Steve Brazier, CEO von Canalys spricht Klartext: Die Krise ist keineswegs überwunden. Das beweisen die Umfragen und das Zahlenmaterial, das seine Marktforschungsfirma auf den Tisch legen kann. Anwender, die jetzt auf Virtualisierung ihrer IT und Cloud-Lösungen setzen, müssen sich deshalb genau überlegen, wo und wie sich ihre Investitionen lohnen. CIOs, die das nicht beachten, riskieren den Untergang ihres Unternehmens.
Canalys-CEO Brazier präsentierte Anfang Oktober in Barcelona eine kritische Beurteilung des wirtschaftlichen Umfelds, in dem sich die IT-Industrie und die Anwender bewegen. Zwar legten die zehn größten IT-Hersteller in der ersten Jahreshälfte von 2011 ein beachtliches Wachstum von 18 Prozent vor, das aber zum großen Teil auf der Schwäche der kleineren Konkurrenten beruhe. Ein Redner von IBM bestätigte das später in seinem Vortrag: IBM sei aus allen Wirtschaftskrisen der letzten Jahrzehnte gestärkt hervorgegangen – zu Lasten der anderen Anbieter von Produkten und Dienstleistungen.
Brazier verwies auf die negativen Indikatoren in der jetzigen Situation: Allein in den USA haben in den letzten zwei Jahren 20 Millionen Menschen ihre Jobs verloren. Weltweit drohen eine Verschärfung der Krise, Deflation und eine immer weiter wachsende Staatsverschuldung. Inzwischen spricht man schon von einem möglichen Bankrott einzelner Staaten, die ihre Schulden nicht mehr in den Griff bekommen. Selbst der Wirtschaftsboom in China hat sich abgeschwächt, überall steigen die Energiepreise, und soziale Unruhen in europäischen Ländern und in den USA breiteten sich aus. Brazier erwähnte auch die Atomkatastrophe in Japan und ihre Folgen für den asiatischen Wirtschaftsraum.
Laut Canalys sind die Auswirkungen der krisenhaften Entwicklung auf die IT-Industrie und die Anwender nicht zu übersehen: Während die Wirtschaft fast überall nur sehr langsam zwischen einem oder zwei Prozent wachse, könnte die IT-Industrie insgesamt jedoch um bis zu zehn Prozent zulegen. Die Frage sei nur, wer in dem kritischen Sturm überleben werde. Laut den Marktumfragen von Canalys haben bereits 60 Prozent der Unternehmen ernsthafte Probleme, und 25 Prozent drohe sogar eine Katastrophe. Nur 15 Prozent könnten mit einem positiven Ausgang für sich rechnen. Umso mehr kommt es für Brazier darauf an, dass die Politiker das weltweite Finanzsystem retten, indem sie zum Beispiel "unseriöse" Banken nicht weiter unterstützen und strengere Marktregulierungen einführen.
Nach der Darstellung seines Katastrophenszenarios wendete sich der Canalys-Chef dem Cloud Computing und der Virtualisierung von Rechenzentren zu. Der Trend zur Cloud müsse unter den Auspizien der Krise neu bewertet werden. Bei der Prognose für die IT-Ausgaben verweist Brazier darauf, dass sich Cloud Computing nur im Consumer-Bereich so richtig durchgesetzt hat. Für Public Clouds bei Amazon, Google, Intuit und anderen Anbietern werden für 2011 Ausgaben von 47 Milliarden Dollar angenommen, während es für Public Clouds im Business-to-Business-Sektor (B2B) nur 31 Milliarden sein werden. Bei Private Clouds in (großen) Unternehmen erwartet Canalys Umsätze von etwa 50 Milliarden Dollar.
Cloud-Investitionen spielen noch keine große Rolle
Für IT-Investitionen insgesamt lautet die Prognose auf 1,7 Billionen Dollar. Das bedeutet, dass für Cloud-Ausgaben nur ein kleiner Anteil von acht Prozent geplant ist. Mit anderen Worten: 92 Prozent der geplanten Ausgaben haben nichts mit Cloud in irgendeiner Form zu tun.
Mittelfristig sieht Canalys nur für Private Clouds reale Investitionschancen: Bis 2015 könnten sich die Ausgaben bis auf 123 Milliarden Dollar erhöhen, was einem jährlichen Wachstum von 25 Prozent entsprechen würde. Die Aussagen für Public Clouds würden zwar ähnlich stark wachsen (von 31 auf 74 Milliarden Dollar), doch handelt es sich laut Brazier um einen eher beschränkten Markt.
Public Clouds sind für ihn erstens mehr eine Consumer-Angelegenheit wie bei Google oder Amazon, und zweitens würden sie sich vor allem auf jene Geschäftsbereiche erstrecken, die schon bisher an Outsourcing-Anbieter ausgelagert worden seien. Dazu zählt er Anwendungen aus dem Bereich Storage as a Service, zum Beispiel Lohnabrechnung oder Customer Relation Management (CRM) à la Salesforce.com. Möglichkeiten sieht er auch für Infrastructure as a Service (IaaS), zum Beispiel wenn es darum geht, eine IT-Infrastruktur für große Sport-Events zur Verfügung zu stellen, die nur einmal im Jahr stattfinden. Eine eigene Installation würde sich hier überhaupt nicht lohnen. Unternehmen wie IBM stellen stattdessen die Infrastruktur für solche kurzen Zeiträume bereit.
Neue Public Clouds sieht Brazier allenfalls im Bereich Analytics oder Life Sciences. Für völlig verfehlt hält er den Versuch von Microsoft, mit Office 365 in die Cloud-Welt vorzustoßen. Brazier hinterfragt, warum Unternehmen ihre zuverlässig laufenden Office-Installationen aufgeben und sich auf ein Cloud-Experiment einlassen sollten.
CIOs müssen Entwicklungen bei Enterprise Apps beobachten
Canalys empfiehlt Unternehmen, auf Service-Strukturen für ihre IT à la Private Cloud zu setzen. Rechenzentren würden derzeit durch die neuen Techniken von Virtualisierung und Private Cloud eine Renaissance erleben. Außerdem sollten CIOs aufmerksam die Entwicklung bei mobilen Geräten und bei den kommenden Enterprise Apps beobachten und rechtzeitig reagieren. Brazier glaubt, dass die Tage der großen monolithischen Applikationen wie Oracle-Datenbanken oder SAP-Geschäftsprogramme mit ihren überteuerten Lizenz- und Supportpreisen gezählt sind.
Das Zahlenmaterial von canalys basiert auf Umfragen bei Herstellern und Distributoren und vergleicht die erwarteten mit den tatsächlich erzielten Umsätzen und Gewinnen. Daraus lassen sich dann konkrete Empfehlungen für IT-Projekte und Investitionen ableiten. Seit vier Jahren veranstaltet der Marktfoscher in Europa und in Asien Konferenzen.