Ein unterschätztes Land

Kanada, die Offshore-Alternative

13.07.2005 von Andreas Schmitz
Indien, China, immer stärker Osteuropa: Das sind für hiesige Unternehmen die erstgenannten Offshore-Regionen. Doch auf den Rankings rückt immer öfter auch Kanada nach vorne. Kein Wunder: Gute Ausbildung, niedrige Hürden für Unternehmen und ein vergleichsweise geringes Lohnniveau sind etwa in der Kanadischen Provinz Ontario ein guter Nährboden für Investitionen und fruchtbare Kooperationen.

Blair Patacairk humpelt ein wenig, er stützt sich seitlich den Rücken mit dem rechten Arm: Doch ein Hexenschuss hält den Marketing-Direktor des Ottawa Center of Research and Innovation (OCRI) nicht davon ab, den Vortrag über „seine“ Region herunterzuspulen: Ottawa – oder besser „oddewoah“, wie die Einheimischen die Kanadische Hauptstadt aussprechen.


Das Beratungshaus A.T. Kearney sieht in Kanada eine unterschätzte Ressource: So rangiert das Land im Offshore Location Attraction Index 2004 in zwei der drei Kategorien Kosten, Umfeld und Arbeitsmarkt weit vorne. Neben Singapur und Irland bietet Kanada demnach die attraktivsten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Bei der Qualifikation der Arbeitskräfte ist Kanada auf einer Höhe mit Australien und Irland. Indien führt insgesamt, was A.T. Kearney auf die hohe Zahl verfügbarer Arbeitskräfte zurückführt. Anwendungsentwicklung, Business Process Outsourcing und Call-Center sind die Themen, die bei Offshore in Kanada im Mittelpunkt stehen.



Ein IT-Cluster gruppiert sich um Ottawa herum: Unternehmen wie Adobe, Nortel Networks, Bell Canada, Mitel und Cognos sitzen in der Region um den Ontario-See. Zwar schwächelt das Risikokapital für junge Unternehmen derzeit ein wenig. Von 1,3 Milliarden Dollar im Jahr 2000 sank es in Ottawa auf knapp über 200 Millionen in 2004. Doch Patacairk ist überzeugt: „Unternehmen bleiben hier, und die Mitarbeiter bleiben in der Region“. Gut ausgebildete Bevölkerung, mit Französisch und Englisch zweisprachig, westliche Kultur, ein sicheres Land, das bessere Amerika – das sei Kanada.
Selbst wenn Nortel – wie vor fünf Jahren – knapp 15.000 Menschen entlässt, im IT-Sektor zwischen den Jahren 2000 und 2002 über 40.000 Menschen ihren Job verloren, sei das kein Grund zur Verzweiflung.

Die Zahlen geben ihm Recht: Heute arbeiten allein in der Region um Ottawa mit 630.000 Menschen etwa 60.000 mehr als noch vor fünf Jahren. Sechs Prozent der Menschen dort sind im High-Tech-Sektor beschäftigt, fast so viele wie im Silicon Valley (sieben Prozent). Gegenüber dem Jahr 2000, in dem etwas mehr als 1000 Technologieunternehmen dort angesiedelt waren, sind heute bereits 1688 Unternehmen bei Behörden registriert.

Geringe Körperschaftssteuer, niedrigere Abgaben, unkomplizierte Gründung eines eigenen Unternehmens sehen Investment-Experten wie Brian Harvey vom Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung und Handel der Provinz Ontario als wichtige Gründe für dieses Wachstum an. Minister Joseph Cordiano ist nun derjenige, der die Region auch nach außen hin „verkauft“. Der Mann mit Marketing-MBA ist seit Oktober 2003 im Amt und hat sich zum Ziel gemacht, speziell den Landstrich Ontario als Wirtschaftsstandort in der Welt bekannt zu machen – nicht als Naturereignis. Auch wenn Investment-Mann Harvey zugibt: „You can also struggle with a bear”.

Die Ehemaligen von Nortel

In der Tat gehen Ex-Mitarbeiter von Nortel und Co auf eigene Faust los, entwickeln und vermarkten ihre Ideen: Sei es Ex-Mitel- und Nortel-Manager Shawn Griffin, Chef des auf Funklösungen für Bahnen spezialisierte Unternehmen Pointshot, oder Ex-Nortel-Mann Mahshad Koohgoli und sein Marketing-Chef Marc Gingras mit ihrem auf IP-Telefonie spezialisierten Unternehmens Nimcat Networks, in das übrigens auch Siemens Risikokapital gesteckt hat, oder der Netzwerkspezialist Nakina Systems: Überall finden sich die Ehemaligen von Nortel, bei Nakina ist es sogar das gesamte sechsköpfige Management.


Blair Patacairk hat unterdessen seine Mission erfüllt. „Ich stehe lieber“, sagt der gehandicapte Ontario-Propageur nach der Aufforderung, sich mit seinem Hexenschuss doch lieber hinzusetzen: „Es ist besser, in Bewegung zu bleiben“.