Zur "IT der neuen Generation" zählt die chinesische Führung Cloud Computing, das Internet der Dinge und Mobiles Internet genauso wie Halbleiter und neue Displaytechnologien. CIO-Autorin Heidrun Haug sprach mit Dr. Li Jun, Präsident von CCID Consulting, der größten IT-Beratungsfirma in China und Think Tank der Regierung.
Herr Dr. Li, in Europa und den USA ist Cloud Computing das Mega-Thema der IT. Was beschäftigt die chinesischen Anbieter und Anwender?
Dr. Li Jun: Auch in China steht die Cloud derzeit auf dem ersten Platz der IT-Agenda. Cloud Computing ist nicht nur der Kern und Motor der gesamten IT-Branche. Der Ansatz ist so mächtig, weil er die Abläufe in den Wirtschaftsbranchen neu ordnen und die geografische Verteilung der Industrien erheblich beeinflussen wird. Alle IT-Firmen richten ihre Produkte und Services schon darauf aus.
Gibt es lokale Besonderheiten in China?
Es sind derzeit vor allem große multinationale IT-Unternehmen wie IBM oder SAP, die über die Cloud sprechen. In der Regel meinen sie damit eine Private Cloud, also eine unternehmenseigene Cloud-Computing-Plattform. Bei diesem Modell sind Investor und Nutzer identisch. In China werden Innovationen stark durch die Regierung getrieben. So stehen hier die Public Clouds im Vordergrund, die einen Nutzen für die Gesamtbevölkerung haben sollen.
Wie sieht die Cloud-Strategie der chinesischen Regierung aus?
Die fünf Städte Peking, Shanghai, Hangzhou, Shenzhen und Wuxi wurden zu Pilotstädten erklärt, in denen erste Versuchsprojekte laufen. Jede Pilotstadt hat ihr eigenes Projekt entwickelt, angepasst an ihre lokalen Bedürfnisse. So baut zum Beispiel Peking eine Plattform für traditionelle Industriezweige auf, für Industriedesign, Konstruktion und Simulationen - hierfür wird derzeit viel Rechnerleistung installiert. In Shanghai gibt es mit dem sogenannten Zhabei-Projekt eine Cloud für die medizinische Versorgung der Bevölkerung.
Alle Gesundheitsdaten der Einwohner des Bezirks Zhabei sind in einer Cloud gespeichert. Das vereinfacht nicht nur die Arbeit medizinischer Einrichtungen, sondern zum Beispiel auch die Rückerstattung von Behandlungskosten durch die Versicherung. Es ist ein sehr vielversprechendes Projekt. Neben den Pilotstädten planen etwa 15 bis 20 weitere Regionen den Aufbau einer Cloud-Computing-Branche und bauen dafür die Infrastruktur auf, kaufen Server und Storage - manche investieren unserer Meinung nach sogar zu viel, der Markt könnte sich auch überhitzen.
Die ersten fünf Pilotstädte der Cloud Entwicklung
China wandelt sich gerade zum Hightech-Standort. Welche Rolle spielt die IT-Industrie bei dieser Transformation?
Hier gibt es verschiedene Ebenen. Da sind zum einen die großen Staatsbetriebe mit viel Kapital, die ihre Marke in China und ihr Business im Ausland ausbauen möchten. Sie brauchen eine sehr flexible IT-Infrastruktur und -Services auf internationalem State-of-the-Art-Niveau, um global arbeiten zu können. Da spielt Cloud Computing eine große Rolle. Kleine und mittelständische Unternehmen sehen sich ganz anderen Herausforderungen gegenüber. China ist ein sehr dynamischer Markt. Diese Firmen möchten zwar ihre Geschäftseffizienz verbessern, zurzeit beschäftigt sie aber vor allem, wie sie ihre Chance im wachsenden Markt am besten nutzen können. Erst dann werden sie interne Prozesse weiter optimieren. Es wäre gut, wenn sie eine gemeinsame Plattform hätten, die sie bei Innovationen und interner Planung unterstützt. Das MIIT und die Lokalregierungen investieren gerade in solche Projekte.
Wie ist der chinesische IT-Markt strukturiert?
Insgesamt kam Chinas Software- und Informationsservice-Branche 2011 auf Erträge von 1,8 Billionen RMB (215 Milliarden Euro, Anm. d. Red.), 33 Prozent mehr als im Vorjahr. Im Gegensatz zur Elektronikbranche, die sehr auf die Nachfrage aus dem Ausland angewiesen ist, kommen 90 Prozent der Umsatzerlöse in der Softwareindustrie aus dem Inland, mit steigender Wachstumsrate. Viele lokale Behörden bauen die IT-Industrie in ihrer Region in Richtung Software und Services aus. So verlegen zum Beispiel Provinzen an der Ostküste ihre Produktionskapazitäten mehr und mehr in zentrale und westliche Regionen Chinas. Auf der anderen Seite gibt es chinesische IT-Firmen, die sich ihren Platz im chinesischen Markt gesichert haben und nun ins Ausland expandieren. Bekannt ist Lenovo, das im vergangenen Jahr Medion gekauft hat und einige Kooperationen in Wachstumsmärkten eingegangen ist. Ein anderes Beispiel ist Huawei, Chinas größtes ICT-Unternehmen, dessen Erlöse bereits zu 60 Prozent aus dem Ausland kommen.
Von diesen zwei Namen abgesehen hört man im Westen aber wenig von chinesischen IT-Herstellern.
Richtig. Ein Großteil der Software- und IT-Service-Unternehmen sind noch zu stark auf den lokalen Markt eingestellt, als dass sie ihre Expertise im Ausland anbieten könnten. Die USA und Deutschland haben ja letztlich nur deshalb eine so starke Softwarebranche, weil sie eine erstklassige Fertigungsindustrie haben. Chinesische Firmen werden also noch ein wenig Zeit benötigen.
Gibt es einen Steve Jobs in China?
Realistisch betrachtet hätte Steve Jobs, wenn er in China geboren worden wäre, wahrscheinlich kein Apple gegründet. Es fehlt hier noch an einer etablierten Innovationskultur, aber auch an bestimmten marktwirtschaftlichen Voraussetzungen. Es gibt viele visionäre chinesische Entrepreneure mit Talent und Leidenschaft, aber sie haben mit einem Finanzsystem zu kämpfen, das ihnen nicht die nötige Unterstützung geben kann. China hat sich hier schon enorm verbessert und ist auf einem guten Weg, einen chinesischen Steve Jobs hervorzubringen. Da China groß ist, wird es in Zukunft vielleicht sogar zehn oder 100 geben!
Sie waren auf der Sapphire Now von SAP in Peking. SAP hat dort Investitionen von rund zwei Milliarden Dollar bis 2015 angekündigt. Wie schätzen sie SAPs Chancen in China ein?
Ich denke, SAP hat einen sehr guten Zeitpunkt für diese Offensive gewählt. Die Sapphire Now hat im lokalen Ecosystem, bei Partnern und Wettbewerbern großen Eindruck hinterlassen. Derzeit ist SAP noch nicht die Nummer eins bei ERP in China, aber dieser Schachzug hat einige aufgeschreckt. Die weitere Entwicklung wird sehr spannend. Der weitere Erfolg wird nicht nur davon abhängen, ob SAP das derzeitige Tempo beibehält und seine Versprechen erfüllt, sondern vor allem vom Willen, auf lokale Entrepreneure zu hören. Oracle, SAP, IBM - das sind alles große Namen in China.
Aber haben sie auch alle Chancen in China?
Ich bin überzeugt, dass sie eine gute Chance haben, aber China ist ein großes Land mit sehr unterschiedlich entwickelten Regionen. Manche brauchen das Beste, was die IT-Branche zu bieten hat, anderswo muss erst einmal Grundlagen-Management eingeführt werden. Viele multinationale Unternehmen haben noch nicht begriffen, dass sie auch innerhalb Chinas unterschiedliche Strategien fahren müssen. Zurzeit liegt ihre große Chance bei Staatsbetrieben und Unternehmen in der Privatwirtschaft, die ins Ausland expandieren möchten. Hier können multinationale IT-Unternehmen mit ihrer Expertise und Best Practices aus dem Ausland punkten.
Gibt es für Cloud Computing eigentlich einen chinesischen Begriff?
Natürlich, yun jisuan ist eine genaue Übersetzung, yun heißt Wolke. In der IT sind aber durchaus auch englische Begrifflichkeiten üblich - Verständigungsschwierigkeiten gibt es da kaum.
CCID consulting - Das chinesische Gartner-Pendant
Mit etwa 300 Analysten ist die 1984 gegründete CCID Consulting das "Gartner" Chinas. CCID ist die größte öffentliche Einrichtung des Ministeriums für Wirtschaft und Informationstechnologie. Es berät das Ministerium und kooperiert auch mit anderen großen Regierungsabteilungen. Präsident von CCID Consulting ist Dr. Li Jun. |