Arbeitsleben

Dienstreisen: Schauen Sie aus dem Fenster!

27.11.2023 von Ferdinand Knauß
Dienstreisen sind zu Phasen besinnungsloser Betriebsamkeit verkommen. Dabei eignen sie sich ganz hervorragend zum Abschweifen, Nachdenken und Träumen. Und das sind die wahren Quellen der Schöpferkraft.
Es gab eine Zeit, da waren Zugfahrten, ob dienstlich oder nicht, Dehnungsfugen im Alltag.
Foto: Andrii Nekrasov - shutterstock.com

Stellen Sie sich vor, Sie sind auf einer Dienstreise im Zug. Stellen Sie sich vor, Sie tun dabei etwas Unerhörtes: Sie lassen den Laptop in der Tasche und schalten das Handy aus. Sie schauen stattdessen einfach aus dem Fenster, lassen die Dörfer, Wiesen und Wälder an sich vorbeirauschen. Vielleicht haben Sie eine schöne Melodie im Ohr - "Ride this train" von Johnny Cash bietet sich zum Beispiel an. Und dann lassen Sie die Gedanken schweifen, träumen Sie einfach so vor sich hin.

Wer so etwas Unerhörtes tut, muss sich in den Großraumabteilen der Deutschen Bahn wie ein aus der Zeit gefallener Sonderling fühlen. Denn kaum jemand schaut da einfach nur aus dem Fenster. Wer heutzutage auf Dienstreise ist, der nutzt die Zeit im Zug oder im Flugzeug für scheinbar Sinnvolleres als abschweifende Gedanken und Träumereien. Der schlägt die Klappe seines Laptops auf und lässt statt Dörfern, Wiesen und Wäldern die Zahlenreihen von Excel-Tabellen an sich vorbeirauschen. Oder er studiert zumindest die übers Smartphone einlaufenden E-Mails. Es könnte ja sein, dass man was verpasst. Und der Chef soll nicht glauben, dass man sich nicht auch unterwegs für das Unternehmen abrackert.

Es gab eine Zeit, und die ist noch gar nicht solange her, da konnte man unterwegs nichts verpassen. Es gab eine Zeit, da waren Zugfahrten, ob dienstlich oder nicht, "Dehnungsfugen im Alltag", wie Psychologe Stephan Grünewald sagt. Das war die Zeiten, als Waggons noch in Abteile mit sechs Sitzen aufgeteilt waren. Die Zeiten, als die sich gegenüber sitzenden Insassen eines solchen Abteils manchmal sogar ins Gespräch miteinander kamen, Reisegenossen wurden.

Tragbare Computer und die Ausstattung der Reisemittel Auto, Zug und Flugzeug mit Steckdosen und Internetzugang haben die Entgrenzung der Arbeitsplätze und -zeiten möglich gemacht. Man steigt in den Zug, und da man dort arbeiten kann, tut man es auch. Laptop-Klappe auf, Schalter an. Nur ja keine Zeit mit Muße verschwenden.

Karl-Heinz Geißler ist Zeitforscher und Zeitberater. Er ist überzeugt, dass der alltägliche Weg zur Arbeit und von ihr weg eine zentrale Funktion hat. Nämlich die Funktion, den Übergang zwischen Privatheit und Öffentlichkeit zu gestalten. "Der Mensch ist ein Übergangswesen, das nicht mit einem Kippschalter umschalten kann von Arbeit zu Freizeit", sagt Geißler. Das Ein-Aus-Prinzip der neuen Medien - ich schalte den Rechner ein und los geht’s - passt nicht zu uns, weil Anfangen und Beenden längere Prozesse sind.

"Wenn man sich keine Zeit für diese Übergänge nimmt, dann leidet die Produktivität, das ist empirisch erwiesen. Man kann dann nicht seine ganze Energie reinstecken, weil andere Dinge noch nachhängen", sagt Geißler. Das gilt genauso für den Anfang wie für das Ende des Arbeitens: "Wenn Sie direkt aus dem Büro gehetzt ins Konzert rennen, können Sie erst ab dem zweiten Satz richtig zuhören."

Die fünf Großstädte mit dem höchsten Anteil an Pendlern

1

Offenbach am Main

2

Ludwigshafen

3

Mülheim an der Ruhr

4

Wolfsburg

5

Frankfurt am Main

Das Zugabteil als Großraumbüro

Wer jeden Tag lange Pendelfahrten zwischen Heim und Arbeitsplatz absolviert, oder wie Unternehmensberater an drei bis vier Tagen pro Woche auf Achse ist, für den wird das Reisen selbst zum Alltag - statt zur Dehnungsfuge. Solche Dauerdienstreisenden müssen vielleicht wirklich die eine oder andere Aufgabe unterwegs erledigen. Umso wichtiger ist es, sagt Geißler, die Übergangsphasen von Arbeit und Freizeit zu ritualisieren. Wer auf der gesamten Fahrt mit Arbeit beschäftigt ist, und noch unmittelbar vor der letzten U-Bahn-Station dienstliche E-Mails liest, der wird auch im Arbeitsmodus zu Hause ankommen.

Und für entsprechende Stimmung in der Familie sorgen. Wenn sich Kinder beklagen, dass ihre Eltern zu wenig Zeit für sie haben, liegt es meist daran, dass die Eltern auch zu Hause mit den Gedanken noch bei der Arbeit sind. "Wer seine Familie pflegen und stabilisieren will, der braucht vor der Heimkehr einen Übergangsprozess", sagt Geißler. Dieses Abschalten kann man durch Muße im Zug erleichtern oder durch irgendein Ritual auf dem Heimweg, das als Zeitpuffer zwischen Arbeitswelt und Familienleben tritt. Das kann ein Umweg durch den Park sein oder ein kleiner Bummel durch die Buchhandlung.

Erst recht gilt das für lange Dienstreisen ins Ausland. Wer die kurzen Stunden des Fluges über den Atlantik ausschließlich der Arbeit widmet, und sich keine Ruhephase der Umstellung auf das fremde Land gönnt, der kommt auch gar nicht richtig an am Ziel der Reise. Den wird der Jetlag dafür umso härter treffen.

Die Entgrenzung des Arbeitens durch die neuen Medien, die das Arbeiten überall und unterwegs möglich machen, ist eine Dauerquelle für Stress und Erschöpfung. Der Brei von Arbeit und Privatheit, in dem vor allem Viel-Reisende und Dauerpendler leben, bedeutet zwar eine Verlängerung potenzieller Arbeitszeiten, aber auch eine Potenzierung der Störungen.

Im Großraumabteil eines Zuges oder im Flugzeug herrschen ähnliche Bedingungen wie in einem Großraumbüro. "Wenn Sie oberflächliche Arbeiten verrichten, ist das kein Problem. Aber für den Tiefgang braucht man Isolation", sagt Geißler. Man kann im Zug ebenso wenig ein Buch schreiben wie im Café. Denn jeder Mensch braucht bis zu 15 Minuten Anlauf nach jeder Unterbrechung, um wieder da weiterzumachen, wo er aufgehört hat. Für Viel-Reisende ist, ähnlich wie für Großraum-Arbeiter die Stress-Umgebung ein Dauerzustand. Sich im Zug so zu konzentrieren, dass tiefsinnige Arbeit möglich wird, erfordert große Anstrengung, die zu unverhältnismäßiger Erschöpfung führt. Deshalb stellen überfleißige Laptop-Arbeiter am Zielbahnhof angekommen oft fest, dass sie nicht so wahnsinnig viel geschafft haben, dafür aber selbst mächtig geschafft sind.

Die fünf Branchen mit dem höchsten Anteil an Pendlern

1

Industrieller Anlagenbau

2

Verarbeitende Industrie

3

Chemie-, Pharma- und Bio-Industrie

4

Technikbranche

5

Agrarwirtschaft

Besinnungslose Betriebsamkeit

Für den Psychologen und Buchautor Stephan Grünewald ist das Träumen die Voraussetzung für Kreativität und Innovation.
Foto: rheingold GmbH & Co. KG

Das zwanghafte Arbeiten unterwegs ist für den Psychologen Stephan Grünewald ein Indiz der "besinnungslosen Betriebsamkeit", die er den Deutschen in seinem Buch "Die erschöpfte Gesellschaft" attestiert.

Grünewald ist überzeugt, dass träumerisch aus dem Fenster zu sehen, keineswegs vertane Zeit ist. Mußestunden auf Reisen sind Phasen, in denen die guten Einfälle, die klugen Gedanken uns überkommen. "Dieses schöpferische Moment, das in der Fähigkeit zum Schweifen begründet ist, wurde dem Effizienzdiktat geopfert." Man fühlt sich verpflichtet, die ein oder zwei Stunden Zugfahrt nutzen zu müssen, um irgendwelche Dinge abzuarbeiten. Und verschenkt die Gelegenheit zum Träumen, der wahren Quelle der Schöpferkraft.

Für Grünewald als Freudianer und Schüler Wilhelm Salbers ist das Träumen der Königsweg, um aus der Alternativlosigkeit der Alltagsmühle herauszukommen. Und gerade den Deutschen rät er, sich auf ihre besonderen Träumerqualitäten zu besinnen. "Deutschland hat stark gemacht, dass wir in der Lage waren, über das Träumen unsere Unruhe in Schöpferkraft zu verwandeln, in Erfindungen, Patente, Dichtkunst, philosophische Systeme."

Die "Innerlichkeit", die nicht erst der britische Historiker Peter Watson uns 2010 in seinem Buch "Der deutsche Genius" attestierte, war auch wirtschaftlich immer unsere große Stärke. Wir sollten uns fragen, ob wir ein Land der Arbeitsbienen, der Controller und Bürokraten sein möchten, oder eines der Dichter und Denker - und Tüftler.

Die ausgedehnten Reisestunden im mobilen Zeitalter eignen sich ganz hervorragend dafür, um unsere Traumstärke wieder zur Geltung zu bringen. Einfach aus dem Fenster zu sehen, ist ein guter Anfang.

(Quelle: Wirtschaftswoche)