebenen standardisierten Fundament ihre Apps in Zukunft gleich selbst entwickeln und anschließend als Microservice in einem Core-Verzeichnis konzernweit zur Verfügung stellen würden. Dafür müssten sie massiv IT-Kompetenzen aufbauen, ebenso könnten Mitarbeiter aus der IT in die Fachbereiche wechseln.
"Die Kern-IT bekäme dann eine beratende und lenkende Funktion, die das Gesamtbild im Blick hat." Konzernweit brauche B. Braun eigentlich 3000 bis 4000 Leute mit einem IT-Footprint, meint Niehage, weil sich der Konzern in der digitalen Transformation wie alle großen Unternehmen immer stärker zu einem IT- und Software-getriebenen Unternehmen entwickle.
Ein Langzeitprojekt
Auch im Vorstand bewegt sich einiges bei B. Braun, da die Digitalisierung neue Geschäftsperspektiven schafft. Angesichts der vielen Diskussionen und Gespräche über die digitale Transformation und das agile, schnelle Business kommen auch Erwartungen auf, dass die IT die neue Welt innerhalb kürzester Zeit aufbaue.
Tatsächlich hält CIO Niehage die Einführung von S/4HANA bis 2025 schon für sehr sportlich. Darin pflichtet ihm der Vorstandsvorsitzende Heinz-Walter Große von B. Braun bei: "Digitalisierung ist kein kurzfristiger Trend, sondern ein Prozess kontinuierlicher Weiterentwicklung in allen Unternehmensbereichen."
Trotz der langfristigen Pläne und Projekte muss die IT im Tagesgeschäft immer noch schnell auf neue Entwicklungen bei Technologien und Marktentwicklungen reagieren können, damit kein HRS für das Gesundheitswesen unverhofft ins Business grätscht.