Offshore in Armenien

Das Cobol-Mekka heißt Eriwan

26.11.2008 von Holger Eriksdotter
Die ehemalige Sowjetrepublik Armenien bietet als Offshore-Standort in einigen Bereichen erstaunliche Perspektiven. Hier lag das ehemalige Zentrum der UdSSR-Computerforschung. Dennoch wird die Kaukasus-Republik ein exotischer Fleck auf der Offshore-Landkarte bleiben.
Richard Bezjian, Geschäftsführer, Energize Global Services: "Die Leute sind so froh über den Job, dass ihre Motivation und ihr Einsatz kaum zu überbieten sind."

Die Damen und Herren sitzen vor Flachbildschirmen in einem Büro am Rande Eriwans. Sie sind zwischen 50 und 65 Jahre alt, viele von ihnen haben sich die vergangenen Jahre als Taxifahrer, Haushaltshilfen oder Putzfrauen durchgeschlagen - wenn sie nicht ganz ohne Arbeit waren. Aber es handelt sich nicht um einen Computerkurs für Senioren: Die etwas in die Jahre gekommenen Herrschaften sind hoch qualifizierte Programmierer - spezialisiert auf Mainframe-Technologie.

Auf den Bildschirmen vor ihnen steht Cobol-Code oder Mainframe-Assembler, den sie für deutsche Firmen anpassen und weiterentwickeln. "Viele große Unternehmen haben Legacy-Applikationen im Einsatz, oft sogar Kernanwendungen, die an neue Anforderungen angepasst werden müssen“, sagt Ulrich Engelhardt, Leiter des Bereichs Systemintegration und Consulting bei dem IT-Service-Provider Atos Origin. Auf seine Initiative geht die Zusammenarbeit mit dem armenischen Partner Energize Global Services (EGS) im Offshore-Center in Eriwan zurück. "Gerade mit dem Trend zu Service-orientierten Architekturen entsteht die Notwendigkeit, Legacy-Applikationen in flexible IT-Landschaften zu integrieren. Und dafür bedarf es fundierten Know-hows in alten Host-Technologien", sagt Engelhardt. Er rechnet mit mindesten 20 bis 25 Jahren, in denen noch Mainframe-Know-how gefragt sein werde. "Wir sehen, dass unsere Kunden noch über viele Jahre auf die altbewährten Applikationen zugreifen werden, weil sie die Komplexität der Kompletterneuerung der Architekturen fürchten."

Aber es sind nicht nur Mainframe-Anwendungen, die in Armenien programmiert werden. Das Internet-Portal Lycos ist IT-Pionier in der Kaukasus-Republik. Schon seit 2002 ist das Unternehmen hier vertreten, anfänglich mit 40 Mitarbeitern. Heute ist Lycos mit rund 230 Leuten die größte europäische Software-Company im Land. "Anfänglich wurde in Armenien nur programmiert. Inzwischen haben wir weitere Teile der Wertschöpfung - bis hin zum Operations-Management und Service-Desk nach ITIL – hierher verlagert", sagt Michael Seiger, CTO und Geschäftsführer Technology bei Lycos Europe. Bei ihm sind vor allem Qualifikation im Bereich Open Source und moderne Internet-Technologien gefragt: C, C++, Java, Linux, MySql und oder PHP gehören zum selbstverständlichen Rüstzeug seiner Mitarbeiter.

Pro-Kopf-Einkommen von 150 Euro

Aber warum Armenien? Die ehemalige Sowjetrepublik im Südkaukasus, die im Süden an die Türkei und im Norden an Georgien grenzt, ist nicht unbedingt als Offshore-Standort berühmt. Seit 1991 unabhängig, liegt nach Jahren wirtschaftlichen Niedergangs das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen heute noch unter 150 Euro pro Monat.

Es ist nicht in erster Linie das Gehaltsgefälle, das Armenien als Offshore-Standort attraktiv macht. Seit den 50er-Jahren konzentrierte sich in Eriwan die Forschung und Entwicklung der Datenverarbeitung für Militär und Raumfahrt der Sowjetunion. Hier kopierten die armenischen IT-Experten westliche Großrechnertechnologie wie etwa die IBM-360- und -370-Linie. Bis zur Auflösung der UdSSR im Jahre 1991 sorgte ein Heer gut ausgebildeter und hochqualifizierter Experten für Cobol-, Fortran- und IBM Assembler für Programmierung und Management der Host-Systeme. Das Ende der UdSSR bedeutete für die meisten IT-Experten den direkten Weg in die Arbeitslosigkeit.

"Anfänglich haben wir Anzeigen geschaltet, um Host-Experten zu finden. Das sprach sich dann schnell unter den ehemaligen Kollegen herum, sodass wir letztlich mehr Bewerbungen als zu besetzende Stellen hatten", sagt Richard Bezjian, Leiter des Offshore-Centers. Etwa 50 Leute hat er jetzt unter Vertrag, die für Atos-Origin-Kunden programmieren. Entgegen der gängigen Einschätzung, dass Programmierer vor allem eines, nämlich jung, sein müssten, lässt er auf seine Senioren nichts kommen: "In der Sowjetunion gab es eine exzellente Ausbildung. Und die Leute sind so froh über den Job, dass ihre Motivation und ihr Einsatz kaum zu überbieten sind", weiß Bezjian. Bei mehr als 500 Mann-Jahren "kollektiver Mainframe-Erfahrung liege das Projekt-Know-how seiner altgedienten Truppe.

Nachwuchs nur begrenzt

Auch Lycos-Manager Seiger hat kaum Schwierigkeiten, junge Nachwuchstalente zu finden: "In der Sowjettradition gibt es hier immer noch ein hohes Potenzial an sehr gut ausgebildeten jungen Leuten, vor allem im Bereich der IT- und Ingenieurwissenschaften." Wichtiger noch: "Die Hochschulabsolventen sind hier ohne Abstriche bereit, sich für einen guten Job anzustrengen und fortzubilden. Die Motivation und das Engagement sind weit besser als alles, was ich aus anderen Near- und Offshore-Ländern kenne." Mit der Kooperation mit den Universitäten in Eriwan, Praktika für Studenten und speziellen Trainingsprogrammen stünden die Qualifikationen seiner Leute denen westeuropäischer Hochschulabsolventen in nichts nach.

Auch zum Mainframe-Team bei EGS sind inzwischen jüngere Leute gestoßen, die von dem Wissen ihrer älteren Kollegen profitieren. Für Einsteiger beginnt das Gehalt bei umgerechnet etwa 350 Euro im Monat, Spitzenverdiener können mit bis zu 1400 Euro rechnen - ein Vermögen in einem Land, wo das durchschnittliche Einkommen unter 150 Euro liegt. Entsprechend begehrt sind die Arbeitsplätze in der IT-Branche. "Anders als in Deutschland und anderen Offshore-Ländern ist es in Armenien nicht schwer, junge Hochschulabgänger zu finden, die sich gern in Mainframe-Technologien einarbeiten", sagt Engelhardt.

Für ihn sprechen auch die kulturelle Nähe des christlich geprägten Landes sowie die Erreichbarkeit - vier Flugstunden von Deutschland - für den Standort Armenien. Besonders aber beeindruckt ihn das Engagement der Mitarbeiter, das selbst nach Firmenschluss nicht endet: Die ersten sechs Programmierer haben gerade einen dreimonatigen Deutschkurs abgeschlossen, der ausschließlich in ihrer Freizeit stattfand. Um die Kommunikation mit den deutschen Auftraggebern zu verbessern, hat EGS-Geschäftsführer Bezjian eine Germanistin als Vollzeitkraft eingestellt, die ein Lernprogramm für Programmierer entwickelt hat. "Sie können ja mal versuchen, einen jungen Inder mit fundierter Ausbildung davon zu überzeugen, dass er Cobol und Deutsch lernen soll", frotzelt Engelhardt.

Ohnehin sind Armenier schon zwangsweise Sprachtalente. "In der ersten Klasse lernen wir das armenische Alphabet, in der zweiten Klasse russisch und kyrillische Schriftzeichen und ab der dritten Klasse dann mit englisch das dritte Alphabet", sagt Deutschlehrerin Anna Shahparonyan, die neben ihrem Job an einer Doktorarbeit über deutsche Literatur schreibt. Auch Lycos-CTO Seiger rühmt die Sprachbegabung seiner Mitarbeiter: "Wir haben viele Leute, die neben armenisch, russisch und englisch auch noch eine weitere Fremdsprache wie italienisch, französisch oder deutsch sprechen - das ist
hier keine Ausnahme."

Engelhardts Mainframe-Crew hat unterdessen mehrere Projekte für Unternehmen aus England und Frankreich abgewickelt, arbeitet aber hauptsächlich für deutsche Kunden von Atos Origin aus den Branchen Medien und Retail. Engelhardt rechnet mit weiteren Projekten aus dem Banken- und Versicherungsbereich. "In Deutschland findet man Cobol- und Mainframe-Experten fast nur noch als Freelancer; größere Projekte aber lassen sich nur schwer mit Freiberuflern organisieren und abwickeln", sagt Engelhardt. "Beim Global Sourcing sind wir als IT-Dienstleister gefragt, die benötigten Fähigkeiten in guter Qualität, angemessenen Fristen und zum besten Preis-Leistungs-Verhältnis zur Verfügung zu stellen. Armenien trägt eine wichtige Facette zu unserem Leistungsportfolio bei."

Armenien bleibt Nische

Dennoch wird die Kaukusus-Republik über eine Nischenrolle in der Offshore-Landschaft nicht hinauskommen: Mit einer Bevölkerung von nur rund drei Millionen - ein Zwergstaat etwa im Vergleich zu Indien mit rund einer Milliarde Menschen - ist das Potenzial des kleinen Landes zu begrenzt, um die Ansprüche großer IT-Unternehmen an Full-Service-Center zu erfüllen. Auch die zum Teil noch mangelhafte Infrastruktur etwa im WAN-Bereich und die geografische Lage in der politisch unruhigen Kaukasusregion lassen Investoren zögern. "Armenien wird es nie unter die Top Ten der Offshore-Standorte schaffen“, sagt Lycos-Manager Seiger, "aber für spezielle, klar umrissene Aufgaben bietet das Land fast optimale Bedingungen."