Das Kriegerdenkmal in den schottischen Highlands zeigt exakt drei Soldaten – den Blick in die Ferne schweifend und das Gewehr geschultert. Martin Gill, Analyst bei Forrester Research, hat das Foto vor einigen Wochen in seinen Blog gestellt. In der Überschrift zu seinem Eintrag fragt er nach der Formierung eines digitalen Kommandos. Offenbar ist Gill beim Sinnieren über die Position eines Chief Digital Officers (CDO) zum Nachdenken über die Militärstrategie Großbritanniens im Zweiten Weltkrieg gekommen. Traditionell seien das Heer, die Royal Navy und die Royal Air Force Silos gewesen, die unter Leitung Winstons Churchills das gemeinsame Agieren gelernt hätten. Tradierte funktionale Grenzen wurden damals überwunden, um eine klar umrissene, aber gewaltige Aufgabe zu bewältigen. Gill überträgt dieses Bild auf die Welt von heute. Die digitale Herausforderung sei für viele Firmen ebenso schwer und letztlich nur auf vergleichbare Weise zu meistern. In beiden Fällen braucht es nach Gills Dafürhalten eine übergeordnete Kommandostruktur.
CIO-Leser wissen seit rund einem halben Jahr, dass Forrester-Analyst Gill die Einrichtung eines CDOs dabei nicht für den Königsweg hält: weil es bei der Digitalisierung die ganze Organisation brauche, nicht nur einen Einzelnen an der Spitze. Die vor einigen Monaten geführte Grundsatz-Debatte über den beispielsweise bei der Kaffeehauskette Starbuck‘s eingeführten CDO hat sich inzwischen jedoch weitergedreht. Kleinster gemeinsamer Nenner ist, dass der Posten durchaus sinnvoll sein kann, was aber ganz vom einzelnen Unternehmen abhängt. In den Mittelpunkt gerückt ist inzwischen aber die überaus spannende Frage, ob und inwieweit sich der CIO als digitaler Frontmann eignet.
Vorstandserfahrung nötig
Für die Analysten von Gartner, die anders als Forrester das CDO-Thema stark vorangetrieben haben, gibt Dave Aron die Antwort. Und zwar dahingehend, dass nur ein kleiner Teil der IT-Chefs von einem Karriereschub durch die Digitalisierung hoffen darf. „Eine kleine Minderheit der CIOs spielt bereits die CDO-Rolle und manche CIOs streben das an", so Aron. „Manche wollen aber einfach nur weiterhin für die traditionelle IT verantwortlich sein." Um erfolgreich zu sein, benötige ein CDO Vorstandserfahrung, Glaubwürdigkeit in Fragen der Geschäftsstrategie und Ahnung von der digitalen Welt.
Aron scheint skeptisch, ob dieses Profil nicht viele IT-Chefs überfordert. „Manchen CIOs fehlt es an Wissen oder Prestige", stellt Aron trocken fest. Das ist laut Gartner vor allem in der Vielzahl der Firmen der Fall, in denen der CIO nicht auf oberster Führungsebene angesiedelt ist. Ein CDO sollte wohl am besten direkt an den CEO berichten, meint Aron.
Für CIOs – in ihrem Selbstverständnis ohnehin durch diverse technologische Entwicklungen wie die viel diskutierte Konsumerisierung der IT herausgefordert – stellt sich nun eine ganz handfeste Frage: Unterhöhlt die Schaffung eines CDOs womöglich dauerhaft ihre Position im Unternehmen? Ist der Chief Digital Officer ein gefährlicher Karrierekiller, wenn man nicht selbst in diese Rolle schlüpfen kann? Nicht unbedingt, glaubt Aron. Nach Gartner-Einschätzung sei die CDO-Rolle eine temporäre Angelegenheit – nötig nur solange, bis die Digitalisierung gemeistert ist. Gleichwohl könne diese Phase fünf bis zehn Jahre andauern. „Danach wird Digitales eingebettet sein in alles, was wir tun", so Aron. Bis es so weit ist, brauche die Digitalisierung aber einen exponierten Verantwortlichen. Das bedeutet nicht, dass der CDO alleine die digitalen Innovationen vorantreibt, sondern nur, dass er sie anregt, unterstützt und orchestriert.
In jedem Fall sei Digitalisierung etwas anderes als herkömmliche IT. Zwar gehe es dabei auch um elektronische Formen von Information und Technologie wie web-basierte, mobile und soziale Marketingkanäle, Smart Devices, Sensoren, IT-Technologie in Autos oder das Internet der Dinge. Allerdings erschöpfe sich die Digitalisierung nicht darin, Automatisierungsdienstleistungen für zentrale Geschäftsprozesse bereitzustellen wie etwa Enterprise Resource Planning (ERP). Digitalisierung beinhaltet laut Aron Produkte und Prozesse im Front Office wie im Back Office, die Konsumerisierung, Strategiefragen und mehr.
Digitalisierung braucht Koordination
„IT-Strategie ist eine Business-Frage mit einer technischen Antwort", erläutert Aron den Unterschied. „Digitale Geschäftsstrategie ist eine digitale Frage mit einer Business-Antwort." Diese könne völlig untechnologische Aspekte umfassen wie die Expansion in neue Geschäftsfelder oder die strategische Neuausrichtung. Ein Beispiel dafür seien die jungen Aktivitäten von Logistikfirmen wie DHL, UPS oder FedEx als Finanzdienstleister, was eine Folge von deren digital gewonnenen Informationskapazitäten sei.
In eine ähnliche Richtung wie Dave Aron von Gartner argumentiert George Westerman, Forscher am Center for Digital Business des Massachusetts Institute of Technology (MIT). „In einer immer stärker digitalisierten Geschäftswelt benötigen die meisten Firmen eine bessere digitale Führung und Koordination", schreibt Westerman in seinem Blog für die Havard Business Review. „Sie müssen eine überzeugende digitale Vision gestalten, digitale Investitionen koordinieren, Synergien vorantreiben, eine saubere technologische Plattform aufbauen und Innovationen fördern." Aufgabe des CDOs sei es, die „digitale Kakophonie in eine Symphonie" zu verwandeln. Wie Gartner geht auch Westerman davon aus, dass die Rolle ein zeitlich befristete sein kann.
Ist nun der CIO geeignet, dieseRolle zu übernehmen? Westermans Einschätzung ist aufschlussreich, weil er gemeinsam mit Richard Hunter vor einigen Jahren im Buch „The Real Business of IT: How CIOs Create and Communicate Value" ein engagiertes Plädoyer für die Aufwertung der CIO-Rolle gehalten hat. Die beiden Autoren schufen den Begriff „CIO-Plus" für IT-Chefs, die gleichzeitig Verantwortung für Strategie, Integration von Geschäftseinheiten und Innovationen schultern. Offenbar traut Westerman zumindest diesen mit breit gefächerten Skills ausgerüsteten CIOs durchaus zu, auch als CDO zu fungieren – ohne allerdings die strukturellen Bedenken des Gartner-Analysten zu negieren.
Gutes Tandem bei Starbuck's
In der Praxis werde die CDO-Aufgabe momentan in jedem fünften Unternehmen vom CIO mitausgeführt, so Westerman. Für beide Modelle gebe es mittlerweile Erfolgsbeispiele. Bei Codelco etwa, dem weltgrößten Kupferbergbauunternehmen, arbeite CIO Marco Orellana an der fundamentalen Transformation der Prozesse in den Minen und am Verkauf durch digitale Technologien wie Echtzeit-Koordination, Analytics und selbstfahrende Fahrzeuge. Bei Starbuck's wiederum bildeten CDO Adam Brotman und CIO Curt Garner mittlerweile ein gut eingespieltes Tandem. Daneben gebe es auch weiterhin CIOs, die mit Digitalisierung rein gar nichts tun hätten.
„Die digitale Führungsrolle muss ausgefüllt werden", so Westman. „Egal ob mit Hilfe eines neuen C-Level-Titels oder durch andere Methoden." Einem sehr guten CIO könne digitale Verantwortlichkeit übertragen werden, rät der Wissenschaftler den Firmen. Man müsse ihn nicht unbedingt als digitalen Führer auswählen. „Aber die Skills und Beziehungen eines großartigen CIOs sind in einem digitalen Führungsteam äußerst wertvoll", konstatiert Westman. Er liegt damit nicht weit entfernt von Gartners Einschätzung. Und auch nicht von jener des Forrester-Analysten Martin Gill. In dessen kriegerischem Bild wäre der CIO nicht Winston Churchill, aber doch eine zentrale Figur im digitalen Kommandostab.