Plötzlich ist er nicht mehr Chef, sondern Praktikant. "Ich war einfach nur der Stephan", erzählt der CIO der Hamburger Hochbahn AG. "Ich hatte anfangs keine Ahnung von dem, was ich da machen soll." Also setzt sich Stephan Rings hin und hört zu: den Wohnungslosen und den Sozialarbeitern in einer Hamburger Tagesaufenthaltsstätte für Obdachlose. Verteilt Essen, hilft beim Ausfüllen von Formularen und nimmt an der medizinischen Sprechstunde und Sozialberatung teil, versorgt Obdachlose nachts mit dem "MitternachtsBus" und arbeitet bei der Hamburger Tafel mit. Vor allem aber lernt er. Mehr, als er gedacht hätte. Ganz klar: Der "Seitenwechsel" hat ihn verändert.
Das Programm "Seitenwechsel - Lernen in anderen Lebenswelten" der "Patriotischen Gesellschaft Hamburg von 1765" ist anders als gewöhnliche Persönlichkeitstrainings für Führungskräfte. Es gibt keine Theorie, nur Praxis. Eine Woche lang arbeiten Entscheider in sozialen Einrichtungen, etwa in einem Hospiz, einer Entzugsklinik oder in der Flüchtlingshilfe. Seit dem Jahr 2000 gibt es das aus der Schweiz stammende Programm in Deutschland. Mit großem Erfolg: Wenn ein Unternehmen einmal dabei war, schickt es immer wieder Manager zum Seitenwechsel. Bei der Hamburger Hochbahn AG etwa hat fast die gesamte obere Führungsriege bis hinauf zum Vorstand das Programm schon durchlaufen. Auch andere namhafte Firmen, von Airbus bis zu Vattenfall, entsenden häufig Teilnehmer für eine Woche in die soziale Arbeit.
Sensible Chefs
Ziel des Programms ist es einerseits, Führungskräfte zu sensibilisieren. Wenn die Führungsriege besonders gut mit ihren Mitarbeitern umgeht und soziale Kompetenzen hat, ist das für ein Unternehmen nur positiv. Es soll den Führungskräften beibringen, dass man nicht für alles eine Lösung haben kann im Leben. Gleichzeitig sollen die Menschen in den Einrichtungen Manager kennenlernen können, die meistens aus einer anderen Welt stammen. Der Seitenwechsel soll beiden Parteien zugute kommen - das ist dem Verein sehr wichtig. Denn Klischees gibt es auf beiden Seiten.
Ganz frei bestimmen können die Teilnehmer allerdings nicht, wo sie beim Seitenwechsel arbeiten werden. Bei einer Einführungsveranstaltung stellen sich die verschiedenen sozialen Institutionen vor. "Man darf drei persönliche Favoriten angeben und bereits hier werden bestehende Vorurteile zurecht gerückt", sagt Rings. Keiner soll über seine Grenzen hinausgehen, sondern sich außerhalb seiner Komfortzone bewegen und Stress erfahren - zu groß darf der Stress aber nicht werden. Keiner soll den Seitenwechsel nach einem Tag abbrechen. "Zu einfach sollten wir es uns aber auch nicht machen", sagt Rings. "Sonst würde man ja während dieser Zeit alle Aspekte nicht als etwas Besonderes wahrnehmen."
Dass die Wahl auf ein Heim für Wohnungslose fiel, war für Rings überraschend und merkwürdig zugleich. "Ich sehe jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit Obdachlose. Nach 20 Uhr findet hier in der Innenstadt ein Bevölkerungswechsel statt", erzählt er. Die Passanten verschwinden, die Obdachlosen kommen. Ihre Lebensumstände hinterfragen die meisten Menschen nicht. Schließlich haben sie ein Bild davon im Kopf - ob es mit der Realität übereinstimmt, überprüfen die meisten nicht. Der Seitenwechsel ermöglicht genau das.
Manager-Gehabe ablegen
Dann hat Rings seinen ersten Arbeitstag als Praktikant. "Alle waren sehr neugierig auf das neue Gesicht und haben gefragt: "Wer bist du denn?"" erzählt er. Berührungsängste habe es von beiden Seiten nicht gegeben, meint Rings. Seine Hauptaufgabe während dieser Zeit: "Zuhören", sagt der CIO. "Ziel des Programms ist es unter anderem, das Manager-Gehabe abzulegen", sagt Rings. Er soll keine Ratschläge erteilen, Probleme lösen, Handlungsanweisungen geben oder von oben herab mit den Wohnungslosen sprechen. Er soll mit dem Gesprächspartner auf Augenhöhe reden. Arroganz ist fehl am Platz beim Seitenwechsel. Keine Lösungen anbieten? Das passt nicht zum Job des CIOs. "Den Beraterhut muss man schon ablegen", sagt er. Das solle auch dazu dienen, als Entscheider wieder Bodenhaftung zu bekommen, meint Rings. Das falle sicherlich einigen Führungskräften schwerer als anderen, fügt er noch hinzu.
Es kann jeden treffen
Auf den Boden zurückholen die Manager die vielen Geschichten, die die Wohnungslose erzählen. Rings bittere Erkenntnis: "Das kann jeden treffen." Der CIO spricht mit Menschen, die wenige Monate zuvor noch einen Job gehabt hatten. Immer wieder hört er, wie Lebenspfeiler wegbrachen: Job, Wohnung, Familie. "Man kommt dann in einen Strudel hinein, alles bricht nacheinander weg", zählt er auf. Das Leben bröckelt. Wer nicht damit klarkommt, hat Pech. Oft, fährt der CIO fort, sei irgendwann dieser Frust im Kopf. "Man kapituliert einfach." Natürlich, das Klischee erfährt Rings auch im Wohnungslosenheim. "Da sind auch Leute dabei, die können nicht und die wollen nicht. Da ist kein Eigenantrieb mehr, sich aus der Lage wieder rauszuholen", meint er. Aber oft sei es eben anders.
Am härtesten trifft ihn die Geschichte von Willi.
Willi, der in Wirklichkeit nicht so heißt, spricht ihn an. Rings erzählt ihm, dass er eigentlich als Informatiker arbeite. Da sagt Willi, der nicht so aussieht, als könne er allein einkaufen gehen: "Ich bin auch ein EDV-Fachmann."
Willis Geschichte beginnt gewöhnlich. Er studiert Informatik, bekommt während des Studiums einen Job bei einer Firma angeboten. Er nimmt an und bricht das Studium ab. "Nach ein paar Jahren ging die Firma pleite", sagt Rings. Aufgrund unglücklicher Umstände verliert Willi auch noch die Wohnung. Und sitzt als IT-Fachmann auf der Straße. "Er war noch gar nicht so lange arbeits- oder wohnungslos. Fachlich war Willi voll fit", erzählt Rings. "Ich habe mit ihm über die wildesten IT-Themen diskutiert." Das alles in einer Wirtschaft, in der IT-Fachleute gesucht werden. Ein Loch im Lebenslauf, und sei es nur drei Monate, und schon bekommt man keinen anständigen Job mehr. Ein Teufelskreis, dem man ohne Hilfe nur schwer entkommt.
Kein Schubladendenken mehr
Der Seitenwechsel habe ihn verändert, meint Rings. "Ich gehe jetzt völlig anders mit Menschen um", sagt der CIO. "Man packt schnell Menschen in eine Schublade, wenn man sie sieht. Das habe ich abgelegt." Die Zeit mit den Wohnungslosen habe ihn auch gelehrt, nicht einfach Meinungen zu übernehmen, ohne sie zu verifizieren oder zu hinterfragen. Das betreffe auch Projekte.
Der Umgang mit seinen Mitarbeitern habe sich verändert. "Ich achte sensibler darauf, ob sie ihr Verhalten ändern, etwa stiller werden oder sich zurückziehen. Ich spreche sie eher an, als ich es vielleicht früher getan hätte." Er sei nun eher bereit, die Distanz zu seinen Mitarbeitern zu überbrücken. "Auch wenn das private Probleme sind, die nichts mit der Arbeit zu tun haben." Zwei Mal konnte er so Kollegen schon helfen, indem er einfach mit ihnen gesprochen hat. "Man kann schon sagen, dass ich feinsinniger geworden bin", ist der CIO überzeugt.
CIO Rings bittet seine Mitarbeiter, so früh wie möglich - auch außerhalb der Routinesitzungen - zu ihm zu kommen, wenn etwas im Projekt schiefzulaufen droht. "Wenn man es nicht früh genug anspricht, dass etwas nicht rund läuft, dann kann das vielerlei Folgen haben", sinniert er. "Das habe ich - um die Ecke gedacht -, aus dem Programm gelernt." Weil bei einigen der Obdachlosen das Leben wegen kleiner Dinge zu bröckeln begann, wisse er nun, dass man diese kleinen Angelegenheiten nicht vernachlässigen dürfe. "Ich führe jetzt viel mehr Gespräche mit meinen Mitarbeitern", sagt Rings.
Besser als jedes Seminar
Seine Erfahrungen könne er im Alltag umsetzen, meint er. "Ich kann diese Erfahrung und Herausforderung jedem nur empfehlen", sagt Ring. "Das ist so viel besser als die klassischen Manager-Seminare, die so oft gewissen Schulcharakter haben." Im Seitenwechsel lernt man mehr, als nur ein Manager zu sein.