Wenn jemand Schuld an miesen Jobs hat, dann Frederick Winslow Taylor: Der Amerikaner kam vor über 100 Jahren auf die Idee, Arbeitsabläufe streng zu strukturieren und so die Produktivität der Arbeiter zu steigern. Der "Taylorismus" machte als Synonym für negative Arbeitsbedingungen Karriere, als Grundlage für Top-Down-Auswüchse, Entmenschlichung und Kontrollwahn.
Zwar war das Konzept bereits zu Lebzeiten Taylors umstritten, doch auch heute noch werden intensive Gefechte in seinen Randbereichen geführt. Darin geht es grundsätzlich um die Entscheidung, wie weit man den Mitarbeitern vertrauen kann, dass sie ihre Arbeit eigenverantwortlich erledigen. Einigen gelingt dies besser als anderen - das Vertrauen sowie das eigenverantwortliche Erledigen.
Vor allem beim Thema Home Office scheiden sich die Geister. Auf der einen Seite steht die Angst vor dem "Cyberslacking", dem privaten Rumtreiben im Web während der Arbeitszeit, ohne Respekt für den Dresscode und ohne physikalischen Zugriff des Vorgesetzten. Auf der anderen Seite stehen Mitarbeiter, die gerne mal einen oder mehrere Tage zuhause arbeiten wollen, ohne Fahrtzeiten, Meetings und die Frage, ob der Nachbar den Heizungsableser reinlassen kann.
So teilt sich auch die Medienlandschaft auf in Befürworter und Kritiker: Mal steigt angeblich die Produktivität, mal tanzen die Mäuse auf dem Couchtisch, es gibt vermeintliche Referenzen dafür (Microsoft) und dagegen (Yahoo), und zu aller Letzt ist je nach Umfrage der Bedarf gewaltig oder nur gering.
Home Office gewinnt zunehmend an Bedeutung
Auch wenn es Schwankungen gibt: Der grundsätzliche Wunsch vieler Menschen an ortsungebundener Arbeit ist unstrittig. "Die meisten relevanten Untersuchungen zeigen, dass das Thema des flexiblen und verteilten Arbeitens immer wichtiger wird", berichtet Josephine Hofmann, die beim Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO in Stuttgart das Competence Center Business Performance Management leitet und für das Geschäftsfeld Unternehmensentwicklung und Arbeitsgestaltung zuständig ist. Arbeitgeberattraktivität, junge Nachwuchsgeneration und demographischer Wandel sorgen dafür, dass sich Unternehmen mehr einfallen lassen müssen, um Arbeit und Berufsleben besser vereinbar zu gestalten.
So wurde im April in den Niederlanden ein "Recht auf Heimarbeit" mit großer politischer Mehrheit verabschiedet, und auch die jüngsten Betriebsvereinbarungen zur flexiblen Arbeit etwa bei BMW sind laut Hofmann ein "typisches Zeichen, dass sich die großen Unternehmen in Ballungszentren stärker um Mitarbeiter bemühen müssen". Für viele Konzerne stellt sich zudem die Frage nicht mehr, ob verteiltes Arbeiten überhaupt sinnvoll ist - standortübergreifende Teams machen es schlicht unmöglich, dass alle in einem Raum sitzen und "osmotisch" kommunizieren. Und mit der Nachfrage steigt der Druck auf Führungskräfte, alle Anforderungen der flexiblen Arbeit ohne Reibungsverluste und im Sinne der strategischen Ziele umzusetzen.
Reale Distanz wächst
Das funktioniert nur, wenn Manager und Mitarbeiter für ihre neuen Rollen befähigt werden und im kontinuierlichen Lernprozess mit dem Neuen umgehen. Für Anja Wittenberger, die bei der Dresdner Firma Communardo als Social-Business-Consultant arbeitet, stehen sich beim Führen von verteilten Teams zwei Aspekte diametral gegenüber: Die reale Distanz wächst, und digital ist große Nähe möglich. "Weil man sich beim verteilten Arbeiten nicht in die Augen schauen, die Hand schütteln und mal kurz Kaffee zusammen trinken kann, spielt die Pflege der Beziehungsebene eine besonders wichtige Rolle", sagt Wittenberger.
Im Gegensatz dazu sind digital vernetzte Team-Mitglieder durch transparentes Arbeiten und offenes Kommunizieren immer sehr nah dran an der Arbeitswirklichkeit des Gegenübers. "Geteilte Ideen und Gedanken oder erste Entwürfe eines Konzeptes sind jederzeit von den Kollegen einsehbar." Möglich wird dies etwa durch Projekträume, Chats oder Microblogs - Bausteine des viel zitierten Enterprise 2.0 mit dem Digital Workplace. "Die digitale Nähe ist Voraussetzung dafür, dass verteiltes Arbeiten überhaupt funktionieren kann", argumentiert Wittenberger, die Unternehmen und Führungskräfte auf dem Weg zum vernetzten Unternehmen begleitet.
Führungskräfte müssen sich mehr kümmern
Viele Manager scheitern jedoch beim Versuch, digitale menschliche Nähe aufzubauen. "Die größte Notwendigkeit besteht darin, dass sich Führungskräfte in der digitalisierten Welt trotz oder geraden wegen der zunehmenden Distanz um ihre Teammitglieder kümmern", so die Beraterin von Communardo. "Dazu gehört, sich zu informieren, wie es ihnen geht und welche Unterstützung sie benötigen, um optimale Ergebnisse zu erbringen."
Daher fordert Wittenberger konkret mehr Fürsorge, auch angesichts der Entgrenzungsproblematik von Freizeit und Beruf. Selbst in einer Telefonkonferenz könne menschliche Nähe durch die Art der Moderation hergestellt werden. "Wenn sich eine Führungskraft um den Menschen und seine Bedürfnisse kümmert und nicht ausschließlich um dessen fachliche Aufgabe, erkennt sie die eigentlichen Wünsche und Probleme und kann somit wirksamer führen."
In einer aktuelle Umfrage des Personaldienstleisters Hays zum Thema "Führung" heißt es dazu: "Als wesentliche Aufgaben einer Führungskraft wird angesehen, eine Feedbackkultur zu etablieren, Mitarbeiter zu motivieren und ihnen Entwicklungsmöglichkeiten aufzuzeigen." Kaum überraschend, dass die Sozialkompetenz von Führungskräften heute das bei weitem wichtigste Feld (78 Prozent) ist. Gleichzeitig sehen die Befragten hier aber mit 72 Prozent den größten Handlungsbedarf.
"Gerade in virtuellen, mediengestützten Strukturen ist es entscheidend, die Mitarbeiter ins zu Gespräch bringen", bestätigt Fraunhofer-Expertin Hofmann. Menschen vernetzen, Menschen begeistern, Menschen mitnehmen - allerdings ist nicht jeder Manager mit einer Fachkarriere dazu geeignet, Mitarbeiter über die Distanz zu führen, räumt Hofmann ein: "Eine erweiterte Medienkompetenz kann man mit kompetenter Begleitung durchaus antrainieren, aber aus einem Verstockten machen sie keinen Thomas Gottschalk."
Gegenseitiges Vertrauen
Auch an anderer Stelle knirscht es im Management-Gebälk: "Die Führungskraft sollte den Rahmen schaffen, in dem Wissensarbeiter ihrem Wunsch nach selbstbestimmter Arbeit bestmöglich nachkommen können", greift Wittenberger eine generelle Forderung auf. In der Praxis sieht es jedoch häufig anders aus: Mehr als die Hälfte der Befragten der Hays-Studie bezeichnet die Reduzierung der Kontrollfunktion des Managers hin zu mehr Eigenverantwortung als "Stolperstein".
In diesem Zusammenhang wurde auch eine weitere hohe Hürde genannt: der in flexiblen Arbeitswelten nötige Wandel von einer Anwesenheits- in eine Ergebnisorientierung. "Die große Herausforderung bei verteilter Zusammenarbeit mit flexibler Zeiteinteilung ist, dass wir ganz stark auf das gegenseitige Vertrauen angewiesen sind", so Wittenberger. Dies umfasst sowohl die vertikalen als auch die horizontalen Beziehungen in der Unternehmenshierarchie.
So sieht die Social-Beraterin bei den Führungskompetenzen für eine digitale Arbeitswelt "definitiv Nachholbedarf". Dies betreffe erstens die selbstverständliche Bedienung der neuen Technologien, zweitens den adäquaten Umgang mit Informationen und drittens einen partizipativen Führungsstil. "Einige unserer Kunden weisen in der Führungskräfteentwicklung eine große Reife auf", berichtet Wittenberger aus der Praxis. "Es gibt aber auch Unternehmen, in denen die Führungskräfte mit den neuen Herausforderungen komplett auf sich allein gestellt sind, weil das Top-Management kein Verständnis hat, dass diese Veränderung der Arbeitskultur Beteiligung, Coaching und Begleitung braucht."
Das zeigt sich vor allem in der Ausstattung mit den nötigen Ressourcen: "Wenn sie mit administrativen Aufgaben überladen und auch noch stark fachlich eingebunden sind, dann ist es schwer, sich darum zu kümmern, dass alles läuft und das Team funktioniert", sagt die Beraterin. Und auch Fraunhofer-Expertin Hofmann berichtet von Führungsspannen, die deutlich zu hoch sind: "Bei 40 Mitarbeitern tun sie sich extrem schwer, für alle ein guter Ansprechpartner zu sein." Als Orientierungswert für vernünftige Führung kalkuliere man rund zehn Prozent der Arbeitszeit pro Mitarbeiter - ohne Sachaufgaben, die dem Manager in der Regel zudem noch aufgeladen werden.
Disziplin unabdingbar
Hinzu kommt noch ein Erfolgskriterium, dass so gar nicht ins Bild der freizügigen Heimarbeit zu passen scheint: Disziplin. "Flexibilisierung funktioniert nur", so Hofmann, "wenn sich alle Beteiligten an ihre vereinbarten Erreichbarkeiten, zugesagten Liefertermine für Arbeiten oder Rückmeldungen halten, um das Vertrauen zu rechtfertigen." Zwar würden Regelhaftigkeit und Flexibilität wie ein Widerspruch aussehen ("In meinem Home Office kann ich machen, was ich will"), aber genau das Gegenteil sei der Fall.
"Natürlich kann man sich Aufgaben und Zeiten anders einteilen, aber gerade die aktive, verlässliche und eben auch personenorientierte und informelle Kommunikation ist extrem wichtig, damit solche Teams nicht auseinanderfallen." Mit der "Splendid Isolation" von Mitarbeitern gerät das fragile Gefüge rasch ins Wanken.
"Unternehmen müssen erkennen", ergänzt Communardo-Beraterin Wittenberger, "dass es nicht nur um Home Office und die Anpassung der Arbeitsregelungen sowie technischen Grundlagen geht, sondern darum, die nötigen Kompetenzen in der Belegschaft zu entwickeln." Diese - ob Führungskraft oder Geführte - müssten schließlich damit umgehen, dass sie in verteilten Teams arbeiten und Verständnis für die Bedürfnisse der anderen entwickeln. Zudem sollten sich Unternehmen darauf einstellen, dass sie trotz aller digitalen Vernetzung weiterhin in Reisezeiten und Reisekosten investieren müssen, damit sich Menschen real begegnen und Beziehungen aufbauen können.
Und man dürfe nach einer ersten Experimentierphase keine schnellen Erfolge erwarten, so Wittenberger: "Nur weil man einen Mitarbeiter ins Home Office schicken kann, heißt es nicht, dass die Produktivitätskennzahlen sofort nach oben gehen." Weit mehr Aspekte der neuen Arbeitsweisen seien zusammen zu betrachten und schrittweise - mit Beteiligung aller Betroffenen - zu etablieren, um wirksame Veränderungen hin zu einem digital vernetzen Unternehmen zu bewirken.
Ohne Führung geht es nicht
Trotz der virulenten Diskussion ist Fraunhofer-Expertin Hofmann überzeugt, dass Führung immer wichtiger wird: "Aber nicht im klassischen Sinne als Transmissionsriemen der Macht - Arbeit delegieren, kontrollieren und wieder nach oben zurückspielen." Generell sei es die eigentliche Aufgabe der Führungskräfte, das Personal zu entwickeln, zu fördern sowie die Mitarbeiter zu vernetzen und zu orientieren. Hofmann zufolge werde gerade in den flexiblen Netzwerken die Bedeutung eines Bindeglieds immer wichtiger, das den Mehraufwand in Kommunikation und Koordination leistet. "Und nicht zuletzt sollen Führungskräfte auch Identifikationsfiguren sein, die hoffentlich mehr leisten als Mitarbeiter zu kontrollieren und einmal im Jahr Gespräche zu führen."
So treten denn durch flexible Arbeitsumgebungen plötzlich wieder die klassischen Tugenden einer Führungskraft zutage, um Loyalität und Bindung herzustellen: Ideen entwickeln, Orientierung bieten und Identität stiften. Wer das nicht beherrscht, ist keine moderne Führungskraft, sondern nur ein klassischer Vorgesetzter.