Es gibt viele gute Beispiele von Unternehmen, deren IT sowohl Stabilität und Zuverlässigkeit als auch Agilität und Geschwindigkeit abliefert - ohne in einen bimodalen IT-Ansatz verstrickt zu sein oder zu werden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob der von Gartner gestartete Hype um eine IT mit zwei Geschwindigkeiten ein Fluch oder ein Segen für Unternehmen darstellt und welche Voraussetzungen die Verantwortlichen hierfür erfüllen müssen.
Was ist "Bimodale IT"?
Im Jahr 2014 enthüllte Gartner ihr "bimodales" IT-Modell vor der IT-Industrie. Es war neu, es war einfach und es war leicht zu kommunizieren. Es umfasste sowohl ein Fließband, um zuverlässig und stabil in die Jahre gekommene (Legacy-)Geschäftsanwendungen bereitzustellen als auch ein agiles Produktionsmodell, um neue, schlanke App-Anwendungen auf mobilen Geräten mit hoher Geschwindigkeit zu liefern. Vor dem Hintergrund der Digitalisierung versprach das Modell einen echten Fortschritt bezüglich der Umsetzung.
Bimodale IT ist die Praxis der Verwaltung von zwei getrennten und dennoch zusammenhängenden Formen der IT. Die eine fokussiert auf die Stabilität und die andere auf Agilität.
Form 1 ist traditionell und sequenziell. Sie betont die Zuverlässigkeit und Sicherheit sowohl in Entwicklung als auch im Betrieb. Modus 2 ist experimentell und nichtlinear. Sie betont Flexibilität und Geschwindigkeit.
Laut Gartner verspricht Bimodale IT die einzige nachhaltige Lösung für Unternehmen in einer zunehmend disruptiven digitalen Welt zu sein.
"Bimodale IT": Alter Wein in neuen Schläuchen?
In der Software Entwicklung hat US-Softwareingenieur Barry Boehm bereits in den 80er Jahren des letzten Jahrtausends versucht, die Geschwindigkeit über iterativ-inkrementelle Vorgehen zu beschleunigen. Spätestens seit dem agilen Manifest und den Agilisten hat dies auch Einzug in viele Unternehmen gefunden. Zugegebenerweise noch nicht in allen.
So bewirkt die Diskussion über bimodale IT sicher, dass die Themen IT und Geschwindigkeit (endlich) auf der Management-Etage ankommen - sicherlich auch auf der Grundlage, dass die IT bislang meist als antiquierter Kostenfaktor in Unternehmen betrachtet worden ist, der (wenn überhaupt) viel zu spät liefert und dort bislang eh nicht verstanden wurde. Es lebe der Hype um Digital Ventures!
Schon ausgiebig mit Moloch ITIL abgequält
Es gab aber auch schon vorher Versuche, IT-Prozesse schneller zu machen. So haben sich beispielsweise auf der Betriebsseite Unternehmen oder besser gesagt die IT-Verantwortlichen in Unternehmen ausgiebig mit dem Moloch ITIL abgequält. Lange hat es gedauert bis die Erkenntnis gereift ist, dass die schönen Prozesse in den ITIL-Büchern nicht 1:1 umsetzbar sind und die Praxis doch ganz anders aussieht. Doch spätestens seit Lean Management mit Kanban auch in IT-Betrieb Einzug hält und alle Welt von DevOps spricht sind die Tage von fetten und verstaubten IT-Betriebsprozessen in vielen Unternehmen auch gezählt.
Die Kritik an Bimodal IT
Also bimodale IT als wichtiger Schritt in die richtige Richtung? Bei weitem nicht, denn es gibt durchaus auch mehr als kritische Stimmen über diesen Ansatz.
Bimodale IT, wie der Name schon sagt, impliziert genau zwei Welten. Das legt den Schluss nahe, die eine mit "gut" und die "andere" mit schlecht zu belegen. Nun kann sich jeder selbst heraussuchen, welche mit der dunklen Seite der Macht assoziiert wird. Fakt ist: Die heutige, reale Welt ist doch multi-modal. Sie ist nicht so einfach wie eine " Entweder-Oder"-Gleichung - mehr wie ein "Sowohl-als-auch". Es bedarf einer Kombination von besten Lösungen, um die Komplexität zu beherrschen und ein Problem ganzheitlich zu lösen - insbesondere in der IT.
Neue Silos für Produkte, Prozesse und Menschen
Ein zwei-dimensionales Denken schafft künstliche Silos für Produkte, Prozesse und Menschen. Dies ist für beide Seiten nicht gut. Der bimodale Ansatz klebt der traditionellen IT-Welt ein Pflaster über die Wunde, aber tut nichts, um die Blutung zu stillen. Dieses Modell institutionalisiert und rechtfertigt "Stagnation" und verhindert Innovation oft dort, wo sie am meisten und dringendsten gebraucht wird: In den Molochen und Legacy-Plattformen. Ressourcen werden umverteilt und dies sorgt dafür, dass die ach gepriesen Zuverlässigkeit und Sicherheit doch nicht mehr ganz so zuverlässig und sicher ist - Start eines Teufelskreises.
Auf der anderen Seite bekommt das Modell der hohen Geschwindigkeit und Agilität einen Freifahrschein, um nun endlich - Gott sei's gedankt - undiszipliniert und unsystematisch Software-Entwicklung betreiben zu dürfen. Die mageren Fortschritte ingenieursmäßiger Software-Entwicklung werden dabei mit Füßen getreten. Zurück zu den Anfängen - Hauptsache Geschwindigkeit. Dass auch die mit hoher Geschwindigkeit entwickelte App irgendwann nachhaltig, zuverlässig und sicher betrieben werden muss, wird schnell einmal übersehen. Und auch die Entwickler der jungen Generation werden älter. Die Lösung von heute wird wieder einmal zum Problem von morgen.
Amazon, Google oder Facebook arbeiten auch nicht bimodal
Sicher ist die vereinfachte Art der Darstellung hilfreich, um IT-innovationsfeindlichen Unternehmen den Spiegel vorzuhalten. Doch wir wissen spätestens seit Fred Brooks über die berüchtigte Silver-Bullet, dass eine einzige Lösung für alles nicht ausreicht. Gerade heute ist die Welt voll von Unternehmen, die Agilität und Stabilität dem Kunden abliefern. Amazon, Google, Facebook, Apple oder Uber - wie viele von diesen Unternehmen nutzen einen bimodalen IT-Ansatz im Sinne bimodale IT-Strategie, bimodale IT-Organisation oder bimodale IT-Prozesse? Sie sind vielmehr geprägt von der ganzheitlichen Betrachtung, dass IT dem Geschäft entspricht und umgekehrt.
Bimodale IT: vom "Entweder oder" zum "Sowohl als auch"
Keine Frage: Unternehmensverantwortliche müssen die strategischen Weichen für eine effektive und effiziente Digitalisierung stellen. Egal wie Sie es drehen oder wenden: Am Ende fordert die Digitalisierung die Informationstechnik zur Umsetzung auf. Hierfür ist eine ganzheitlichere Betrachtungsweise ausgehend von einer strategischen Betrachtung erforderlich, die sowohl revolutionäre, High-Speed-Lösungsansätze als auch evolutionäre Lösungsmuster unter vereint.
Revolutionäre und evolutionäre Lösungsmuster der IT strategisch verankern
So oder so wird die Digitalisierung des aktuellen Geschäftsmodells in vielen Fällen vom Geldgeber, dem Finanzchef (CFO), oder dem IT-Manager (CIO) verantwortet. Die Umsetzung orientiert sich meist an evolutionären Entwicklungsschritten, die eher Wert auf geringe Kosten als auf Geschwindigkeit legen. Hier besteht dann die Herausforderung darin, die Geschwindigkeit zu steigern.
Gilt es indes, ein digitales Geschäftsmodell zu entwerfen, bedarf es im Kontext des Ganzen neuer, innovativer Ideen. Die Herausforderung besteht dann im konsequenten Hinterfragen - eigentlich sogar im Zerstören - des aktuellen Geschäftsmodells. Die Lösungsmuster sind revolutionär und erfordern neue, kreative Formen der Problemlösung. Ob dies in Projektform, in einer eigenen Organisationseinheit oder durch Gründung eines eigenen Unternehmens folgt, muss mit Blick auf das Ganze entschieden werden.
Eine evolutionäre oder revolutionäre strategische Ausrichtung ist nicht per se besser oder schlechter als die andere. Es kommt etwa darauf an in welcher Branche, welchem Wettbewerbsumfeld und auf welchem Entwicklungsstand sich ein Unternehmen befindet. Das Management muss eine klare Ausrichtung festlegen und entscheiden. Je nach Ergebnis werden die Eckpfeiler und Rahmenbedingungen für die Umsetzung festgelegt: in einer oder mehreren Spuren. Ob diese Ausrichtung nun das Label "bimodal" trägt, sei jedem Unternehmen selbst überlassen. Eins ist klar. Die Umsetzung beginnt mit klaren Spielregeln in Form einer Governance.
Bimodalität über die Governance regeln
Egal wie stark ein Unternehmen von der bimodalen Welle erfasst wird: Fast immer klafft zwischen Geschäft und Informationstechnik ein mehr oder weniger tiefer Verständnisgraben. Eine Ursache hierfür liegt in den Vereinbarungen und Regelungen, die zwischen Geschäft und IT zwar prinzipiell vorhanden sind, aber in der Praxis oft versagen. Über Jahre gewachsene Kulturen und Denkmuster lassen sich nicht über Nacht per Ansage aufheben.
Klare IT-Governance-Strukturen zwischen Geschäft und IT tragen deshalb in besonderem Maße dazu bei, die Unternehmensziele bezüglich der digitalen Weiterentwicklung und darüber hinaus besser zu erreichen. Sie definieren die Spielregeln, wie Unternehmens-IT und Geschäft miteinander arbeiten, wie Rechte und Pflichten im Unternehmen verteilt sind.
Eine mehrspurige IT-Aufstellung sorgt für zusätzliche Komplexität in der Governance. Plötzlich ist nicht nur die Governance zwischen Geschäft und IT zu definieren, sondern auch zwischen IT und "disruptiven" Einheiten. Ohne klare Regelungen ist der Konflikt vorprogrammiert. Während sich zum Beispiel die Unternehmens-IT an Standards hält, agieren disruptive Einheiten oft wie in einem freien Raum. Jedwede Standardisierung wird als Einschränkung verstanden und sofort als Gefahr für das Ziel der Geschwindigkeit gebrandmarkt. Aufgrund des großen Konfliktpotenzials tun Unternehmen gut daran, die notwendigen Regelungen im Vorfeld zu treffen.
Bimodale Strukturen und Prozesse gestalten
Wird der bimodale Ansatz unter Federführung der bisherigen IT-Einheiten angestrebt, ist meist keine Anpassung der Organisationsstrukturen erforderlich - allerdings möglicherweise die Fragestellung, ob die IT-Einheit in sich optimal aufgestellt ist.
Ein übergreifender bimodaler Angang stellt indes eine organisatorische Herausforderung dar. Zum einen besteht die Möglichkeit eines High-Speed-Angangs in der Projektorganisation. In diesem Fall dient ein Projekt der Verprobung des Modells. Für den Aufbau und die Integration einer eigenen High-Speed-Organisationseinheit ergeben sich prinzipiell drei strukturelle Optionen.
als dezentrale Einheit(en) auf der Geschäftsseite mit großer Nähe zum Business
als gebündelte Einheit in der Unternehmens-IT und
als gebündelte, separate Einheit (zum Beispiel Direct Report des CEO).
Die nächste Stufe der Skalierung wäre die Gründung eines eigenständigen High-Speed-Start-ups.
Effektivität und Effizienz, um Prozesse auf Geschwindigkeit zu trimmen
Doch nicht nur die organisatorische Ausrichtung, auch die prozessuale Gestaltung gehört auf den Prüfstand. Effektivität und Effizienz sind für Verantwortliche innerhalb und außerhalb der IT neben Geschwindigkeit ein Dauerbrenner. Auch hier muss Hand angelegt werden, um die Prozesse auf Geschwindigkeit zu trimmen. Dies fängt bei veränderten Portfolio- und Steuerungsprozessen an und setzt sich über Projektmanagement-Prozesse in die Software-Entwicklung und den IT-Betrieb fort. An dieser Stelle ist viel Überzeugungsarbeit dahingehend zu leisten, dass ein erfolgreiches Projekt zu einem Zeitpunkt besser ist als fünf parallele Projekte, die sich gegenseitig kannibalisieren und sich so alle in Schieflage befinden
Bimodale IT zu einem bimodalen Geschäft weiterentwickeln?
Egal, ob Verantwortliche nun die bimodale IT als Fluch oder Segen betrachten. In Summe ist eine weitere Veränderung der Informationstechnik ohne Alternative. Anders als bisher fordert die Transformation eine hohe Aufmerksamkeit des Managements, weil die Transformation nicht nur mit IT zu tun hat, sondern weit in das eigentliche Geschäft ausstrahlt.
Aus Strategiedefinition, Governance-Anpassung, Organisationsentwicklung und Prozessanpassung wird eines schnell klar: Die Frage "Entwickelt sich die Zukunft der Informationstechnik zwei- oder mehrspurig?" ist eigentlich nur die zweitwichtigste. Im Hinblick auf Unternehmen, wie beispielsweise Kodak, die quasi über Nacht vom Markt verschwunden sind, geht es vielmehr um den Umbau des Geschäftssystems. Anstelle einer bimodalen IT müsste die Diskussion verallgemeinert werden in Richtung einer bimodalen Geschäftsaufstellung. Allein wenn die Diskussion über bimodale IT das auslöst, ist sie wohl Wert geführt zu werden.
Gefahr der Übertreibung
Das Problem ist nur: Wenn ein Verantwortlicher meint, spät dran zu sein, dann besteht die latente Gefahr der Übertreibung. Zu viel Geld wird dann zum Beispiel für den Kauf von Start-ups zur Verfügung gestellt, anstatt mit den Investitionen die erforderlichen Hausaufgaben in der IT zu erledigen. Nicht jedes Unternehmen braucht und verkraftet einen bimodalen Ansatz, um innovativ zu sein. Andersherum reichen die Ansätze in vielen Unternehmen aktuell bei weitem nicht aus, um festgefahrene Geschäftsmodelle in die Zukunft zu retten.
Die Frage ist, wann und in welchem Tempo sich die Verantwortlichen den gestellten, strategischen Fragen widmen und ob noch genügend Zeit für Anpassung und Veränderung bleibt. Im diesem Sinne ist bimodale IT ein Fluch und ein Segen zugleich, denn viel Zeit zum Handeln bleibt nicht mehr.