IT-Arbeitsmarkt

Die Experten sind bescheiden geworden

03.02.2003 von Holger Eriksdotter
Wer den Stellenmarkt in der Zeitung aufschlägt, findet IT-Professionals, einst Stars einer Boom-Branche, nur noch unter "ferner liefen". In den Unternehmen dagegen müssen IT-Entscheider und Personaler aus einem Überangebot die Top-Leute herausfiltern und sich von denen trennen, die die gestiegenen Ansprüche nicht erfüllen.

Der IT-Arbeitsmarkt verändert sich drastisch: Erstmals seit Anfang der 90er-Jahre sinkt die Zahl der Beschäftigen, die Gehälter stagnieren oder sinken gar. "Der lang beschworene Kampf um Talente ist zum Kampf unter den Talenten geworden", formuliert die Online-Jobbörse Stepstone in einer aktuellen Analyse. Vorbei die Zeiten, als die Branche händeringend nach Arbeitskräften suchte und rote Teppiche für den Nachwuchs ausrollte. Mit Schiffsausflügen, Recruiting-Parties und Kennenlerntrips nach London von potenziellen Arbeitgebern umworben, wurden den Hochschulabsolventen bei Vertragsunterzeichnung horrende Gehälter, exzellente Karriere- chancen und hohe Aktienoptionen versprochen. All das löste sich mit dem Platzen der Dot-Com-Blase ebenso in Luft auf wie die Berufsperspektiven gestandener Experten.

"Heute haben selbst hochkarätige IT-Kräfte, die vor kurzem noch freie Auswahl bei der Jobsuche hatten, Schwierigkeiten, einen Arbeitsplatz zu finden", sagt Michael Neumann, Geschäftsführer von Nexecute, einer auf die Vermittlung hoch qualifizierter IT-Professionals spezialisierten Firma. Er beobachtet eine zunehmende Konzessionsbereitschaft: Für einen sicheren Arbeitsplatz seien heute auch Top-Leute zu merklich geringeren Gehältern zu haben. Wer dagegen auf seinen Gehaltsforderungen beharrt, macht möglicherweise die Erfahrung eines Nexecute-Klienten: Der 30-Jährige - SCM-Experte mit Projektverantwortung, früher bei einer renommierten IT-Consulting-Firma und laut Neumann "ein High Potential mit herausragender Qualifikation" - ist seit einem halben Jahr ohne Beschäftigung. Kein Unternehmen war willens, sein ebenfalls herausragendes bisheriges Gehalt zu bezahlen. Aber selbst Bescheidenheit hilft nicht immer. Besonders für gering Qualifizierte und Quereinsteiger ist es eng geworden am Arbeitsmarkt.

"Früher reichten etwas mehr als erweiterte Anwenderkenntnisse, um in den IT-Kernbereich einzusteigen", erinnert sich Stephan Pfisterer, Arbeitsmarktexperte beim Branchenverband Bitkom. Doch genau jene Quereinsteiger ohne "IT-spezifische Erstqualifikation" seien es, die heute zuerst entlassen würden und vorerst wohl kaum eine neue Einstiegschance bekämen. Pfisterer rechnet mit einem Anziehen des IT-Arbeitsmarkts im Laufe des Jahres 2004. "Aber dann werden die Unternehmen wohl Bewerber mit Hochschulabschluss oder Absolventen der IT-Ausbildungsberufe mit ihrem breit angelegten Basiswissen bevorzugen." Und die würden sich mit moderaten Einstiegsgehältern begnügen müssen.

Ebenso wie die Personalchefs und -berater verzeichnen auch die Online-Jobbörsen einen rasanten Zuwachs an Bewerbungen. Bei Monster Deutschland steigt die Zahl der IT-Stellengesuche - bei gleichzeitigem Rückgang der Stellenangebote. Und eine Arbeitsmarktstudie der Online-Jobbörse Stepstone zeigt, dass von einem Fachkräftemangel in der IT-Branche nicht mehr die Rede sein kann. Während der von Stepstone ermittelte Index (das Verhältnis von Stellengesuchen zu offenen Stellen) bei den Ingenieuren etwa 2,5 beträgt und sie damit zur Mangelware macht, liegt er im Mittel der IT-Berufe bei rund 15 - der drittschlechteste Wert aller hier vertretenen Berufsgruppen (s. Grafik). Die Studie vom September vergangenen Jahres, für die Stepstone 110000 Stellengesuche und 10000 Stellenangebote ausgewertet hat, offenbart aber noch weitere Unterschiede: Bei bestimmten Gruppen wie Internet- und E-Commerce-Experten (Index 31,8), Netzwerk- und Systemadministratoren (Index 24,9) oder Multimedia-Spezialisten (Index 108,8) sieht es noch schlechter aus; ihre Berufsaussichten tendieren gegen null.

Kein Wunder, dass Michael Jäkel, Bereichsleiter IT beim Bundesvorstand der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, sich Sorgen um seine Mitglieder aus der IT-Branche macht. Er sehe nicht nur ein sinkendes Gehaltsniveau, sondern fürchte auch um Arbeitsplätze. Zudem habe er den Eindruck, dass manche Unternehmen die Krise nutzen, um sich gezielt von geringer qualifizierten oder älteren Arbeitskräften zu trennen - und um sich dann bei wieder belebter Konjunktur mit jüngeren, besser qualifizierten und zudem kostengünstigeren Fachkräften zu verstärken. Er gehe davon aus, dass es sich bei der derzeitigen Entwicklung "lediglich um eine Delle in einem langfristigen Aufwärtstrend der IT-Branche und nicht um eine Strukturkrise handelt". Schon deshalb sei es kurzsichtig, sich jetzt von Mitarbeitern zu trennen, die wahrscheinlich spätestens im Laufe des Jahres 2004 fehlen würden. Denn Entlassungen wirkten sich nicht nur negativ auf die Motivation der verbleibenden Mitarbeiter aus; auch schlüge jede Neueinstellung mit durchschnittlich rund 50000 Euro zu Buche. Sein Rezept: Weiterbildung und breite Qualifizierung der Mitarbeiter, Urlaub und Bildungsmaßnahmen vorziehen und notfalls sogar Kurzarbeit.

Conrad Pramböck, Consultant bei Kienbaum Wien: "In Zeiten, da Personalkosten eingespart werden, bleiben Retention-Programme nicht selten auf der Strecke."

In den durch Bitkom vertretenen Betrieben der IT- und TK-Branche sind etwa 450000 der insgesamt 800000 Mitarbeiter IT-spezifisch tätig. Ausgehend von einer Studie des Zentrums für europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), rechnet Arbeitsmarktexperte Pfisterer mit rund doppelt so vielen IT-spezifisch Beschäftigten in allen anderen Bereichen der deutschen Volkswirtschaft; das sind nochmals rund 850000 Arbeitnehmer. "Die IT- und TK-Branche ist von der derzeitigen Konjunkturlage besonders betroffen - von einem Massenexodus kann aber nicht die Rede sein", stellt Pfisterer klar. Für das vergangene Jahr kalkuliere sein Verband mit einem Minus von gut drei Prozent, wobei das Beschäftigungsvolumen voraussichtlich von 819000 auf 791000 sinke. Die Arbeitsverhältnisse der IT-Mitarbeiter in Anwenderunternehmen, die die Bitkom-Statistiken nicht erfassen, sind nach Pfisterers Einschätzung branchenabhängig stabiler und vom Rückgang weniger betroffen als der eigentliche IT- und TK-Sektor.

Wie Trutzburgen nehmen sich derzeit die großen und erfolgreichen Unternehmen im unsicheren IT-Arbeitsmarkt aus. Claus Heinrich, Vorstandsmitglied und Arbeitsdirektor bei SAP, macht klar, dass die Personalpolitik seines Hauses langfristig ausgelegt und von Konjunkturschwankungen kaum betroffen sei. "Wir suchen immer Mitarbeiter unterschiedlichster Qualifikation und zahlen marktgerechte Gehälter." Als IT-Kräfte knapp waren, habe er sich nicht unter Druck setzen lassen und auf Bewerber mit unrealistischen Gehaltsforderungen verzichtet. "Selbstverständlich bleiben wir unserer Linie treu und weichen heute auch nicht nach unten ab", sagt der Personalvorstand. Dabei verzeichne SAP ebenfalls eine steigende Zahl von Initiativbewerbungen.

Dwight Cribb, Geschäftsführer der Cribb Personalberatung: "IT-Professionals, die Erfolge vorweisen können, dürfen sich gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt ausrechnen."

Rosige Zeiten also für Personalchefs? Im Moment sieht es so aus, aber die Zeiten könnten sich schnell ändern. "Die Unternehmen werden nach der Konsolidierungsphase mit einer jüngeren, besser qualifizierten und kostengünstigeren Mannschaft dastehen; das sollten sie aber nicht zum Anlass nehmen, an der betrieblichen Weiterqualifizierung zu sparen", warnt Bitkom-Mann Pfisterer. Ihn beunruhigen auch die sinkenden Zahlen von IT-Studienanfängern und vor allem die Bevölkerungsentwicklung: Ab 2007 gibt es einen demographischen Knick, dem kein weiterer Anstieg mehr folgt. Bei einer alternden Mitarbeiterschaft bleibe dann der Nachwuchs aus. "Der jetzige Rückgang des IT-Arbeitsmarkts ist eine Ausnahmesituation. Ab 2004 geht es wieder bergauf, und spätestens in zehn Jahren werden die Unternehmen verzweifelt nach IT-Fachleuten suchen", so die Prognose des Arbeitsmarktexperten.