Die Digitalisierung, insbesondere im Gesundheitswesen, ist jetzt wirklich auch in Deutschland angekommen, sagt Martin Peuker, CIO der Berliner Charité. Das betreffe nicht nur den Durchdringungsgrad, sondern auch die Art und Weise, wie Projekte umgesetzt würden: "Man kann daher schon sagen, dass die Corona-Krise aus IT-Sicht eine extrem spannende Zeit mit einer nie dagewesenen Agilität war. Sie hat den kulturellen Wandel in der Charité positiv beeinflusst und beschleunigt."
Dabei war die Charité, die zu 100 Prozent dem Land Berlin gehört, wie kaum ein anderes Großunternehmen von der Krise betroffen. Mit mehr als 3.000 Betten ist sie nicht nur eine der größten europäischen Universitätskliniken, sondern auch eine bedeutende Lehr- und Forschungsstätte mit gut 8.000 Studierenden und 290 Professoren. Zu ihnen gehört auch der inzwischen bundesweit bekannte Virologe Christian Drosten, auf dessen Rat sich auch die Politik verlässt. Mit rund 15.500 Beschäftigten erwirtschaftete das Unternehmen 2019 Einnahmen von zwei Milliarden Euro.
Wie viele andere Kliniken mussten auch die Berliner schnell auf den Ausbruch des Coronavirus reagieren. Binnen zwei Wochen wurden beispielsweise fünf Covid-19-Stationen eingerichtet; rund 8.000 Medizin-Studenten nahmen nur noch an virtuellen Lehrveranstaltungen teil. Auch das Thema Home Office blieb dem CIO nicht erspart. In der Hochphase der Krise arbeiteten mehr als 4.500 Beschäftigte von zuhause, blickt Peuker zurück, "und zwar sieben Tage die Woche." Die Hilfsbereitschaft, auch von Seiten der IT-Anbieter, sei enorm gewesen. So hätten sich verschiedene Technologieunternehmer persönlich dafür eingesetzt, dass die Charité Produkte, die während der Pandemie dringend benötigt wurden, schneller als üblich geliefert bekam.
Digitale Krankenhausversorgung
Jenseits der coronabedingten Maßnahmen beschäftigen den CIO vor allem zwei große Vorhaben: die Digitalisierung der Krankenhausversorgung und das Projekt "Health Data Platform". Zwar sei die Charité in Sachen Qualität und Prozesseffizienz gut aufgestellt und könne als eine von wenigen Kliniken in Deutschland eine Zertifizierung nach der Qualitätsmanagement-Norm ISO 9001 vorweisen. Doch auch in den Berliner Kliniken laufen Prozesse noch längst nicht durchgängig papierlos, erläutert der studierte Wirtschaftsingenieur. Um den Fortschritt zu messen, greift er auf Reifegradmodelle für den Medizinbereich aus dem angelsächsischen Raum zurück.
Die Skala reicht von 0 (Prozesse laufen ohne IT-Unterstützung) bis 7. Den höchsten Reifegrad erreichen Organisationen, wenn sie nicht nur Prozesse im Krankenhausbetrieb vollständig digitalisiert haben, sondern auch neue Technologien wie Machine Learning oder Text Mining einsetzen, um etwa Erkenntnisse aus erhobenen Daten zu gewinnen und diese mit Informationen aus externen Datenbanken anzureichern. Peuker: "Am Ende geht es darum, Ärzten und Pflegekräften während des Dokumentationsprozesses eine bessere Entscheidungsunterstützung zu geben."
Die Charité habe sich schon vor einigen Jahren bewerten lassen und dabei den Wert 5,2 erreicht, so Peuker: "Das ist nicht schlecht, lässt aber noch Luft nach oben." Immerhin habe die Bundesregierung mittlerweile wegweisende Initiativen gestartet, darunter das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG), das es Ärzten beispielsweise erlaubt, Apps zu verschreiben oder Videosprechstunden einfacher zu nutzen. Auch die elektronische Patientenakte werde 2021 kommen und der Digitalisierung einen Schub verleihen.
Die digitale Krankenhausversorgung gehört für Peuker zum Pflichtprogramm. Als Kür sieht er dagegen die Health Data Platform, ein Großprojekt, das die Charité schon seit mehreren Jahren verfolgt. Die Anstöße kamen aus dem Wissenschaftsbereich, berichtet der CIO. "Es geht um einen besseren Zugang zu qualitativ hochwertigen Daten, aber auch darum, die Forschung voranzubringen und Drittmittel einzuwerben."
Dabei verfolge man zwei Stoßrichtungen: "Zum einen wollen wir Daten, die am Krankenhausbett erhoben werden, möglichst schnell mit Daten aus der Grundlagenforschung, besonders in der Genom-Analyse, verknüpfen, um daraus einen Mehrwert für die Patienten zu gewinnen." Zum anderen gehe es darum, Daten aus der Behandlung über pseudonymisierte oder anonymisierte Algorithmen der Grundlagenforschung zur Verfügung zu stellen.
Daten trainieren Algorithmen
Mit den Daten trainierten Charité-Experten zum Beispiel einen Algorithmus für die Vorhersage von akutem Nierenversagen. Peuker: "Wir haben damit bereits einige Patienten schneller in den Fokus klinischer Spezialisten gebracht." Die behandelnden Ärzte konnten in der Folge etwa schneller eine Dialyse einleiten, um Komplikationen zu verhindern.
Für solche Szenarien sei es notwendig, Daten strukturiert und nach internationalen Standards abzulegen, so der IT-Chef. "Für das Machine Learning brauchen wir insgesamt viel mehr Daten, nicht nur lokal, sondern auch über Landesgrenzen hinweg. Die Region Berlin-Brandenburg reicht nicht." Ebenso wichtig sind aus seiner Sicht bundesweit einheitliche Strukturen im Datenschutz, die klar regeln, welche Daten wie verwendet werden dürfen und wem sie gehören. Zwar gebe es auf diesem Gebiet viele Fortschritte. "Aber Deutschland ist noch zu behäbig, vor allem wenn es um länderübergreifende Regelungen geht."
Geholfen hat beispielsweise die Medizininformatik-Initiative, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit 150 Millionen Euro gefördert wird. Sie verfolgt das Ziel, Daten aus der Krankenversorgung und der Forschung mit Hilfe von IT-Lösungen zu vernetzen, um die medizinische Forschung und die Patientenversorgung zu verbessern. An fast allen deutschen Universitäten wurden dazu Datenintegrationszentren eingerichtet. Auch die Charité betreibt ein solches Zentrum, das Peuker als Teil der Health Data Platform sieht. Nicht die Rohdaten an sich, sondern Ergebnisse in Form von Kerndatensätzen würden zwischen den Hochschulen ausgetauscht, erläutert er.
Datenanalyse gegen Covid-19
Ein aktuelles Anwendungsbeispiel kommt aus dem Infektionsschutz. Die Forscher verwenden beispielsweise erhobene Daten, um die Ausbreitung multiresistenter Keime frühzeitig zu erkennen und schneller reagieren zu können. Das Hygiene-Institut der Charité habe dabei eine Vorreiterrolle, betont Peuker. Im Januar 2020 wurde die Medizininformatik-Initiative um virologische Daten bezüglich Covid-19 erweitert.
"Die Health Data Platform ist kein Produkt, dass man kaufen kann", beschreibt der CIO die technischen Grundlagen. Konzeptionell besteht sie aus mehreren Ebenen. Ganz oben liegt ein "prozessualer Layer", in den Schichten darunter arbeiten drei zentrale Systeme: ein Data Lake, ein Plain Data Repository zur Zusammenführung aller Daten im Behandlungskontext sowie ein Scientific Data Repository für Forschungsdaten.
Die Charité-IT nutzt dabei unter anderem Hadoop-Techniken und In-Memory-Datenbanken von SAP. Wie komplex die Handhabung der Daten ist, veranschaulicht der IT-Chef an einem Beispiel: "Während ein PKW in der Regel mit 25.000 bis 30.000 Teilen auskommt, kennt die Medizin heute um die 800.000 unterschiedliche Datentypen." Dabei seien Daten aus dem Bereich "Genomics" noch nicht berücksichtigt.
Hybride IT bringt Vorteile
Aus Sicht des Data Managements unterscheidet Peukers Team zwischen einer klinischen und einer wissenschaftlichen Domäne. Im klinischen Bereich liegen in erster Linie Patientendaten, die Ärzte und Pflegekräfte zur Behandlung benötigen. In der Wissenschaftsdomäne geht es insbesondere um forschungsrelevante Daten, die nicht Teil der routinemäßigen Krankenversorgung sind.
"Datenschutz ist hier ein Riesenthema", sagt Peuker mit Blick auf die vielen personenbezogenen und besonders sensiblen Patientendaten. Kein Wunder also, dass die Charité derzeit alle IT-Systeme für die Health Data Platform on-Premises betreibt. Mittelfristig aber strebt der CIO hybride IT-Szenarien an und will beispielsweise im Bereich der Infrastruktur mehr auf Cloud-Ressourcen setzen: "Infrastruktur und auch viele Security-Technologien können andere besser." Eine stärkere Cloud-Nutzung würde es der Charité ermöglichen, sich mehr auf inhaltliche Themen wie Data Analytics und künstliche Intelligenz (KI) zu konzentrieren.
Hoffen auf Gaia-X
Große Hoffnungen setzt Peuker dabei in die europäische Cloud-Initiative Gaia-X, die allmählich Formen annimmt: "Von Gaia-X könnte der gesamte Health-Sektor profitieren", ist er überzeugt. Die Charité unterstütze die Initiative schon jetzt aktiv. Bisher kommen Cloud-Ressourcen ausschließlich im Verwaltungsbereich der Charité zum Einsatz.
Dafür gibt es eine spezielle Verfahrensanweisung. So dürfen beispielsweise über Office 365 keine Patientendaten verarbeitet werden. Peuker will in Sachen Cloud Computing jedenfalls "nicht lockerlassen", auch weil die Usability von Tools wie Office 365 oder Teams deutlich über die Möglichkeiten klassischer Krankenhausinformationssysteme (KIS) hinausgehe.
Eine Entlastung von klassischen IT-Aufgaben könnte der Charité mehr Freiräume für Innovationen eröffnen, hofft der CIO. Zu den Leuchtturmprojekten im Klinikbereich gehört beispielsweise "ERIC". Das Kürzel steht für Enhanced Recovery after Intensive Care. Mit mannshohen mobilen Robotern unterstützen Charité-Experten dabei telemedizinisch andere Krankenhäuser mit weniger intensivmedizinischen Ressourcen bei der Betreuung von Intensivpatienten.
Die Roboter sind unter anderem mit Sensorik wie Highend-Kameras ausgestattet und begleiten Ärzte und Pflegekräfte vor Ort bei der Visite. Dabei werden sie von speziell ausgebildeten Intensivmedizinern der Charité ferngesteuert, die ihr Wissen einbringen und beispielsweise Behandlungsempfehlungen geben können. Für die Entwicklung und Produktion der telemedizinischen Systeme kooperiert die Charité mit mehreren europäischen und US-amerikanischen Partnern.
Auch mit dem Thema Blockchain beschäftigen sich die Berliner schon länger. Im Projekt eBTM entwickelten der Charité-Mediziner Christian Sigler und die auf Cybersicherheit spezialisierte McKinsey-Beraterin Irina Hardt ein Blockchain-basiertes System für elektronische Betäubungsmittelrezepte. Alle Transaktionen werden dabei über ein verteiltes Register (Distributed Ledger) abgewickelt und sind nachvollziehbar und unveränderbar gespeichert. Im Ideenwettbewerb "Zukunftswerkstatt Blockchain im Gesundheitswesen" des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) gewann das Projekt den ersten Preis.
Chief Medical Information Officer
Eine Innovation anderer Art betrifft die IT-Organisation selbst. Seit Juni dieses Jahres gibt es in der Charité einen Chief Medical Information Officer (CMIO). Er soll die Anforderungen von Ärzten und Pflegekräften für die IT übersetzen. "Hier gab es immer eine große Lücke", sagt Peuker. "Man braucht dafür medizinisches Know-how mit klinischer Expertise, muss aber gleichzeitig sehr IT-affin sein und informationstechnologische Kompetenz mitbringen." Der Medizininformatiker Felix Balzer bringe dafür mit seiner Erfahrung als Facharzt für Anästhesiologie die richtigen Voraussetzungen mit. Balzer ist am Berliner Einstein Center Digital Future Professor für E-Health and Shared Decision Allocation.
Im Prinzip agiert der CMIO ähnlich wie der Business Relationship Manager (BRM) in anderen Branchen, der als Bindeglied zwischen IT und Fachabteilungen wirkt. Organisatorisch ist er in der IT aufgehängt und berichtet direkt an den CIO. In vielen US-amerikanischen Kliniken ist die CMIO-Position bereits etabliert.
Change Management in der IT
Peukers Umbaupläne gehen noch weiter. Anfang 2020 setzte er einen Change Manager ein, der einen neuen Change-Bereich aufbauen soll. "Wir müssen uns auf einen permanenten Wandel in der IT einstellen", erklärt er die Hintergründe. "Schnelligkeit und die Fähigkeit, immer wieder neu zu justieren, sind dabei entscheidend." Vor allem in Digitalisierungsvorhaben wolle man weg vom klassischen Wasserfallmodell mit mehrjährigen Projektlaufzeiten.
Dazu setze die Charité verstärkt auf übergreifende Teams und agile Methoden mit Sprints, Dailys und Kanban-Boards. Die Erfahrungen aus der Coronakrise helfen im Change-Prozess, resümiert der CIO: "Vielleicht braucht man einen gemeinsamen Feind, um auf einigen Feldern einfach schneller voranzukommen."