Wer im kalifornischen Silicon Valley nach den Killerapplikationen von morgen sucht, darf sich nicht auf die Labors der großen IT-Unternehmen beschränken. Wagnisfinanzierer recherchieren vor allem in den Wohnheimen und Kneipen der Universitäten, um vielversprechende Geschäftsideen aufzuspüren. Auch Microsoft und Apple sind dieser Kreativszene schließlich einst entsprungen. Jedoch setzen die Venture Capitalists ihr Geld niemals auf ein einziges Pferd. Vielmehr lautet ihre Erfolgsformel zehn zu eins. Ihr Kalkül: Von zehn Projekten, die sie fördern, schafft es maximal eine bis zur profitablen Marktreife.
Auch Michael Pesch hat sich dieses Prinzip zu eigen gemacht. Als Geschäftsführer des IT-Dienstleisters
Arvato Systems GmbH begann er vor drei Jahren damit, einen hochfrequenten Innovationsprozess im Unternehmen zu verankern, weil er die Suche nach erfolgversprechenden Ideen nicht länger dem Zufall überlassen wollte. Fehlversuche hat er eingeplant. "Nur wer scheitern darf", bringt Pesch seine Führungsphilosophie auf den Punkt, "wird dauerhaft neue Ideen entwickeln."
Permanent neues Geschäft erspüren
Der promovierte Wirtschaftsingenieur weiß, wovon er spricht. Schließlich führt der 43-Jährige ein Unternehmen, das im Jahr 2001 aus der Bertelsmann-Gruppe in ein Profit-Center entlassen wurde. In kürzester Zeit musste das Corporate-Start-up lernen, finanziell auf eigenen Füßen zu stehen. Die Folge: Nicht zum Kerngeschäft zählende Einheiten wurden veräußert, der Rest auf Effizienz getrimmt. Der Umsatz sackte zwischenzeitlich auf unter die Hälfte. Über 500 Unternehmen zählt der IT-Dienstleister zu seinen Kunden, darunter die Konzernschwestern RTL (Fernsehen), BMG (Musik), Gruner+Jahr (Zeitschriften) und Random-House (Bücher), die mittlerweile fast die Hälfte des Umsatzes beisteuern.
Der herkunftsbedingte enge Kontakt zur Medienbranche treibt die Entwicklung bei Arvato Systems vor allem in punkto Innovationskraft nach wie vor voran. Denn wie kaum eine andere Branche wird die Medienindustrie durch den technischen Fortschritt geprägt. "Gerade weil wir Technikexperten sind", sagt Pesch, "müssen wir unseren Kunden Wege aufzeigen, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln." Zuverlässig Rechenzentren zu betreiben wäre einfach zu wenig.
Wie schwer diese Aufgabe allerdings ist, zeigen die aktuellen Entwicklungen in der Musikindustrie. Das Internet hat hier binnen weniger Jahre die klassische Wertschöpfungskette fast völlig zerstört. Weil Formate wie MP3 selbst Kunden, die nur über einen schmalbandigen Online-Zugang verfügen, den Download in passabler Zeit ermöglichen, wandert der Musikvertrieb mehr und mehr ins Netz. Die Marktanteile physikalischer Datenträger hingegen schrumpfen seit Jahren mit zweistelligen Raten. Manche Experten erwarten sogar, dass die CD-ROM wie einst die Vinyl-Langspielplatte mittelfristig vom Markt verschwinden wird.
Für die Musikverlage brechen harte Zeiten an. Von allen Seiten drängen "Branchenfremde" ins angestammte Revier. Etwa der Software-Riese Microsoft oder der Online-Händler Amazon. Und auch Suchmaschinenspezialist Google hat mit der Übernahme von Youtube das Spielfeld der Medienwirtschaft betreten. EMI - neben Sony BMG, Warner und Universal einer der "Großen Vier" der Musikindustrie - hat Anfang April sogar die lizenzrechtliche Reißleine gezogen und als erste Plattenfirma auf den Kopierschutz bei Download-Musik verzichtet. Songs von Künstlern wie Robbie Williams oder Lenny Kravitz können in Zukunft nach dem Herunterladen beliebig oft vervielfältigt werden. "Die Folgen dieser Freigabe für die gesamte Musikindustrie sind noch völlig unklar", bewertet Pesch diesen Dammbruch.
Priorität für Produktinnovation und IT
Klar ist: Erfolg und Misserfolg liegen in der Branche nahe beieinander. Selbst der Blick zurück erklärt die
Mechanismen der Branche nur bedingt. Warum ist es ausgerechnet Apple gelungen, den Markt für Online-
Musikplattformen zu knacken? Es gab doch vorher schon Plattformen, die sich am Markt versuchten. Was
war der entscheidende Unterschied, der dem Unternehmen einen Marktanteil von heute 18 Prozent einbrachte? Lag es am schicken Design des I-Pod, an der einfachen Bedienung der I-Tune-Plattform oder an der Marke an sich? Pesch ist sich lediglich einer Erkenntnis sicher: "Wer in der Musikbranche erfolgreich sein will, muss der Produktinnovation in Verbindung mit Informationstechnologie oberste Priorität einräumen."
Doch wie lässt sich dieser Innovationsprozess erfolgreich gestalten? Eins ist für Pesch klar: Langes Brüten
über einer einzelnen Idee bringt keinen Vorteil, wenn man die exakten Erfolgsfaktoren nicht kennt. Entscheidend scheint vielmehr die Geschwindigkeit, mit der neue Angebote im Markt getestet werden. "Auf der Suche nach der nächsten Killerapplikation gibt es keine einfachen Antworten mehr", betont der IT-Experte. "Wer das behauptet, liegt falsch." Seinem "kundenorientierten, seriellen Innovationsprozess" hat er daher folgende Schrittfolge verordnet:
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So viele Ideen sammeln wie möglich.
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Ideen, die nicht funktionieren, möglichst schnell verwerfen.
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Analysieren, warum sie nicht funktionieren, und sie gegebenenfalls neu justieren.
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Diese Schrittfolge so lange wiederholen, bis sich eine Idee zur marktfähigen Innovation entwickelt.
Innovationen am Fließband
Leichter gesagt als getan. Pesch erinnert sich genau daran, wie er 2004 vor seine Belegschaft trat, um sie aufzufordern, ihre Ideen vorzutragen. "Ich habe anfänglich nur drei Leute dazu motivieren können", sagt er. "Aber die gesamte Organisation hat natürlich zugeschaut." Erst langsam wuchs bei den Mitarbeitern das Vertrauen, dass Pesch diejenigen, die Mut und Initiative zeigten, nicht gegen die Wand laufen ließ. Entscheidend war, dass sich eine der Ideen durchsetzen konnte.
Andere Ideen, die sich nicht realisieren ließen, dürften allerdings nicht als Makel auf die Ideengeber zurückfallen. "Um innovativ zu sein, muss ich ein richtiges Maß an Fehlertoleranz entwickeln", weiß Pesch heute. "Erst dann beteiligt sich eine Organisation an diesem Innovationsprozess." Inzwischen hat er ihn in den Alltag bei Arvato Systems integriert. "Heute kann ich aus einem Portfolio von zehn laufenden Projekten schöpfen." Jedes Jahr kommt mindestens ein neues Projekt hinzu.
Erste Erfolge haben sich ebenfalls eingestellt. So beauftragte Microsoft sein Unternehmen mit der Online-
Distribution des neuen Betriebssystems Windows Vista. Privatkunden, die ein Update des Systems über
einen E-Shop ordern, bekommen es automatisch mit Arvato Systems zu tun. Aber nicht nur der E-Shop
kommt aus Gütersloh. Die Arvato AG wickelt auch alle transporttechnischen und lizenzrechtlichen Dinge ab.
"Wir haben im Softwarebereich den größten und bedeutendsten Kunden gewonnen, den man sich in diesem Segment vorstellen kann", freut sich Pesch. "Hätte uns das jemand vor zwei Jahren gesagt, hätten wir ihn wahrscheinlich ausgelacht." Schon bald soll die Zusammenarbeit, so der Geschäftsführer, sogar ausgeweitet werden und Arvato Systems die zunächst regionale begrenzte Distribution weltweit übernehmen.
Auf die erste Killerapplikation aus dem eigenen Haus wartet Pesch allerdings noch. "Eine Innovation, die so einschlägt, dass jeder von uns spricht", lautet seine Vision. Und trotz der großen Dynamik gibt er sich und seinen Mitarbeitern noch ein wenig Zeit. "Wenn wir das in den nächsten drei Jahren schaffen, wäre ich sehr zufrieden."