"Es wächst zusammen, was zusammengehört", hat Willi Brandt einst im Zusammenhang mit der deutschen Einheit gesagt. Auch wenn er damit das Zusammenwachsen zweier Bevölkerungsteile meinte, ist die Umschreibung doch ein treffendes Bild für das, was die Bereiche Medizintechnik und IT in den Kliniken des Landkreises Göppingen erfuhren. Seit Jahresbeginn arbeiten hier die Mitarbeiter der beiden Technikbereiche organisatorisch vereint im Geschäftsbereich Medizintechnik, IT und Organisation - kurz MIO.
Anlass für die Verschmelzung der beiden zuvor selbstständigen Abteilungen ist die Novelle des Medizinproduktegesetzes (MPG) zum 1. April 2010, wonach bestimmte medizinische Software fortan als Medizinprodukt zu behandeln ist. "Medizinprodukte verfügen über ein hohes Risikopotenzial, eine Fehlfunktion kann Menschenleben kosten", erläutert Joachim Hiller, Leiter der Medizintechnik im Klinikum am Eichert. "Deshalb reguliert das Gesetz die Anwendung und Wartung medizintechnischer Geräte rigide. Dass nun für zahlreiche Softwareanwendungen dieselben Richtlinien gelten, erfordert ein ganz anderes Maß an Zusammenarbeit zwischen Medizintechnik und IT."
Klare Führungsverantwortlichkeiten
Hiller leitet seit zwanzig Jahren die Medizintechnik der Göppinger Kliniken. Vor etwa einem Jahr begann er zusammen mit Timo Baumann die Weichen für die Umorganisation in den beiden Häusern des Klinikums zu stellen. Baumann arbeitet seit 2003 am Eichert, leitete bis zur Umstellung die IT beider Häuser und steht nun an der Spitze von MIO.
Eine klare Struktur mit klaren Führungsverantwortlichkeiten, das war Baumann ebenso wichtig wie Hiller. Dennoch betrachten beide das Resultat der Umorganisation nicht als zwangsläufig. "Die IT-Einheit hatte ein zahlenmäßiges Übergewicht", statuiert der Medizininformatiker mit MBA-Abschluss nüchtern, "weshalb es sich anbot, mir die Führung für den Bereich zu übertragen." Das klingt erstaunlich unprätentiös, doch anders scheint ein so grundlegender Wandel in der Klinikstruktur kaum denkbar - meint auch Hiller. "Wir haben uns auf dieses Konstrukt geeinigt und leben diese Entscheidung beide. Ohne eine solche Übereinkunft kann eine Umorganisation ohne jegliche Folgen für den Arbeitsalltag bleiben. In einem anderen Haus mit anderen Grundvoraussetzungen könnte die Struktur aber auch stärker von der Medizintechnik geprägt werden."
Um die Verschränkung und den Transfer zwischen den Bereichsteilen zu gewährleisten, entwickelten Hiller und Baumann eine Matrix, die sie über die eigentliche Säulen-Struktur des Geschäftsbereiches legten. Alle anfallenden Arbeiten unterliegen danach dem Schema Plan-Build-Run: Neue Lösungen werden geplant (Plan), errichtet (Build) und dann als neue Systeme betrieben (Run). In allen drei Phasen kommen Mitarbeiter der drei Teilbereiche zum Einsatz und verfügen im Laufe der Zeit aufgrund der permanenten Interaktion über eine immer breitere Wissens- und Erfahrungsbasis.
Auf diese Weise reichen die Ergebnisse, die die Teams in einzelnen Projekten erzielen, weit über das Tagesgeschäft hinaus: Sie berücksichtigen zugleich strategische Fragestellungen und sind daher ein Zukunftsfaktor für die Gestaltung des Geschäftsbereiches.
"Wir sind die Kümmerer"
Natürlich hat das Modell seine Grenzen. Hiller: "Auch wenn es wünschenswert wäre, werden nie alle Mitarbeiter in ihrem Fach universell einsetzbar sein. Dennoch hat jeder im Team einen Überblick über das gesamte Tätigkeitsfeld von MIO und kann immer weiterhelfen - der Satz "Ich bin nicht zuständig" ist bei uns tabu. Und "wir sind die Kümmerer." Kümmerer? Manager? Koordinatoren? "Wir sind mehr als Koordinatoren", sagt Baumann. "Wir kümmern uns aktiv darum, dass Entscheidungen gefällt und durchgeführt werden. Wir setzen Gesprächsflüsse in Gang, befördern den Informationstransfer und bringen uns inhaltlich in die Prozesse ein."
Ein weiterer Vorteil des Konstrukts: Die Entscheidungsstrukturen von der Planung über die Budgetierung bis zur Abwicklung sind vollkommen transparent. "Bei uns gibt es keine Anschaffungen weder in der Medizintechnik noch in der IT, auf die wir nicht beide Einfluss nehmen können." Und das geschieht keinesfalls immer reibungslos. Denn die Anforderungen beider Bereiche an ihre eigenen Produkte sind grundverschieden.
"Aufgrund des hohen Risikopotenzials von Medizinprodukten unterliegen wir viel strengeren Regularien als die IT", erklärt Hiller. Die Informationstechnologie ist hingegen von ständigen Veränderung mit dem Ziel der Verbesserung und Erneuerung getrieben. "Verbindliche Standards sind hier geradezu unmöglich", ergänzt Baumann. Und wie lässt sich das in gemeinsamen Projekten verbinden? "Wir einigen uns eben", wiederholt Baumann, und man spürt, dass es irgendwie stimmen muss. Zwei Bereiche, die organisatorisch so nah und formal bisweilen so weit auseinanderliegen, lassen sich mutmaßlich nicht "par ordre du mufti" führen.
Beschränkte Mittel effizient einsetzen
Auch wenn der Anlass für die Umorganisation von IT und Medizintechnik in Compliance-Fragen zu suchen ist, liegen die Gründe freilich tiefer. Und dabei geht es um nicht viel weniger als die Zukunft der Krankenhäuser. "Gerade im öffentlichen Dienst verfügen wir nur über beschränkte finanzielle Mittel", erläutert Baumann. "Um die Kliniken dennoch mit modernen Diagnose- und Therapieverfahren ausstatten zu können, müssen diese Mittel effizient eingesetzt werden." Und das funktioniert nur, wenn MT und IT an einem Strang ziehen: "Es braucht den Blick aufs große Ganze", so der MIO-Leiter.
Die Göppinger Kliniken befanden sich von Beginn an in einer günstigen Position. Als Referenzhaus des Medizintechnik-Herstellers Philipps kamen dort schon sehr früh Geräte zum Einsatz, die mit Informationstechnologie arbeiteten. So vernetzte Hiller als einer der ersten MT-Verantwortlichen die Personalcomputer des medizinischen Personals mit der Medizintechnik und sorgte für entsprechende Schulungen. Auch die Verkabelung der gesamten IT fiel schon vor Jahren in seinen Verantwortungsbereich.
Anfangs kam es infolge der getrennten Abteilungen noch zu bizarren Situationen: So standen die Server für den IT-Bereich in den klimatisierten Räumen des Rechenzentrums, während die Zentralrechner für die Medizintechnik ihren Standort in einem zu kleinen Abstellraum der Intensivstation hatten. "Glücklicherweise fanden wir hier in Göppingen für solche Probleme früh pragmatische Lösungen", meint Hiller.
Doch auch wenn in Göppingen vieles über die Zeit wachsen konnte, stehen die Einrichtungen im Klinikbereich vor denselben Herausforderungen: engere Verzahnung von MT und IT aufgrund neuer Technologien wie der Telemedizin, höherer Durchdringungsgrad der IT, Vernetzung von Kliniken, Ärzten und Therapieeinrichtungen, Kostendruck und Bettenabbau sowie strengere Compliance-Anforderungen aufgrund zunehmender Technologisierung - all dies macht die zunehmende Kooperationsbereitschaft der beiden Technologiebereiche künftig zum Erfolgsfaktor. "Es ist das Modell der Zukunft" meinen Hiller und Baumann - ohne größere Bedenken, dass die "blühenden Landschaften" allzu lange auf sich warten lassen werden.
Dieser Artikel stammt aus der Health-IT-Ausgabe 4/2010, die sie kostenfrei als PDF herunterladen können.