Heute kann jeder mit einer Kreditkarte IT-Services online nutzen, für deren Beschaffung noch vor wenigen Jahren eine IT-Abteilung, technische Projektteams und viele Monate harter Arbeit notwendig waren: Den IT-Verantwortlichen und CIOs kommt die IT abhanden. Was aber bewirkt ein Offizier ohne Ausrüstung? Zumal auch seine Truppen Jahr für Jahr dezimiert werden, weil wichtige Jobs wenn nicht gleich von Maschinen, so doch zumindest von Externen erledigt werden, über die der CIO nur noch bedingt Befehlsgewalt hat.
Die Rolle und Bedeutung des CIOs wird heftig diskutiert in diesen Wochen. IDC definierte gerade "Die drei Grundlagen für den CIO von morgen", auf CIO.com äußerte ein IT-Chef, seinesgleichen müssten zukünftig auch "Anthropologen" sein. Und Gartner schrieb, CIOs sollten "jagen und ernten in einer digitalen Welt." Eigentlich müssten sämtliche Chief Information Officers dieser Welt unter schweren Selbstzweifeln und Selbstfindungsstörungen leiden, weil ihnen Experten ständig einreden wollen, sie müssten ihre Rolle neu definieren oder sich gleich komplett neu erfinden. Weil sonst, sonst werde es ihren Job nicht mehr geben in längstens zwei Jahren, weil er schlicht überflüssig geworden sei. Doch der CIO wird nicht überflüssig werden. Nicht Ende des Jahres, und auch nicht 2016. Im Gegenteil.
Am Ende stand das Chaos
Um zu betrachten, warum IT-Chefs in Zukunft dringender denn je gebraucht werden, ist ein Blick in die Vergangenheit hilfreich. Zum ersten Mal für entbehrlich erklärt wurden CIOs zu einer Zeit, als in Deutschland noch fast niemand diese Berufsbezeichnung kannte. Denn vor plus minus 25 Jahren gab es schon einmal eine Phase, in der zentrale IT-Organisationen systematisch von den Fachabteilungen umgangen wurden. Die Client-Server-Idee setzte sich immer mehr durch, Abteilungsleiter bauten eigene überschaubare Infrastrukturen auf, weil sie schneller und Flexibler sein wollten als der CIO (bzw. "EDV-Leiter") mit seinen Mainframes.
Das Ende dieser Entwicklung war eine zerklüftete Landschaft mit unzähligen Nischenanwendungen und vielen kleinen Supportteams, eine Inselwelt, so unüberschaubar und schwer zu managen wie die Philippinen. Brücken zwischen den Inseln sprich Verbindungen zwischen Anwendungen gab es kaum, dafür viele wenig genutzte Abteilungsserver. Gemeinsam strategisch etwas voran zu bringen war ebenso schwierig wie die Konsolidierung dieses Kabel gewordenen Irrsinns. Aber weil es irgendwann nicht mehr anders ging, wurde alles - oft mit Hilfe teurer externer Hilfe - in riesige Datacenter konsolidiert. Die Anwendungslandschaft blieb dabei nicht selten uneinheitlich, und es gibt Unternehmen, die bis heute mit den Auswirkungen der damaligen Nicht-Strategie kämpfen.
Marketing kauft mehr IT als der CIO
Aus Abteilungssicht gab es oft gute Gründe dafür, seinen eigenen Kram zu machen. Schließlich war es leichter, schneller und billiger, eigene Anwendungen zu entwickeln und zu pflegen, als gemeinsam mit dem IT-Chef ein Riesenprojekt aufzusetzen.
Die Situation ist der heutigen nicht unähnlich: Warum sich mit der IT-Abteilung in langatmigen Meetings herumärgern, wenn der Himmel und seine Wolken so nah sind? Marketing, Monitoring, CRM, Collaboration, für alles lässt sich auf die Schnelle eine Wolke anzapfen. Hinzu kommt, dass es heute fast kein Thema in großen Unternehmen mehr gibt, dass nicht technologiegetrieben ist. Beispiel Marketing: Marc Benioff, Chef des CRM-Anbieters Salesforce.com, prophezeite jüngst, dass "bis 2017 Marketingabteilungen mehr Geld in Technik investieren werden als CIOs."
Die Gefahr ist also, dass nach BYOD mit Cloud Computing ein weiteres Thema so starke Sachzwänge und eine so starke Eigendynamik in den Unternehmen produziert, dass die IT-Chefs einen massiven Kontrollverlust erleiden. Dass Abteilungen ohne Rücksprache Cloudbasierte Services einkaufen, die dann schlecht gemanagt werden und deshalb zu einer Menge Problemen führen.
Jedes Thema ist technikgetrieben
Die werden noch dadurch verstärkt, dass Cloud-Anbieter gerne Lösungen anbieten, die Geschäftsprozesse System- und Applikationsübergreifend managen, Lösungen zum Beispiel, die sowohl HR als auch Sales und Buchhaltung adressieren. "Was aber passiert in so einem Fall, wenn etwas schiefgeht?", fragte jüngst Michael Hickins, Chefredakteur vom CIO Journal des Wall Street Journals auf einer Veranstaltung. "Wie genau ist das Rechtsverhältnis zwischen Cloud-Anbietern und Kunden definiert? Wer zum Beispiel ist am Ende verantwortlich für die Sicherheit der Daten?" Hickins weist zurecht darauf hin, das besonders in regulierten Märkten wie Gesundheit und Finanzen rechtlich die Compliance gar nicht vollständig auf den Service-Provider übergeben kann. Rechts- und Sicherheits-Fragen werden deshalb für den CIO der Zukunft viel mehr im Vordergrund stehen als in der Vergangenheit, wobei die 'Consumerization' von Technologie ständig neue Fragen produziert. Auch diese Entwicklung fing mit BYOD an, setzt sich mit Cloud Computing fort.
Ein weiteres Thema, das aktuelle die Rolle des CIOs verändert, ist Big Data. Auf den ersten Blick sorgt es ebenfalls dafür, dass die Bedeutung der IT-Chefs abnimmt. Erstens weil Firmen, die Big Data-Lösungen verkaufen wollen, sich tendenziell zuerst an die Marketing- oder Sales-Abteilungen wenden, denen sie dann eingängige ROI-Szenarien vorrechnen in der Hoffnung, schnell zu einem Abschluss zu kommen. Zweitens besitzen vor allem in Deutschland die wenigsten zentralen IT-Abteilungen echte Big Data-Spezialisten, die als natürliche Ansprechpartner fungieren könnten. "Es ist ein Szenario vorstellbar, in dem die IT-Abteilung die letzte ist, die von einem Big Data-Projekt im Unternehmen erfährt, der CIO nur dann einen Anruf kriegt, wenn irgendwelche Daten aus internen Systemen benötigt werden", schrieb Patrick Gray kürzlich in seinem TechRepublic-Artikel "Has the CIO lost Big Data?"
Aus aufgeblasenen Claims die Luft ablassen
Bei so viel Verunsicherung kann ein wenig Zuspruch nicht schaden. Den gab es zum Beispiel im Mai auf dem allerersten Pakistanischen CIO-Gipfel in Karachi. Ein CIOs sei heute, so einer der Redner, Chief Innovation Officer und Chief Intelligent Officer, oder sogar "Enabler of the Visions of the CEO." Vielleicht ist es aber auch ihr Job, diese Visionen etwas zu dämpfen, bevor sie ins pathologische abdriften, die überhitzte Diskussion um Cloud Computing abzukühlen, Organisationen vor den damit verbundenen Gefahren zu schützen und aus manchem aufgeblasenem Marketing-Claim zu Big Data die Luft rauszulassen.
Oder einfach nur einem extrem diversen, im Umbruch stehenden Laden technologisch den richtigen Weg weisen. Den Titel CIO braucht es dabei nicht unbedingt, die damit verbundene Rolle aber mehr denn je. Wie so etwas in der Praxis funktionieren kann, demonstriert gerade die Otto-Gruppe, Multiplattform-, Multichannel- und Multimarken-Händler aus Hamburg.
CIOs sind die für das Big Picture
Im Zuge des Stopps eines Mega-SAP-Projekts nahm der CIO seinen Hut, der Titel wurde nicht neu vergeben. Statt dessen fungiert der gelernte Volkswirt Christoph Möltgen als Chief Transformation Officer. Seine Aufgabe ist es, die unzähligen, teils verzahnten, teils autonomen IT-Systeme des Unternehmens steuern, zu verbünden, was verbündet werden sollte, getrennt zu halten, was unabhängig besser gedeiht. Möltgen ist quasi der Plattform-Manager, er behält das Big Picture im Auge. Er muss die Möglichkeiten von Cloud Computing und - vor allem - von Big Data für sein Unternehmen bewerten und die Grenzen und Gefahren.
In der Otto Group gibt es nicht nur viele Fachabteilungen, sondern auch etwa 120 Konzerngesellschaften und ca. 60 Online-Shops. Viele der Töchter entwickeln und betreiben eigene IT-Systeme. Doch der CIO, oder in diesem Fall der 'Chief Transformation Officer', wird dadurch keineswegs überflüssig. Im Gegenteil.