Deutsche Unternehmen haben bei den Top-Zukunftsthemen immer noch einen Fuß auf dem Bremspedal. Mangelnde Entschlossenheit in den Chefetagen bedrohe die digitale Transformation in den hiesigen Großunternehmen, stellt etwa die Digitalberatung Etventure fest - auf Basis einer Studie, für die gemeinsam mit der GfK Nürnberg Führungskräfte in 2000 deutschen Großunternehmen mit mindestens 250 Millionen Euro Jahresumsatz befragt wurden.
Deutschland hat Spitzenposition bei Industrie 4.0
Der Industrie 4.0-Index - ermittelt von den Beratern der Staufen AG auf Basis einer Befragung von 179 Industrieunternehmen - attestiert den Firmen aus der Bundesrepublik zwar im weltweiten Vergleich eine Spitzenposition. Viele Studienteilnehmer geben aber selbst zu, das Thema in der Vergangenheit unterschätzt zu haben.
Der Eindruck einer gewissen Halbherzigkeit drängt sich also auf beim globalen Trendthema der Digitalisierung und der Industrie 4.0 als digitalem Spezialfeld. Nicht zu verkennen ist dabei, dass eine wachsende Zahl an Firmen diese Themen anpackt oder plant, das bald zu tun. Noch selten aber stürzen sich Unternehmen mit Verve in das Abenteuer Digitalisierung.
Nur für 35 Prozent ein Top-3-Thema
Laut Etventure-Studie berichtet jedes vierte Unternehmen zwar, dass der Stellenwert des Themas im vergangenen Jahr deutlich gestiegen sei. Nur für 6 Prozent der Befragten ist die digitale Transformation aber das wichtigste Thema im Hause; für 35 Prozent immerhin zählt sie zu den drei bedeutendsten Themen. "Die Bedeutung der Digitalisierung wird in vielen Unternehmen noch immer nicht voll erkannt", stellen die Autoren fest. "Mit Management- und Umsetzungsfehlern legen sich die Firmen oftmals selbst Steine in den Weg."
Dem Staufen-Index zu Folge beschäftigten sich 76 Prozent der Firmen im vergangenen Jahr mit Industrie 4.0, 2014 waren es nur 60 Prozent. Nur noch 19 Prozent der Befragten ignorierten das Thema 2015 in Gänze, im Jahr davor waren es noch 34 Prozent. 4 Prozent sagen, Industrie 4.0 werde bereits umfassend operativ umgesetzt, 31 Prozent betreiben operative Einzelprojekte, weitere 5 Prozent befinden sich in der Planungs- und Testphase.
Japan und USA holen auf
Auf einer Skala von 0 bis 8 zur Frage, welches Land auf dem Weg zur Industrie 4.0 am weitesten vorangekommen ist, liegt Deutschland im Staufen-Index auf dem ersten Platz mit einem Durchschnittswert von 7,06 Punkten. Dieser Wert lag 2014 marginal höher. Verbessern konnten sich demgegenüber Japan auf Platz Zwei und vor allem die USA auf dem dritten Rang, die punktemäßig einen Sprung von 5,24 auf 6,26 machten. China konnte sich von 3,75 auf 4,28 Punkte steigern.
Während die deutschen Firmen bei der Digitalisierung insgesamt im internationalen Vergleich offensichtlich nicht an die Spitze preschen, ist der Ehrgeiz bei Industrie 4.0 dem Selbstverständnis des Landes als Industrienation entsprechend ausgeprägter. Hier wurde ein Vorsprung aufgebaut, den die Konkurrenz nun aber aufzuholen droht.
Gefahr durch Software-Dominanz der USA
Die Staufen-Berater warnen, Deutschland müsse angesichts der US-Dominanz bei technischer Software, Internet-Plattformen und Big Data aufpassen, im Innovationswettlauf nicht zurückzufallen. US-Firmen wie Cisco, IBM und General Electric hätten sich mit anderen Firmen zum Industrial Internet Consortium (IIC) zusammengeschlossen, um die Standardisierung in diesem Feld voranzutreiben. Aus Deutschland seien Bosch und Siemens immerhin mit an Bord.
"Ob Deutschland das Rennen um die Technologieführerschaft auch langfristig gewinnt, ist also nicht ausgemacht", befindet Staufen. "Zumal sich mit China bereits ein weiterer großer Player in Stellung bringt." Peking wird sich demnach mit einer Nachzügler-Rolle auf Dauer nicht zufrieden geben.
Wirtschaft hat Industrie 4.0 lange unterschätzt
Vielleicht könnte die deutsche Industrie unangefochtener in Front sein, wenn sie sich wegen eigener Verzagtheit nicht selbst ausgebremst hätte. 61 Prozent der Befragten meinen jedenfalls, dass die hiesige Wirtschaft die Bedeutung von Industrie 4.0 lange Zeit unterschätzt habe. Drei Viertel sagen, die Industrie habe kein gutes Gespür für das Tempo der Veränderung gehabt. Bemerkenswerterweise fällt das Urteil kaum besser aus, wenn die Befragten das eigene Unternehmen bewerten. Rund drei Viertel berichten, dass ihr Haus bei der Qualifizierung von Führungskräften und Mitarbeitern hinterherhinke.
Etventure moniert wie erwähnt Umsetzungsschwierigkeiten bei der digitalen Transformation. Das liege unter anderem daran, dass nur in 48 Prozent der Firmen die Steuerung dem Vorstand oder der Geschäftsleitung obliege. "Ohne die volle Rückendeckung der Chefetage kann Digitalisierung nicht funktionieren", sagt Philipp Depiereux. Der Gründer und Geschäftsführer von Etventure sieht das Thema unter anderem bei der IT nicht gut aufgehoben: "Die bestehenden Strukturen in der IT oder anderen Abteilungen hemmen Innovationen." Stattdessen sei ein geschützter Raum nötig, in dem Innovationen losgelöst von der bestehenden Unternehmensstruktur entwickelt und getestet werden können.
Manager scheuen radikale Entscheidungen
Tatsächlich machen 65 Prozent der Befragten die Verteidigung bestehender Strukturen als größtes Hemmnis bei der digitalen Transformation aus. 54 Prozent beklagen einen Zeitmangel, 52 Prozent fehlende Erfahrung bei nutzerzentriertem Vorgehen. 42 Prozent meinen, ihr Unternehmen sei in seinem Bereich zu festgefahren. 40 Prozent bemängeln, dass Führungskräfte radikale Entscheidungen scheuten.
Digitalisierung wohl kein Jobkiller
Zum Jobkiller wird der digitale Wandel nach Einschätzung der von Etventure und GfK befragten offenbar nicht. 23 Prozent rechnen mit einem Zuwachs an Arbeitsplätzen, 18 Prozent mit einem Nettoverlust an Jobs. 59 Prozent gehen nicht von nennenswerten Auswirkungen aus.
Bei der Bewältigung der digitalen Herausforderung suchen die befragten Großunternehmen auch externe Unterstützung. 31 Prozent haben beispielsweise eine Kooperation mit Startups. Jeweils mehr als 80 Prozent dieser Gruppe versprechen sich davon Zugang zu neuen Technologien, Innovationstempo und -qualität sowie methodische Fortschritte.
"Gleichwohl sehen Unternehmen aber auch Probleme einer Kooperation, beispielsweise aufgrund von mangelndem Verständnis für die Abläufe in Großunternehmen", warnt Etventure. 74 Prozent nennen dieses Problem. 72 Prozent sehen überdies zu unterschiedliche Sicherheitsanforderungen als möglichen Krisenherd bei der Zusammenarbeit. 66 Prozent führen stark divergierende Unternehmenskulturen als heiklen Punkt an.
5 Regeln für die Digitalisierung
Etventure-Gründer Depiereux gibt den Anwendern fünf Regeln an die Hand, die beim Meistern der digitalen Herausforderung helfen können:
1. Digital Unit - Digitale Lösungen im geschützten Raum entwickeln
Innerhalb einer Digitaleinheit, losgelöst von den Unternehmensstrukturen, bietet sich der notwendige Freiraum für innovatives Denken und agiles Testen, direktes Umsetzen sowie Realisierung schneller Erfolge am Markt.
2. Entwicklung und Tests von Digitalprodukten nach dem Lean Startup-Ansatz
Nach dem Motto "fail fast and cheap" wird durch Lean Startup schon in einer frühen Phase deutlich, welches Geschäftsmodell Potenzial hat und welches nicht.
3. Design Thinking - radikal nutzerfokussiert
Wer ist eigentlich meine Zielgruppe und was braucht sie wirklich? Durch Design Thinking entstehen Produktinnovationen und Geschäftsmodelle mit einem radikalen Fokus auf den Kunden.
4. Mitarbeiter mit Startup-DNA
Digitalisierungs-Know-how ist wichtiger als Branchenkenntnis. Erfolgreiche Mitarbeiter mit unternehmerischer Digitalkompetenz arbeiten wesentlich stärker wie Entrepreneure - mit einem unternehmerischen Mindset, mit Startup-Mentalität und neuen, disruptiven Methoden, um den digitalen Wandel voranzutreiben.
5. Digitalisierung ist Chefsache
Digitalisierung bedeutet einen Angriff auf das Kerngeschäft. Ist der Vorstand nicht Treiber des Innovationsprozesses, wird die digitale Transformation nicht gelingen.