Duisburg, Außenhafen - ein nüchterner Zweckbau im abendlichen Nieselregen. Lange, weiße Flure, an den Wänden Fotos von Tankschiffen, Pipelines, Raffinerieanlagen. Ein sachlich eingerichtetes Büro. Nichts, rein gar nichts spricht dafür, dass hier in der Zentrale des Öl- und Gasgeschäfts von Siemens große Gefühle aufleben könnten.
Doch die Augen von Ralf Kannefass (41) schimmern verdächtig wässrig. Schnell blinzelt der Leiter des Bereichs Kompressoren und Turbinen die aufsteigenden Tränen weg, lächelt verhalten und erklärt: "Wenn ich an den Brief denke, bekomme ich Gänsehaut und feuchte Augen."
Der Brief, das ist das Schreiben eines zweifachen Familienvaters aus Skandinavien. Eines Mannes, der im vergangenen Sommer beinahe an Leukämie gestorben wäre. Und dem es dank 1,2 Kilo Knochenmark-Blut-Gemisch aus dem Beckenknochen von Kannefass heute deutlich besser geht.
"Ich konnte ein Leben retten, was für eine unglaubliche Vorstellung, was für ein Glück", sucht der Chef von 800 Experten für die Ölindustrie seine Emotionen in Worte zu fassen. Wieder lächelt er die innere Aufwallung weg und postuliert dann mit der Überzeugungskraft des erfolgreichen Managers: "Jetzt will ich möglichst viele Menschen dazu bewegen, auch Lebensspender zu werden."
So wie Kannefass, der sich für die Deutsche Knochenmarkspenderdatei (www.dkms.de) engagiert, setzen sich hierzulande viele Führungskräfte für die Allgemeinheit ein. Und zwar nicht nur mit Geldspenden und dem Besuch von Benefizveranstaltungen. In ihrer ohnehin raren Freizeit trainieren sie Jugendliche in Sportvereinen, organisieren Konzerte, karren Lebensmittelspenden zur lokalen Tafel, renovieren Klassenzimmer oder buddeln Biotope.
Bis in die höchsten Etagen von Unternehmen und Verbänden finden sich Wohltäter: VDA-Chef Matthias Wissmann sammelt seit 30 Jahren Spenden für die Vietnam-Hilfe. Ex-SAP-Chef Henning Kagermann baut im sächsischen Zeißholz ein Museumsdorf auf. Daimler-Lenker Dieter Zetsche sitzt im Stiftungsrat der Deutschen Sporthilfe.
"Genetischer Zwilling"
Unternehmer und Manager arbeiten sogar überdurchschnittlich viel in ihrem Privatleben für die Gesellschaft. Das Düsseldorfer Marktforschungsinstitut Innofact befragte sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber, sprich Inhaber und Geschäftsführer von Firmen jeder Größe, ob sie "persönlich unentgeltlichen Einsatz von Zeit und Geld für gute Zwecke" leisteten - wobei das Mitlaufen beim Charity-Marathon und die Mitgliedschaft im Elternbeirat nicht zählten. Von den Führungskräften engagieren sich demnach 42 Prozent stark oder sehr stark für das Gemeinwohl. Unter ihren Mitarbeitern sind es nur 37 Prozent.
Ein überraschendes Ergebnis. Aber richtig breit publiziert wurde die von einem Dax-Konzern in Auftrag gegebene Studie bislang dennoch nicht. Die Zurückhaltung ist symptomatisch für das Thema. Sozial engagierte Manager sprechen nur höchst selten in der Öffentlichkeit über ihre guten Taten: Bloß nicht brüsten und am Ende als Selbstdarsteller dastehen. Schon gar nicht in Zeiten von Finanzkrise, Kurzarbeit und Jobangst.
Nun, da das Ansehen ihres Berufsstandes den vorläufigen Tiefpunkt erreicht hat, wollen sich die Wirtschaftslenker auf gar keinen Fall dem Verdacht aussetzen, mit rührseligen Geschichten ihr Image aufzupolieren. Oder sie fürchten Spott nach dem Motto: "Kennen Sie den: Ein Manager tut Gutes, hahaha."
Auch Kannefass zögerte lange, ob er über seine Knochenmarkspende reden sollte. Dann aber entschied er pragmatisch: "Ich will mit meinem Bericht Kollegen in anderen Unternehmen anregen, auch bei sich Betriebstypisierungen durchzuführen."
An einer solchen Reihenuntersuchung, in der potenzielle Spender Blut abgeben, das auf eine mögliche Übereinstimmung mit Leukämie-Patienten getestet wird, nahm der Siemens-Manager im Frühsommer 2008 am Standort Duisburg teil. Wenige Wochen später erhielt er die Mitteilung von der DKMS, dass er als "genetischer Zwilling" infrage käme. Nach einer zweiten Untersuchung war klar: Sein Knochenmark passte perfekt zu dem eines Patienten, dessen Leben von einer Transplantation abhing.
"Ich habe nicht eine Sekunde gezögert", erzählt der Familienvater, der selbst schon im engsten Bekanntenkreis die Leukämieerkrankung eines Kindes miterlebte. Am 12. August, dem ersten Tag seines Jahresurlaubs, fuhr ihn seine Frau ins Nürnberger Klinikum Nord: Unterbringung auf der Onkologie, Vollnarkose, Operation, drei Tage in der Klinik. "Ich hatte ziemlichen Respekt vor der Prozedur", gesteht er. Lobt dann aber gleich: "Die DKMS hat mich sehr professionell betreut. Es blieben keine Fragen offen, das hat den Ingenieur in mir beruhigt."
"Wie wenig ich wusste!"
Mit den DKMS-Professionals und dem Duisburger Betriebsarzt Joachim Holzschneider organisiert er nun neue Typisierungen, wirbt etwa in der Firmenzeitung mit seinem eigenen Beispiel. Mit Erfolg: Bereits im November 2008 ließen sich wieder 150 Siemensianer am Ruhrstandort testen - ein weiterer Mitarbeiter hat bereits Knochenmark gespendet.
Was bewegt Manager wie Kannefass, ihre Zeit, ihr Know-how, ja ihre Gesundheit in den Dienst der guten Sache zu stellen? Um zu den wahren Beweggründen vorzudringen, will zunächst ein schier undurchdringlicher Schutzwall aus Bescheidenheit und Formeln aus Sonntagsreden durchdrungen sein: "Eine Selbstverständlichkeit", "gesellschaftliche Verantwortung", "ich will etwas zurückgeben" oder "das würde doch jeder tun", prasseln die Allgemeinplätze.
Erst nach einer Weile werden die Töne nachdenklicher. Sätze fallen, die am scheinbar so robusten Selbstverständnis der Wirtschaftselite kratzen, die ohne große Sentimentalität tut, was eben getan werden muss - zum Nutzen des Unternehmens und der Erfolge.
"Ich will meine Seele retten", sagt einer, der nicht zitiert werden will, weil er gerade etliche hundert Mitarbeiter entlassen muss. "Unmenschlich und brutal" erscheint ihm sein eigenes professionelles Verhalten auf der Vorstandsetage. Ohne das Gegengewicht im gesellschaftlichen Engagement würde er gerade in der jetzigen Situation "wohl völlig durchdrehen".
Menschliche Wärme als Heilmittel gegen die beruflich bedingte Kälte auf der Führungsebene. Nähe erfahren, Erdung finden, Sinn stiften - wenigstens eines dieser drei Motive kristallisiert sich im Gespräch mit fast allen Führungskräften heraus, die mit manager magazin über ihre Tätigkeiten in sozialen Stiftungen, Vereinen und Organisationen sprachen.
Wie sehr soziale Arbeit das eigene Leben relativiert, erfuhr zum Beispiel Ulrich Passow (50). "Bevor ich Ioannis kannte, dachte ich auch, die Hartz-Reformen seien für die Betroffenen schon okay", bekennt sich der Chefjustiziar von MTU zu seiner alten, abstrakten Sicht: "Wie wenig ich wusste!"
"Wahnsinnig viel Energie"
An dem begabten Jungen aus ärmsten Verhältnissen sieht er direkt, wie ungleich die Chancen für Kinder in Deutschland verteilt sind. Weil Ioannis mit fünf Geschwistern in einer Drei-Zimmer-Wohnung lebt, konnte er nie in Ruhe lernen. Das Schicksal: Trotz bester Anlagen miese Zeugnisse, voraussichtlich kein Schulabschluss, schiefe Bahn.
Zwei Jahre lang betreute Passow den Teenager einmal pro Woche. Zwei Stunden übte er mit dem Schüler nachmittags in der Kanzlei eines Freundes in Ruhe Englisch, Mathe, Deutsch: "Es war eine Freude zu sehen, wie hell und flink Ioannis im Kopf ist. Er lernte sehr viel engagierter als meine eigenen vier Kinder."
Dann lief alles schief. Die Mutter ging zurück nach Griechenland. Ioannis' Noten sackten ab, er bekam Ärger, flog von der Schule, haute ab, schlief in fremden Kellern. Der einzige Ausweg schien ein Platz im Internat. Passow organisierte die Unterbringung gemeinsam mit der Münchener Organisation Ghettokids (www.ghettokids.org), die im Hochhausstadtteil Hasenbergl 250 benachteiligte Kinder betreut und über die der Jurist Ioannis kennenlernte. In der Übergangszeit wohnte der Junge ganz bei Passows.
Nun verbringt der Internatsschüler jedes zweite freie Wochenende bei seinem Paten. Zur Freude aller Beteiligten. "Ioannis hat von meinen Kindern an einem einzigen Tag Schach gelernt. Jetzt spielen sie Turniere gegeneinander", preist der Jurist seinen Schützling.
Erstaunte Fragen, wie er neben seiner ganzen Arbeit überhaupt die viele Zeit für die Paukhilfe habe erübrigen können, bügelt Passow lässig ab: "Alles eine Frage der Organisation und der Prioritäten." Und überhaupt - zwei Stunden die Woche, das sei doch eine ganz "kleine Sache, da könne man auch mehr tun".
Die Geschichte eines kleinen Jungen - und eines großen
Den Wunsch, mehr Zeit mit ihren Sozialprojekten zu verbringen, hegen viele engagierte Führungskräfte. Laut Innofact-Umfrage würden 45 Prozent der Wohltätigen gern häufiger anpacken. Denn fast alle erkennen direkt, welch positive Wirkung ihre Arbeit zeitigt. 89 Prozent der befragten Topleute erklären: Ohne die ehrenamtliche Tätigkeit stünde unsere Gesellschaft sehr viel schlechter da.
Und die Manager auch. Findet jedenfalls Reimar Heucher (53), Leiter globale Produktentwicklung im Bereich Spezialklebstoffe bei Henkel. Seiner Ansicht nach wirkt sich soziales Engagement "unglaublich positiv auf den Beruf aus". Das Gefühl, mit einfachen Mitteln Menschen helfen zu können, etwas Dauerhaftes zu schaffen, gebe einen "ungeheuren Kick und wahnsinnig viel Energie".
Hilfe zur Selbsthilfe
Er jedenfalls komme immer voller Power aus Südindien zurück. Dort hat der Chemiker, der am Indian Institute of Technology Madras forschte, mit der Deutsch-Indischen Kinderhilfe (www.deutsch-indische-kinderhilfe.de) und Partnern vor Ort ein Ausbildungszentrum für arme Jugendliche aufgebaut.
Erschüttert über den verheerenden Tsunami Weihnachten 2004, hatte der Henkel-Manager eine Spendenaktion gestartet. Er wollte einem betroffenen Waisenhaus mit Kindergarten, das er bereits seit Jahren mit kleineren Aktionen unterstützte, dauerhaft helfen.
Mit maßgeblicher Unterstützung durch das Henkel-Smile-Programm, das unter anderem soziales Engagement von Mitarbeitern unterstützt, und dem Eishockey-Klub DEG Metro Stars bettelte der versierte Spendensammler im Laufe des Jahres 101.000 Euro zusammen.
Am Jahrestag der Katastrophe war ein großes Grundstück gekauft, der Bau der Schule begann. Heute ermöglicht sie jedes Jahr 80 jungen Menschen, die sonst keine Chancen hätten, eine Ausbildung. Die Jungen lernen Elektriker, Sanitärfachmann oder Schreiner, die Mädchen Nähen oder Computerarbeit.
Mit großem Erfolg: Mittlerweile wird die Lehre staatlich anerkannt, und die Unternehmen aus der Umgebung stellen die Fachleute gern ein. "Wer bei uns einen Abschluss macht, kriegt meistens einen Job. Und zwar einen, mit dem sich eine Familie ernähren lässt", berichtet Heucher stolz und zeigt auf die Fotos an den Wänden seines Büros. Etwa das Bild einer lachenden Frau und ihrer Nähmaschine - eine erfolgreiche Schneiderin.
Ausruhen mag sich der energiegeladene Mann auf diesem Ergebnis aber nicht. Sein nächstes Ziel: Die Schule soll sich weitgehend selbst finanzieren. Als perfekt organisierter Manager hat er natürlich einen Plan erstellt, um das Ziel zu erreichen. Erstes Projekt: der Ökogarten.
Schon während der Bauzeit im Frühjahr 2006 pflanzten Handwerksschüler auf dem Grundstück Erdnüsse. Die Ernte brachte 500 Euro ein - genug für den Lohn eines Hausmeisters, der das Gelände bewacht und in Schuss hält.
"Immer direkt einen Sinn"
Um den dürftigen Ertrag der Kokospalmen im Garten zu steigern, wurde Muttererde aufgeschüttet. Bald soll der Verkauf von biologisch angebautem Obst, Gemüse und Pfeffer Einnahmen von 4000 bis 5000 Euro im Jahr generieren - ein erklecklicher Teil der laufenden Betriebskosten von 12.000 Euro pro Jahr.
Heucher bringt in sein Projekt seine Fähigkeiten als Manager ein - Planung, Organisation, Motivation, Führung eben.
Doch viele sozial engagierte Entscheider wollen bei ihren gemeinnützigen Taten nicht das Gleiche tun, das sie schon 60 bis 80 Stunden pro Woche im Job beschäftigt. Sie suchen die ganz andere Erfahrung: Statt einsam zu entscheiden, fragen sie andere nach deren Meinung. Statt straff zu führen, gehen sie im Team auf. Statt am Schreibtisch zu hocken, schuften sie körperlich.
Vincenz von Braun (36), Partner bei Anchor Rechtsanwälte, etwa schwang im Sommer 2008 einen Vorschlaghammer. Gemeinsam mit rund 40 Tatmenschen aus dem Verein zur Kunst- und Kulturförderung e. V. in den neuen Ländern (www.vkf-ev.de) riss der Insolvenzverwalter in einer barocken Schlossanlage in Sachsen-Anhalt Zwischenwände ein, die das großzügige Anwesen zu DDR-Zeiten in ein beklemmend enges Gerichtsgebäude verwandelt hatten.
Vorschlaghammer statt Kugelschreiber
"Die Einbauten waren echt solide aus Ziegel und Holz gebaut", erinnert sich Braun grinsend an das verlängerte Arbeitswochenende: "Wir haben drei Tage lang hart zugeschlagen, dann lag die alte Substanz wieder frei." Und die Männer und Frauen vom VKF, fast alles erfolgreiche Juristen und Betriebswirte, waren verschwitzt, staubig, aber glücklich.
Zwei- bis dreimal im Jahr treffen sich bis zu 60 Mitglieder des Vereins zu Workshops, in denen sie zusammen mit engagierten Bürgern vor Ort für kulturgeschichtliche Projekte rackern. Sie bürsteten schon den Rost von der historischen Brücke zur Liebesinsel von Schloss Mirow in Mecklenburg, bauten die Schutzmauer der Runneburg in Weißensee wieder auf, räumten eine Kasematte der Festung Dömitz frei oder strichen die historischen Pflanzkübel in der Orangerie von Schloss Belvedere in Weimar frisch an.
Was für Außenstehende nach Strapaze klingt, sieht Braun "als die schönsten Tage des Jahres" an. Das Gemeinschaftserlebnis, der Aufbau-Enthusiasmus, die Zeltlagerromantik - abends wird gegrillt und mit der Dorfjugend gekickt - verwandelten die anstrengende Plackerei in ein großes Vergnügen.
Der Traum von der Nachhaltigkeit
"Wir haben unglaublich viel Spaß und bauen dabei etwas nachhaltig Nützliches für die Gesellschaft auf", strahlt der Jurist. Und im Gegensatz zu so mancher Managertätigkeit ergebe beim sozialen Engagement "die Arbeit immer direkt einen Sinn".