Gleich zehn IT-Verantwortliche stellten sich den Fragen der Redakteure von Computerwoche und CIO-Magazin. Es ging um die Großwetterlage in ihren Unternehmen - in erster Linie bezüglich der großen Themen Innovation und Digitalisierung.
CIO muss ein Chief Digital Leader sein
Hartmut Schaper, IT-Vorstand der GKL - Gemeinsamen Klassenlotterie der Länder, ließ keine Zweifel aufkommen, wer für die Zukunftsthemen zuständig ist und diese vorantreibt: "Ich sehe mich auch in der Verantwortung des Chief Digital Leader." Natürlich spüre man im Lotteriemarkt den Digitalisierungsdruck. Mit den Kollegen aus Marketing und den Vertriebspartnern werde die Digitalisierungsstrategie entworfen und weiterentwickelt, und weil das Thema so wichtig ist, sei es selbstverständlich im Vorstand angesiedelt.
Der digitale Chef, wie ihn Schaper sieht, müsse von der IT und vom Geschäft viel verstehen, "um wahrgenommen zu werden und Ideen entwickeln zu können". Er müsse "mindestens Co-Innovator" sein, sonst werde er "immer der alte Rechenzentrumsleiter bleiben". Seine Aufgabe bestehe darin, die Brücke zum Anwender zu schlagen, denn der verstehe mittlerweile oft sehr viel von der IT. Umgekehrt sollten die IT-Mitarbeiter die Anwendungen ebenso gut beherrschen und neben ihren Kernkompetenzen in der IT möglichst viel vom eigentlichen Geschäft verstehen.
IT macht FC Bayern innovativ
Ähnlich selbstbewusst interpretiert der CIO des Fußball-Rekordmeisters FC Bayern München seine Rolle. Michael Fichtner sagte: "Unser Bereich ist die treibende Kraft, was die Themen Digitalisierung und Innovation betrifft." Das war offenbar nicht immer so: Vor drei Jahren habe man mit einer Schwachstellenanalyse begonnen; zuvor habe jeder Fachbereich nach einem Best-of-Breed-Ansatz die für seine Bedürfnisse optimale Lösung gesucht.
Die Folge: Die Fan-, also Kundendaten lagen in 52 unterschiedlichen Systemen. Heute nun, nach vielen Umbauphasen, "haben wir eine andere Wahrnehmung im Unternehmen, sprechen auf Augenhöhe mit den Fachbereichen", freut sich Fichtner und ergänzt: "Das war für uns ein großer Erfolg." Die fachlichen Innovationen kämen sehr wohl aus den Fachbereichen, wenn es dann aber etwa um die digitale Content-Ausspielung gehe, "sind wir die Treiber". Fichtners Mitarbeiter bringen die technologischen Möglichkeiten ein und sind ständig auf der Suche nach neuen Ideen, um auch kurzfristig Dinge zu bewegen, beispielsweise mit Prototypen.
Mit solchen praxisbezogenen Ansätzen gewinne die zentrale IT Akzeptanz in den Fachbereichen. Projekte würden als gemeinsames Vorhaben definiert und erhielten so die Genehmigung des Vorstands. Nebenbei lässt sich Fichtner zufolge so auch "das Problem der Schatten-IT in den Griff bekommen".
In puncto Innovation erinnerte der CIO des FC Bayern noch an eine spezielle Herausforderung: "Wir konkurrieren um ein knappes Gut, das ist die Freizeit unserer Fans." Da seien nicht die anderen Vereine die Wettbewerber, sondern Konzertveranstalter, Kinoketten und weitere Entertainment-Einrichtungen. Umso wichtiger sei es, dem technikaffinen Nachwuchs spannende digitale Angebote zu unterbreiten, angefangen beim kontextsensitiven Content über den Online-Shop bis hin zu WLAN im Stadion.
Mercedes AMG setzt auf Design Thinking und Digital Labs
Gefordert in Sachen Innovation ist auch die Automobilindustrie. Die ganze Branche ist - wie viele andere auch - im Umbruch begriffen. "Autos sind mittlerweile fahrbare Rechenzentren", sagte Reinhard Breyer, CIO der Daimler-Tochter Mercedes-AMG. Das heiße in der Konsequenz, dass sein Unternehmen vermehrt IT-Spezialisten einstelle, um die klassischen Ingenieurberufe zu ergänzen.
Um Innovationen in Gang zu setzen, sollte ein Unternehmen crossfunktionale Teams bilden - heißt: weg vom Silodenken. Wer heute noch denke "Das ist mein Projekt und das deines", sei auf dem falschen Dampfer. Am Ende gehe es um die Frage, ob ein Unternehmen die richtigen Produkte am Markt und auch sonst alles richtig gemacht hat.
Breyer berichtete von zwei Ansätzen, mit denen Mercedes-AMG Erfahrung gesammelt hat, und mit denen zurzeit auch in vielen anderen Unternehmen experimentiert wird: mit der Design-Thinking-Methode und mit Digital Labs. Design Thinking hielt schon vor über drei Jahren in der IT-Abteilung in Affalterbach Einzug. Seit es dann im letzten Jahr verstärkt um das Thema Digitalisierung ging, habe man fachübergreifend Design-Thinking-Workshops abgehalten.
Der Automobil-CIO schätzt an dieser Methode, dass alle gleichberechtigt mitdiskutieren - vom CEO über die Bereichsleiter bis zu den Experten aus den Fachbereichen. Und er mag die Geschwindigkeit, in der danach Projekte umgesetzt werden: "Zwei bis drei Monate nach dem Workshop lässt sich schon etwas vorzeigen." Das liegt vor allem daran, dass IT und Fachbereich eng zusammenarbeiten. Die Mercedes-Tochter ist in einer komfortablen Situation, geht es darum, innovative Ansätze und Technologien einzusetzen.
Heutige Kinder sind künftige Kunden
"Als Mittelständler kann ich nicht 20 Leute abstellen, die sich den ganzen Tag mit Innovationen beschäftigen", sagte Martin Zsohar, stellvertretendes Vorstandsmitglied des Versicherungsunternehmens Münchener Verein und dort verantwortlich für die IT. Er beobachte den Markt, vor allem was die Großen der Branche so anstellten. Aber auch die Startups - die gefürchteten Insurtechs - die besonders den Vertrieb bedrohten und sich zwischen die Versicherer und deren Kunden schieben wollten.
Zsohar weiß, dass die Zeiten, in denen die IT als reiner Dienstleister der Fachbereiche fungierte, vorbei sind und dass sie "eine Vorreiterrolle auch im Business" spielen muss. "Die Rolle des CIO hat sich in den letzten fünf Jahren komplett verändert", so der COO, der sich auch als Chief Digital Officer (CDO) sieht. Fakt sei allerdings auch, dass die Versicherungsbranche noch viele Altsysteme betreiben müsse. Diese in die "neue Welt zu transferieren ist nicht trivial". Der Vater von vier Töchtern beobachtet selbstkritisch, dass "wir viel moderner werden müssen, wenn wir unsere Kinder als Kunden erreichen wollen".
Gemeinschaftswerk Digitalisierung
Die Notwendigkeit, einen CDO zu installieren, sieht Jens Hittmeyer nicht. Er ist Senior Vice President Corporate IT der Aenova Group, eines Auftragsherstellers der Pharmaindustrie. Auch diese stark regulierte Branche ist eher konservativ. Die Digitalstrategie des Unternehmens sei ein Gemeinschaftswerk der drei Geschäftsführer. Dem Vertriebschef gehe es etwa darum, wie sich die CRM-Daten transparenter darstellen ließen und welche Informationen notwendig seien, um zu erfahren, wohin man sich im Markt bewegen müsse.
Den größten Hebel, um via Digitalisierung wettbewerbsfähiger zu werden, habe der Produktionschef in Händen, der für 21 Werke verantwortlich zeichnet. Jede Prozessoptimierung mache sich "in den Kosten bemerkbar". Hittmeyer erinnert daran, dass CIOs nicht nur gut mit den Fachbereichen zusammenarbeiten und Innovationen vorantreiben müssen. Es gehe auch darum, "die Lampen am Brennen zu halten".
Themen wie Governance, Security und Schnittstellen seien Dauerbrenner, die auch mit der Digitalisierung nicht verschwänden. Ihn treibe deshalb auch die Frage um, hier effizienter zu werden und die im Unternehmen beschäftigten IT-Talente auch in Zukunft mit "spannenden Themen" zu beschäftigen. Warum also nicht in die Cloud gehen, um Kapazitäten freizubekommen? Schließlich gebe es interessantere Aufgaben, als Server zu überwachen.
Marketing-Sprüche der Hersteller hinterfragen
"Wie eine Spinne im Netz", fühlt sich Hubert Schech, Head of Corporate IT des Brillenherstellers Rodenstock in München. Als IT-Verantwortlicher sei er getrieben von den Angeboten der Hersteller, wenn es etwa um die Themen Cloud und Digitalisierung geht: "Wir werden bombardiert mit Marketing-Sprüchen."
Er müsse diese bewerten und in Einklang mit den firmeninternen Prozessen bringen - "so sehe ich meine Rolle als Innovationsmacher". Man müsse bedenken, dass die IT-Branche die innovativste der letzten 50 Jahre sei und dass man sich als CIO fast täglich mit Neuigkeiten auseinandersetzen muss. Umgekehrt müssten CIOs aber auch den Mut haben zu fragen, ob überhaupt alles digitalisiert werden müsse.
Es sei "schön, wenn die Gehaltsabrechnung elektronisch kommt", dann benötige er aber Softwarelizenzen, und die Wartung müsse auch bezahlt werden, rechnet Schech vor.
Nicht kopieren, sondern kapieren
Pragmatisch interpretiert Stefan Fleischmann seine Rolle. Der Leiter Organisation und Informatik des Münchner Fahrzeug- und Maschinenbauers F.X. Meiller versteht sich als "Innovator und Enabler für Innovationsprozesse". Er begleite und optimiere Prozesse gemeinsam mit den Fachabteilungen.
Auch als familiengeführter Mittelständler, der große Konzerne wie Daimler oder MAN als Kunde hat, müsse man pragmatisch denken, wenn es zum Beispiel darum gehe, auf den Plattformen dieser Firmen präsent zu sein und sich deren Digitalisierungsstrategien zu öffnen. Richtig sei aber auch, dass sich Konzernentscheidungen nicht eins zu eins auf Mittelständler übertragen ließen. Ihm gehe es darum, "nicht zu kopieren, sondern zu kapieren und zu transformieren".
Und wenn er transformiert, steht bei ihm der Begriff Process Mining im Vordergrund. Das heißt in der Praxis, dass die IT-Mannschaft die Prozesse verstehen und beherrschen muss. Sie ist angehalten, die Fachbereiche gezielt zu unterstützen. Fleischmann betont: "Bei Process Mining geht es nicht um IT, sondern darum, dass jeder Mitarbeiter verstehen muss, wie die Prozesse in gegenseitiger Abhängigkeit stehen." Dafür benötige er auf IT-Seite einen Transformator, der "die Verschwendung in den Systemen rechtzeitig erkennt und als Unterstützer für künftige Projekte zum Zuge kommt".
Projektbudgets müssen in der IT verortet sein
IT dürfe also nicht zu einer reinen Serviceorganisation verkommen, fordert Bernhard Winkler, Vice President ICT der Automotive Lighting Group, die sich als einer der Weltmarktführer auf dem Gebiet der Fahrzeugaußenbeleuchtung sieht. "Wer zahlt, entscheidet darüber, welche Musik gespielt wird", gibt er zu bedenken. Im Gegensatz zu vielen anderen Unternehmen sind in Winklers Unternehmen die Projektbudgets in der IT verortet. Seine Theorie geht so: "Wir versuchen den Bedarf in den Fachabteilungen zu wecken. Wenn es ein spannendes Thema für diese Kollegen ist, dann wird das Budget entsprechend priorisiert."
Dadurch entstehe im Fachbereich der Wunsch, stärker am Thema zu arbeiten, es auch umzusetzen, um es danach bezahlt zu bekommen, denn er habe ja kein Budget. Die Schnittstellen zu den Fachbereichen bilden Prozessverantwortliche, die in der IT sitzen. Diese haben das nötige Business-Verständnis und steuern mit dem Fachbereich das Budget.
Winkler will auf jeden Fall vermeiden - wie er es aus Erzählungen von Kollegen aus anderen Unternehmen kennt -, dass das Budget in den Fachabteilungen landet und diese dann vorgeben, welche Lösung zum Zug kommen soll. Wenn es schlecht läuft, bleibt der IT dann nur noch die Aufgabe, die Insellösung zu integrieren. Winkler plädiert für einen starken CIO, der die Unternehmensstrategie kennt, versteht und bei ihrer Umsetzung in die Arbeit aller Fachbereiche eingebunden ist. IT könne Innovationen anstoßen und aufzeigen, wo Prozesse effizienter umzusetzen sind.
Schuld ist die IT - die Ausrede gilt nicht mehr
Eine andere Projektbudgetstrategie verfolgt Harald Weickert, CIO von Bechtle. Er sagt ganz klar: "Die Fachbereiche sind mitverantwortlich für die Projekte und Demands, die in der IT budgetiert sind." Selbstverständlich bearbeite man gemeinsam die Vorhaben - auch indem agile Methoden zum Zuge kämen.
Weickert weiter: "Im Fachbereich gibt es immer einen Business-Application-Owner, verantwortlich für die Anwendungen inklusive der Koordination des Demand-Budgets, und parallel dazu auf der IT-Seite den Application Manager. Beide Personen aus Business und IT sind verantwortlich für die komplette Funktionsfähigkeit der Applikation." Das heißt, die Fachbereichskollegen können sich nicht mehr damit herausreden: Schuld ist die IT. Damit lasse sich auch das Thema Kosten elegant lösen, ist Weickert überzeugt.
Spätestens wenn der IT-Chef seine Fachkollegen mit kritischen Fragen konfrontiert, werde ihnen klar, dass sie noch einige Hausaufgaben zu erledigen haben, bevor die IT loslegt. Sehr wohl aber versteht sich der Bechtle-CIO als Innovator, als einer, der die digitale Transformation anstößt und motivierend auf die Fachbereiche einwirkt, neue Wege zu gehen.
Ganz beiläufig erwähnt er ein Projekt, das im Unternehmen großen Zuspruch fand: Er hat in einer Arbeitsgruppe Auszubildende und "old school guys", wie er sie nennt, zusammengebracht. Sie sollten ihm nach zwei Monaten Ideen und Verbesserungsvorschläge - auch in Richtung Digitalisierung und Prozessoptimierung - liefern. Der Vorteil liegt laut Weickert darin, dass es gelungen ist, die Erfahrung der älteren Kollegen mit dem Netz-Know-how des IT-Nachwuchses zuammenzuführen.
Two-Speed-IT demotiviert Mitarbeiter
Auf das vieldiskutierte Thema einer Two-Speed-IT kam Peter Ehrl zu sprechen, Managing Director Corporate Information Systems bei der Panasonic Information Systems Company Europe in Hamburg. Für ihn ist es der falsche Weg, die einen Mitarbeiter finanziell gut auszustatten und mit Spaßthemen zu betrauen, während die anderen undankbare Jobs wie Wartung und Service übernehmen müssten.
Die Trennung zwischen denen, die innovativ sein dürften, und denen, die die IT am Laufen halten, müsse aufgehoben werden. Spätestens dann, wenn eine innovative Lösung in den Regelbetrieb übergehe und die Servicekollegen übernehmen müssten, sei sonst Ärger programmiert. Eine ähnliche Gefahr berge die Schatten-IT: Schnell ist laut Ehrl in der Fachabteilung eine coole Anwendung angeschafft. Aber wenn es dann um Dinge wie Support, Security und Gesamtintegration gehe, stellten die Kollegen fest, dass es ohne IT-Abteilung nicht funktioniert.
In einem Punkt waren sich die Diskutanten einig: Der Stellenwert der IT ist in den letzten Jahren stark gestiegen. Dienstleister war gestern, Innovator ist heute - und die Digitalisierungsstrategie wird durch die IT-Strategie getrieben.