Eine anspruchsvolle Beratertätigkeit, offenbar nette Kollegen und ein allseits geschätzter Chef mit Kontakten in die Top-Etagen großer Unternehmen. Martin Liebig* tritt einen Traumjob an. Sein erstes Projekt läuft zäh, groß ist das Chaos, das sein Vorgänger hinterlassen hat. Der junge Ingenieur mit Einserdiplom arbeitet hart, auch an Wochenenden zu Hause. Bei allem Stress wirkt er nach außen hin weiter unbekümmert freundlich. Bis zu jenem Nachmittag, an dem er einen Kollegen zu einer Besprechung erwartet. Er nutzt dessen Verspätung, um sich bei einem kurzen Online-Computerspiel abzulenken. In diesem Moment kommt der Chef herein.
Die interessanten Projekte erhalten von nun an die Kollegen. Liebig muss häufiger als sie Zwischenergebnisse präsentieren. Von einer möglichen internen Promotion ist nicht mehr die Rede. Die Motivation des Ingenieurs sinkt, sein Selbstbewusstsein ist merklich angekratzt. Am Wochenende arbeitet er jetzt nicht mehr. Liebig hat sein Etikett erhalten: wenig leistungsbereit. Was zu befürchten steht: Mit der Zeit wird er den geringen Erwartungen seines Chefs tatsächlich entsprechen. Das Vorurteil wird zur "self fulfilling prophecy".
3000 Manager und Mitarbeiter befragt
Diese Dynamik beschreiben Jean-François Manzoni und Jean-Louis Barsoux in ihrem gleichnamigen Buch als "Versager-Syndrom". Die beiden Wissenschaftler haben in jahrelanger Forschung über 3000 Manager und Mitarbeiter zu ihrer Interaktion befragt. Das Ergebnis widerspricht der gängigen Annahme, dass ein Manager einen ihm eigenen Führungsstil praktiziert und somit entweder ein guter oder ein schlechter Chef ist.
Die von Manzoni und Barsoux interviewten Führungskräfte gestanden offen ein, ihren vermeintlich schwächeren Mitarbeitern bewusst genauere Anweisungen zu geben, Entscheidungen abzunehmen und sie häufiger zum Rapport zu bitten. Die kürzere Leine scheint ihnen eine nur natürliche Hilfe und Anleitung. In ihrer wohlmeinenden Absicht schießen die Chefs allerdings schnell über ihr Ziel hinaus: Statt Vorschläge anzuhören, haben sie längst eigene Lösungen parat. Ideen werden nicht gehört. Die Konsequenz: Weil ihre Leistung gering geschätzt wird, schrauben die Mitarbeiter allmählich ihre Initiative zurück und fügen sich schließlich - resigniert oder verbittert - in ihre Rolle. "Bei meinem Chef bin ich ohnehin unten durch", glaubt Liebig. Psychologen sprechen von "erlernter Hilflosigkeit".
Ob ein Vorgesetzter einen Mitarbeiter als schwach einstuft, gründet allerdings nur zum Teil auf dessen Leistung, ermittelten die Forscher. Geringes Selbstvertrauen, Besserwisserei oder übertriebenes Bemühen können ebenfalls Minuspunkte bringen. Gleiches gilt, wenn die "Chemie" nicht stimmt oder der Mitarbeiter in die Firma nicht "hineinpasst". Leistungsträger oder Versager - die Etikettierung ist durchaus subjektiv.
Und dauerhaft, so die Forscher, weil "Manager ein übersteigertes Vertrauen in ihr eigenes Urteil entwickeln". Setzt der "Versager" ein Projekt in den Sand, fühlt sich der Chef bestätigt. Schließt er es hingegen erfolgreich ab, dann lag das offenbar an besonders günstigen Umständen. Bei ihren hochgeschätzten Mitarbeitern drehen die Manager ihre Zuschreibungsmuster kurzerhand um: Einen Fehlschlag werten sie dann als "Pech". Widersprechende Informationen werden ausgeblendet - ein bekanntes psychologisches Phänomen, das dem Menschen nicht zuletzt hilft, mit der komplexen Wirklichkeit umzugehen.
Der "Pygmalion-Effekt
Paradox: Ist ein Vorgesetzter von der Leistungsfähigkeit seiner Untergebenen überzeugt, nähert sich diese tatsächlich den Erwartungen an. Dieser "Pygmalion-Effekt" wurde im schulischen Kontext erforscht und in zahlreichen Studien bestätigt. Umgekehrt können niedrige Erwartungen leistungshemmend wirken ("Golem-Effekt"). Treten also Leistungsmängel auf, so in vielen Fällen gerade weil die Führungskräfte sich bemühen, sie durch ihre "Hilfestellung" zu beheben. "Die Chefs erzeugen ihr eigenes Elend, und häufig kreieren sie dabei sogar ihre eigenen Versager", resümieren die Forscher.
Ganz unschuldig an diesem "Elend" sind aber auch die Mitarbeiter nicht. Sie verteilen ebenfalls Etiketten und unterstellen dem Vorgesetzten bestimmte Absichten - häufig in übertriebenem Maß. Wer sich bedroht fühlt, reagiert "hyperwachsam" auf negative Signale, so die Autoren. Gerechtfertigte Kritik wird als unfair abgetan. Insbesondere aber neigen vermeintliche Versager dazu, Kontakte mit dem Chef zu vermeiden - und auf diese Weise verstärken sie sein Misstrauen nur noch.
Manager und Mitarbeiter müssten sich der Filter bewusst werden, durch die sie einander wahrnehmen, raten Manzoni und Barsoux. Um zu vermeiden, dass eine Beziehung schon am Anfang durch Missverständnisse vergiftet wird, sollten sich Vorgesetzte genügend Zeit nehmen, ihre Erwartungen hinsichtlich Leistung, Prioritäten und kommunikativen Austausch zu klären. Bei allem Vertrauen in ihre Urteilskraft: Gegen die Streiche, die der menschliche Geist bei der Informationsverarbeitung spielt, helfen nur neue Denkgewohnheiten, so die Forscher. Erste Übung: aktiv nach widersprüchlichen Informationen suchen.
Martin Liebigs Chef hätte dann bemerkt, dass der Ingenieur sein erstes Projekt letztlich mit Bravour abgeschlossen hatte.